Christopher Isherwood : Der Einzelgänger

Der Einzelgänger
Originalausgabe: A Single Man, 1964 Der Einzelgänger Übersetzung: Axel Kaun Stahlberg Verlag, Karlsruhe 1965 Bearbeitung: Gerhard Hoffmann Deutscher Taschenbuch Verlag (dtv), München 1991 Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt/M 2009 ISBN 978-3-518-46122-8, 182 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

In seinem Roman "Der Einzelgänger" schildert Christopher Isherwood einen Tag im Leben eines 58-jährigen Literaturprofessors. In der von Spießbürgern bewohnten Vorstadt von Los Angeles, in der er lebt, gilt er als Außenseiter, nicht nur, weil er aus England stammt, sondern vor allem wegen seiner Homosexualität. George sträubt sich in keiner Weise gegen die Rolle des Paradiesvogels. Er trauert um seinen Lebensgefährten Jim, aber am Ende des Tages richtet er den Blick auf die Zukunft und nimmt sich vor, nach einer neuen Liebe zu suchen ...
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Kritik

Christopher Isherwood hat einen besonderen Stil entwickelt: Er beschreibt Szenen so, als ob es sich um einen Dokumentarfilm handeln würde. Ungeachtet des ironischen Untertons bleibt der Autor sachlich und unaufgeregt. Seine Sprache ist kultiviert und ausgefeilt.
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Der achtundfünfzigjährige, aus England stammende Anglizistik-Professor George erwacht in seinem Haus in einem Vorort von Los Angeles.

Das morgendliche Erwachen beginnt, wenn man bin sagt und jetzt. Dann liegt das Wachgewordene eine Weile still, starrt die Zimmerdecke an und in sich hinein, bis es sich wiedererkannt hat und daraus den Schluss zieht: ich bin. (Seite 7)

Im bekleideten Zustand ist aus dem „es“ ein „er“, ist mehr oder weniger „George“ geworden, wenn auch durchaus noch nicht der ganze George, wie ihn die anderen sich vorzustellen und anzuerkennen bereit sind. (Seite 9)

Die Siedlung, in der Georges Haus steht, wurde in den Zwanzigerjahren von Stadtflüchtlingen gegründet. Es handelte sich damals um Individualisten, die Montmartre-Sitten pflegten.

Ein hübsches Plätzchen, wo der Mensch ein bisschen malen, ein bisschen dichten und tüchtig bechern kann. (Seite 14f)

Als Ende der Vierzigerjahre Heimkehrer aus dem Zweiten Weltkrieg in den Ort zogen, änderte sich die Lebensweise der Bewohner.

Ihre Ehefrauen erklärten ihnen von Anfang an in unzweideutiger Sprache, dass Kinderaufzucht und Bohemeleben sich nicht miteinander vereinbaren ließen. Um Kinder in die Welt zu setzen, braucht man eine feste Arbeit, Pfandbriefe, Kredit und eine Lebensversicherung. Und man darf es sich nicht einfallen lassen, zu sterben, ehe nicht für die Zukunft der Familie gesorgt ist. (Seite 16)

George und sein Lebensgefährte Jim hatten sich in der Nachkriegszeit hier angesiedelt. Dass Jim vor einiger Zeit bei einem Verkehrsunfall in Ohio ums Leben kam, verschweigt George den Nachbarn. Sie nehmen an, er sei verreist.

Jim hat über jeden Kopfschmerz, jeden verletzten Finger, jede kleine Beule gestöhnt und geklagt … Aber am Ende hat Jim Glück gehabt – das einzige Mal, da Glück wirklich zählt. Der Lastwagen fuhr direkt in seinen Wagen hinein, er hat es nicht mehr gespürt. (Seite 93)

Während George auf dem WC sitzt, blickt er durchs Fenster hinaus aufs Nachbarhaus. Mr Strunk verdient sein Geld als Immobilienmakler.

Mr Strunk, so vermutet George, würde ihn nur allzu gern mit einem einzigen Wort festnageln: schwul. Aber weil wir ja mittlerweile das Jahr 1962 schreiben, darf wohl auch von ihm der Zusatz erwartet werden: Mir persönlich ist es ja egal, was er treibt, solange er mich in Ruhe lässt. (Seite 24)

Mrs Strunk, die ihre Karriere als Radiosängerin aufgab, um fünf Söhne und zwei Töchter großzuziehen, nimmt sich bisweilen die Freiheit, in ihrer Meinung von der ihres Mannes abzuweichen: Sie hält Homosexualität für eine Krankheit.

