Heinrich von Kleist


Heinrich von Kleist wurde am 18. Oktober 1777 in Frankfurt an der Oder als Sohn des preußischen Majors Joachim Friedrich von Kleist und dessen zweiter Ehefrau Juliane Ulrike von Pannwitz geboren. Von seinen Geschwistern – einem jüngeren Bruder und fünf Schwestern (zwei davon aus der ersten Ehe seines Vaters mit Caroline Luise von Wulffen) – stand ihm seine drei Jahre ältere Stiefschwester Ulrike (1773 – 1849) am nähesten.

Im Alter von zehn Jahren verlor Heinrich von Kleist seinen Vater (18. Juni 1788). Im Juni 1792 wurde er in das Garderegiment Potsdam aufgenommen. Im Jahr darauf starb auch die Mutter des inzwischen Sechzehnjährigen. Obwohl Heinrich von Kleist 1797 zum Leutnant befördert wurde, entwickelte er eine zunehmende Abneigung gegen das Militär, und zwei Jahre später nahm er seinen Abschied.

Nach ein paar Semestern an der Viadrina (Naturwissenschaften, Kulturgeschichte, Kameralwissenschaften) fing Heinrich von Kleist als Volontär bei der Technischen Deputation des Königlichen Manufaktur-Kollegiums in Berlin an, nicht aus Überzeugung, sondern weil er sich Anfang 1800 mit der Offizierstochter Wilhelmine von Zenge (1780 – 1852) verlobt hatte und zeigen wollte, dass er eine Ehefrau ernähren konnte.

Als Heinrich von Kleist sich – tief beeindruckt vom Geist der Aufklärung – mit Immanuel Kant (1724 – 1804) beschäftigte, übernahm er dessen Überzeugung, dass es keine objektive Erkenntnis geben könne. Diese Einsicht scheint bei Heinrich von Kleist im Frühjahr 1801 eine ernsthafte Irritation ausgelöst zu haben („Kantkrise“), aber es könnte auch sein, dass die Lebenskrise andere Ursachen hatte. Im Herbst 1801 griff er das von Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778) propagierte Ideal einer naturverbundenen Lebensweise auf und trug sich mit dem Gedanken, ein Leben als einfacher Bauer in der Schweiz zu führen. Als Heinrich von Kleist sich zu diesem Zweck im April 1802 auf der Aare-Insel bei Thun niederließ, löste Wilhelmine die Verlobung. (Sie vermählte sich später mit dem Philosophieprofessor Wilhelm Traugott Koch.)

Ohne seine Absicht verwirklicht zu haben, kehrte Heinrich von Kleist im Herbst 1802 nach Deutschland zurück. Christoph Martin Wieland (1733 – 1813) erkannte sein Talent für die Dichtung und holte ihn 1803 nach Oßmannstedt bei Weimar. Heinrich von Kleist hielt es jedoch nirgendwo lang aus. Nach einem kurzen Aufenthalt bei der Familie von Schlieben in Dresden (und möglicherweise einer kurzen Affäre mit der Tochter Henriette von Schlieben) reiste er über Bern, Mailand und Genf nach Paris, wo er an seinen dichterischen Fähigkeiten zweifelte und erneut an einen Freitod dachte („Schaffenskrise“).

Ende 1803 ließ er sich überreden, nach Deutschland zurückzukehren und einige Monate später trat er eine Beamtenstelle im preußischen Finanzministerium in Berlin an. Sein oberster Dienstherr, Heinrich Friedrich Karl Reichsfreiherr vom und zum Stein (1757 – 1831), empfahl ihn im Frühjahr 1805 als Diätar an der Domänenkammer nach Königsberg, aber nach gut einem Jahr gab Heinrich von Kleist die Beamtenlaufbahn endgültig auf.

Als Preußen nach der Niederlage gegen Napoleon in der Schlacht bei Auerstedt und Jena am 14. Oktober 1806 zusammenbrach und Napoleon am 27. Oktober kampflos in Berlin einmarschierte, wurde Heinrich von Kleist zu einem leidenschaftlichen deutschen Patrioten („Die Hermannsschlacht“). Auf dem Weg von Königstein nach Dresden wurde er im Januar 1807 in Berlin als Spion verdächtigt und von den Franzosen einige Monate zuerst in Fort de Joux bei Besançon, dann in Chalons-sur-Marne eingesperrt.

Nach seiner Freilassung im Juli 1807 ließ er sich in Dresden nieder. Dort rief er im Januar 1808

mit dem Staats- und Geschichtsphilosophen Adam Müller (1779 – 1829) zusammen das Kunstjournal „Phöbus“ ins Leben, das jedoch keine Resonanz fand, sodass im Februar 1809 das letzte Heft erschien. Möglicherweise wegen dieses Scheiterns geriet Heinrich von Kleist zum dritten Mal in eine Lebenskrise. Nach monatelanger Krankheit wurde er im Oktober 1810 in Berlin Redakteur der Tageszeitung „Berliner Abendblätter“, die jedoch nach anfänglichen Erfolgen im Mai 1811 aufgrund verschärfter Zensurbestimmungen der französischen Besatzungsmacht ihr Erscheinen einstellte.