Wir haben es mit einem Kranken zu tun, dem die besten Dinge des Lebens für immer versagt sind, der wohl zu bemitleiden, aber nicht anzuklagen ist. Manche Fälle, rechtzeitig erkannt, könnten unter Umständen durch Psychotherapie geheilt werden. (Seite 25)

Als das Telefon klingelt, hüpft George mit der Hose an den Fußknöcheln ins Wohnzimmer und hebt ab. Es ist seine Freundin Charlotte („Charley“). Sie fragt, ob er am Abend Zeit habe, sie zu besuchen. Weil er die Verzweiflung in ihrer Stimme hört, behauptet er, bereits anderweitig verabredet zu sein.

Dann nimmt er an dem Wagenrennen auf den Highways in Los Angeles teil, bei dem Ben Hur die Haare zu Berge stehen würden.

Und jetzt geschieht etwas Neues mit George. Seine Gesichtszüge sind wieder gespannt, die Muskeln am Kinn straffen sich, um den Mund zuckt und vibriert es, die Lippen werden zu einer schmalen Linie, und zwischen den Augenbrauen bildet sich eine Falte. Währenddessen bleibt der übrige Körper vollkommen entspannt. Er scheint sich mehr und mehr selbstständig zu machen, ein eigenständiges Wesen zu werden: ein anonymer teilnahmsloser Chauffeur ohne eigenen Willen und Individualität, die ideale Verkörperung von Muskelspiel, Sorglosigkeit und taktvollem Schweigen, der seinen Herrn ins Büro fährt.
Und George, wie ein Herr, der das Steuer seines Wagens einem Bediensteten überantwortet hat, kann jetzt seine Aufmerksamkeit auf andere Dinge konzentrieren. (Seite 31f)

Während ein Teil von George den Wagen steuert, denkt er an einen Senator, der sich für eine Invasion Kubas stark macht und berauscht sich an einer Gewaltfantasie:

Die einzige Sprache, die sie [Scharfmacher wie der Senator] verstehen, ist brutale Gewalt.
Deshalb müssen wir eine Kampagne systematischen Terrors von noch nicht da gewesener Schärfe starten. Um sie wirksam durchzusetzen, braucht man eine Organisation von mindestens fünfhundert hoch qualifizierten Mördern und Folterknechten, die mit ganzem Herzen bei der Sache sind. Das Haupt der Organisation stellt eine Liste mit klar und einfach formulierten Zielen auf: Beseitigung des Apartmenthauses, Verbot der Zeitung, Rücktritt des Senators. Dann wird man sich der Reihe nach und ohne Rücksicht auf Zeit und Umstände mit ihnen beschäftigen. Der Hauptschuldige bekommt zunächst in jedem Fall einen höflichen kleinen Brief mit der Unterschrift „Onkel George“, worin ihm klar gemacht wird, was er vor Ablauf einer bestimmten Frist zu tun hat, falls er am Leben bleiben will. Ebenso wird ihm klar gemacht, dass Onkel George von der Theorie ausgeht, dass auch Mitwisser schuldig sind.
Eine Minute nach Ablauf der gesetzlichen Frist beginnt die Tötungsaktion. Die Exekution des Hauptschuldigen wird jedoch einen Aufschub von einigen Wochen oder Monaten erhalten, um ihm Gelegenheit zum Nachdenken zu geben. In der Zwischenzeit erhält er tägliche Mahnungen. Seine Ehefrau könnte entführt werden und ihn dann erdrosselt und einbalsamiert im Wohnzimmer erwarten, wenn er vom Büro nach Hause kommt. Pakete mit den Köpfen seiner Kinder und Tonbandaufnahmen mit den Schreien seiner zu Tode gefolterten Verwandten können bei ihm eintreffen. Die Häuser seiner Freunde können über Nacht in Flammen aufgeben. Und jeder, der ihn nur gekannt hat, wird in tödlicher Gefahr schweben.
Wenn die totale Durchschlagskraft der Organisation oft genug erwiesen ist, wird die Bevölkerung langsam zu begreifen anfangen, dass dem Willen von Onkel George augenblicklich und ohne Widerrede zu gehorchen ist.
Aber will Onkel George, dass man ihm gehorcht? Zieht er es nicht vor, dass man sich ihm widersetzt, sodass er immer weiter töten und töten kann? (Seite 35f)

Am San Tomas State College hat George einen jungen Kollegen, Grant Lefanu, der Gedichte schreibt, obwohl er Physikprofessor ist. George sieht in ihm einen Helden, weil er vor Gericht als Entlastungszeuge für einen Buchhändler aussagte, den man angeklagt hatte, weil er beim Verkauf eines bedeutenden Porno-Klassikers aus den Zwanzigerjahren ertappt worden war. Der Respekt beruht auf Gegenseitigkeit, denn Grant schätzt den unangepassten Kollegen George.

George wird von Grant wie ein Kampfgefährte behandelt, ein Kompliment, das er kaum verdient, denn er kann es sich auf Grund seines höheren Dienstalters, seiner Rolle als exzentrischer Brite und mit seinem kleinen Vermögen als letzte Zuflucht leisten, so ziemlich alles auf dem Campus zu sagen, was ihm Spaß macht. Wohingegen der arme Grant keine privaten Einkünfte, aber eine Frau und drei unklugerweise gezeugte Kinder hat. (Seite 83f)

Die Stammhörer des Literaturprofessors heißen Russ Dreyer, Tom Kugelman, Schwester Maria (eine katholische Ordensschwester), Herr Stössel, Netta Torres, Kenneth („Kenny“) Potter und Lois Yamaguchi.

Kenny und Lois sind befreundet. Bei Lois‘ Eltern handelt es sich um japanische Immigranten. Obwohl sie in den USA geboren wurde und die amerikanische Staatsbürgerschaft besitzt, beabsichtigt sie, nach dem Studium in Japan zu leben und zu unterrichten. Sie war zwar noch ein Kind, als die Japaner den US-Stützpunkt Pearl Harbor angriffen, aber sie hat nicht vergessen, dass die Familie damals interniert wurde und ihr Vater sein Geschäft für einen Spottpreis abgeben musste.

Nach der Vorlesung begleitet Kenny den Professor noch ein Stück. Er fragt ihn, ob er jemals Meskalin probiert habe. George antwortet, ja, vor acht Jahren in New York, als es noch nicht verboten war.

Als Nächstes besucht George Doris im Krankenhaus. Die Todkranke war zeitweise Jims Geliebte. Jetzt liegt sie im Sterben, und George, der keinen Groll gegen sie hegt, schaut hin und wieder nach ihr.

Obwohl an diesem Wochentag eigentlich kein Training auf dem Programm steht, geht George nach dem Krankenbesuch ins Sportstudio und ins Dampfbad.

Anschließend ruft er Charlotte an, lügt, seine Verabredung für den Abend sei geplatzt und fragt, ob er vorbeikommen könne. Sie freut sich.

Charlotte stammt aus England wie George. Ihre zwei Jahre ältere Schwester Nan lebt nach wie vor dort. Nan hat es nie gebilligt, dass Charlotte ihr Land verließ und einem G. I. namens Buddy in die USA folgte. Dabei spielt auch Eifersucht eine Rolle, denn Buddy galt damals als Traumprinz. Die Ehe scheiterte allerdings nach kurzer Zeit, und Charlotte zog ihren Sohn Fred allein auf. Inzwischen ist sie fünfundvierzig. Buddy lebt mit seiner zweiten Ehefrau Debbie in Scranton, Pennsylvania. Das Paar bekam unlängst eine dritte Tochter. Charlotte fühlt sich einsam, insbesondere seit ihr noch minderjähriger Sohn auszog, um mit seiner Freundin Loretta Marcus in Palo Alto eigene Wege zu gehen.

Bei Charlotte verbringt George den Abend. Sie essen Schmorbraten und trinken Wodka (Charlotte) bzw. Scotch (George).

Obwohl George unsicher auf den Beinen ist, als er seine Freundin verlässt, schaut er noch in seine Stammkneipe Starboard Side. Kenny Porter sitzt an der Theke. George wundert sich, denn er weiß, dass der Student nicht in der Nähe wohnt. Sie unterhalten sich. Als Kenny vorschlägt, schwimmen zu gehen, will er seinen Professor nur auf die Probe stellen, aber der nimmt ihn beim Wort.

Sie springen auf, zahlen, rennen aus der Bar quer über den Highway, und Kenny überspringt mit elegantem Satz das Geländer und steht drei Meter tiefer auf dem Strand. Unterdessen klettert George etwas mühsamer über das Geländer. (Seite 157)

Die beiden Männer ziehen sich aus und planschen ausgelassen in den Wellen. George wird so übermütig, dass Kenny ihn schließlich aus dem Wasser ziehen muss.

„Können wir zu Ihnen gehen, Sir?“, fragt Kenny. (Seite 160)

Während George weiter Scotch trinkt, bevorzugt Kenny Bier. Er habe einmal mit Lois geschlafen, erzählt Kenny, und zwar in einem Motel-Zimmer. Sie mussten sich an der Rezeption eintragen, und der Hotelangestellte wusste selbstverständlich, was sie vorhatten. Das missfiel Lois. George macht Kenny deshalb ein Angebot: Er werde sich angewöhnen, eine Freundin, mit der er jede Woche einen Abend verbringe, an einem festen Wochentag zu besuchen. Während seiner Abwesenheit dürfe Kenny mit Lois zusammen die von seiner Haushälterin stets frisch bezogene Bettcouch im Arbeitszimmer benutzen.