Zunehmend vereinsamt, ohne Hoffnung und Perspektive („nicht ein einziger Lichtpunkt in der Zukunft“) fand Heinrich von Kleist in der unheilbar krebskranken Henriette Vogel (1777 – 1811) eine Freundin, die bereit war, mit ihm zu sterben. Am 21. November 1811 erschoss er sie und sich am Ufer des Kleinen Wannsees bei Potsdam.

Heinrich von Kleist war ein bedeutender Dramatiker, Novellist und Essayist, der sich weder der Klassik noch der Romantik ganz zuordnen lässt. Im Zentrum seiner Dichtung steht der Konflikt zwischen dem Individuum und dessen Pflicht, sich in die Allgemeinheit einzuordnen.

Kleists Erzählungen sind aus heutiger Sicht innovative Leistungen. In ihnen wird die romantische Identitätsproblematik ästhetisch und thematisch so weit radikalisiert, dass die ersehnte Versöhnung mit der Natur, der Geschichte oder der Kunst versagt bleibt. Am deutlichsten zeigt sich Kleists Originalität in der Sprache. Wie kein anderer Schriftsteller seiner Zeit verhielt er sich subversiv gegenüber einer automatisierten und gattungskonformen Redeweise. Nüchterne Sachlichkeit wird durch Paradoxien, Doppeldeutigkeiten und Ironie unterlaufen. Diese Stilmittel werden wiederum von einer Syntax getragen, die die Grenzen des Verstehbaren erreicht. Durch den Kontrast wird eine Synchronisierung, Zeitraffung, Dynamisierung des Geschehens und eine Plastizität des Dargestellten erreicht, wie sie erst in der Literatur des 20. Jahrhunderts wieder gelingen sollte. (Harenbergs Lexikon der Weltliteratur, Dortmund 1989, Band 3, Seite 1631)


Heinrich von Kleist: Bibliografie (Auswahl)

  • Robert Guiskard, Herzog der Normänner (Fragment eines Trauerspiels, 1801, UA 1901)
  • Die Familie Schroffenstein (Trauerspiel, UA 1804)
  • Penthesilea (Drama, 1807, UA 1876)
  • Amphitryon (Komödie, 1807, UA 1899)
  • Die Marquise von O… (Novelle, 1807)
  • Jeronimo und Josephe (Das Erdbeben in Chili, 1807)
  • Der zerbrochene Krug (Komödie, 1803, UA 1808)
  • Das Käthchen von Heilbronn oder Die Feuerprobe (Schauspiel, 1808, UA 1810)
  • Die Hermannsschlacht (Schauspiel, 1808, veröffentlicht 1821, UA 1839)
  • Michael Kohlhaas. Aus einer alten Chronik (Novelle, 1810)
  • Das Bettelweib von Locarno (Erzählung, 1810)
  • Die heilige Cäcilie oder Die Gewalt der Musik. Eine Legende (1810)
  • Die Verlobung in St. Domingo (Erzählung, 1810)
  • Über das Marionettentheater (1810)
  • Prinz Friedrich von Homburg (Schauspiel, 1810, UA 1821)
  • Der Findling (Erzählung, 1811)
  • Der Zweikampf (Erzählung, 1811)

Eine textkritische kommentierte Leseausgabe sämtlicher Werke und Briefe von Heinrich von Kleist erschien 2010: Münchner Ausgabe, auf der Grundlage der Brandenburger Ausgabe herausgegeben von Roland Reuß und Peter Staengle, Carl Hanser Verlag, München 2010, 3 Bände, 2730 Seiten).

Literatur über Heinrich von Kleist:

  • Rudolf Loch: Kleist. Eine Biografie (Göttingen 2003)
  • Klaus Müller-Salget: Heinrich von Kleist (Stuttgart 2002)
  • Jochen Schmidt: Heinrich von Kleist. Die Dramen und Erzählungen in ihrer Epoche (Darmstadt 2003)
  • Christa Wolf: Kein Ort. Nirgends (Berlin und Weimar 1979; über ein fiktives Treffen Heinrich von Kleists mit Karoline von Günderode)

Tanja Langer (Libretto) und Rainer Rubbert (Musik) schrieben die Künstleroper „Kleist“, die am 22. März 2008 im Brandenburger Theater in Berlin uraufgeführt wird (Regie: Bernd Motti, musikalische Leitung: Michael Helmrath).

© Dieter Wunderlich 2005 / 2010

Heinrich von Kleist: Die Marquise von O…
Heinrich von Kleist: Das Käthchen von Heilbronn oder Die Feuerprobe
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