Als George aufwacht, liegt er im Bett und trägt einen Pyjama. Dass er sich vorstellte, Kenny sei hinter ihm her, war auf jeden Fall nur ein Traum. An der Lampe hängt ein Zettel: Kenny bedankt sich für den Abend. George stellt sich vor, wie Kenny und Lois es auf seiner Bettcouch treiben, dann vertauscht er Lois mit einem jungen Mexikaner und kommt zum Orgasmus.

Am Abend sprach er mit Charlotte darüber, ob es sinnvoll wäre, nach England zurückzukehren. Jetzt beschließt er, stattdessen hier nach einer neuen Liebe suchen.

Er schläft wieder ein, und weil er zu viel getrunken hat, schnarcht er.

Hier haben wir nun diesen Körper, allen bekannt als Georges Körper, der jetzt schläft und laut schnarchend auf diesem Bett liegt. (Seite 178)

Im Inneren dieses Körpers auf dem Bett arbeitet die große Pumpe unermüdlich. (Seite 180)

Es ist zwar nicht damit zu rechnen, dass George im nächsten Augenblick an einem Gehirnschlag infolge von Arterienverkalkung stirbt, aber es könnte passieren.

Nehmen wir dies nur einmal an. (Der Körper auf dem Bett schnarcht immer noch.) Es ist höchst unwahrscheinlich. Tausend zu eins könnte man wetten, dass nichts passiert, weder in dieser noch in einer anderen Nacht. Und doch könnte es, durchaus möglich, innerhalb der nächsten fünf Minuten geschehen.
Gut – nehmen wir also an, dies sei die Nacht, die Stunde, die vorbestimmte Minute.
Jetzt – (Seite 181)

Sollte in diesem Augenblick des Endschlags von dem Nichts, das wir George nannten, irgendein Teil abwesend gewesen sein und tatsächlich weit draußen über den tiefen Wassern geschwebt haben, dann wird es jetzt heimatlos sein. Denn dem, was dort geräuschlos auf dem Bett liegt, kann es sich nicht mehr zugesellen. Das ist jetzt dem Müll in der Tonne hinter dem Haus verwandt. Beides muss abtransportiert und beseitigt werden, ehe es zu spät ist. (Seite 182)

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In seinem Roman „Der Einzelgänger“ schildert Christopher Isherwood (1904 – 1986) einen Tag im Leben eines achtundfünfzigjährigen Literaturprofessors, der vermutlich einige autobiografische Züge des Autors trägt. In der von Spießbürgern der Mittelschicht bewohnten Vorstadt von Los Angeles, in der er lebt, gilt er als Außenseiter, nicht nur, weil er aus England stammt, sondern vor allem wegen seiner Homosexualität. George sträubt sich in keiner Weise gegen die Rolle des Paradiesvogels. Er trauert um seinen Lebensgefährten Jim, aber am Ende des Tages richtet er den Blick auf die Zukunft und nimmt sich vor, nach einer neuen Liebe zu suchen.

Die Ausgrenzung von Minderheiten wird in „Der Einzelgänger“ an verschiedenen Beispielen veranschaulicht. Parallel dazu geht es in dem Roman um Altern und Sterben.

Christopher Isherwood beschreibt Szenen so, dass man an einen neutralen Beobachter denkt, der mit einer Kamera filmt. So entsteht ein ganz eigener Stil. Ungeachtet des ironischen Untertons bleibt Isherwood sachlich und unaufgeregt. Seine Sprache ist kultiviert und ausgefeilt.

[…] die Kernthematik seines Gesamtwerks: Die Auseinandersetzung des mit Komplexen überladenen, passiven Individuums mit der aggressiven Gesellschaft, in der es leben muss […] In seiner literarischen Prosa wie auch in seinen zahlreichen (auto-)biografischen Schriften werden die Grenzen zwischen Fiktion und Realität aufgehoben; die Schwächen seiner Protagonisten verdeutlichen die Schwächen der Gesellschaft. (Harenbergs Lexikon der Weltliteratur, Band 3, Dortmund 1989, Seite 1452f)

Tom Ford verfilmte den Roman „Der Einzelgänger“ von Christopher Isherwood:
„A Single Man“.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2010
Textauszüge: © Männerschwarm Verlag / S. Fischer Verlag

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Christopher Isherwood: Leb wohl, Berlin

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