Vertraute Fremde

Vertraute Fremde

Vertraute Fremde

Vertraute Fremde – Originaltitel: Quartier Lointain – Regie: Sam Garbarski – Drehbuch: Philippe Blasband, Sam Garbarski und Jérôme Tonnerre nach dem Manga "Haruka na Machi e" von Jiro Taniguchi – Kamera: Jeanne Lapoirie – Schnitt: Ludo Troch – Musik: Jean-Benoît Dunckel, Nicolas Godin (AIR) – Darsteller: Léo Legrand, Pascal Gréggory, Jonathan Zaccaï, Alexandra Maria Lara, Laura Martin, Laura Moisson, Pierre-Louis Bellet, Tania Garbarski, Laurence Lipski, Louis Bianchi, Théo Dardenne, Augustin Lepinay, Pauline Chappey, Juliette Lembrouk u.a. – 2010; 95 Minuten

Inhaltsangabe

Der 50-jährige Comic-Zeichner und -Autor Thomas Verniaz nimmt versehentlich den falschen Zug und gelangt so durch Zufall nach Jahrzehnten erstmals wieder in den Ort, in dem er aufwuchs. Am Grab seiner 1975 verstorbenen Mutter fällt er in Ohnmacht. Als er wieder zu sich kommt, befindet er sich im Jahr 1966. Er sieht zwar wie ein 14-Jähriger aus, verfügt jedoch über das Wissen und die Erfahrungen aus weiteren 35 Lebensjahren. Damit versucht er zu verhindern, dass sein 40-jähriger Vater die Familie verlässt ...
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Kritik

"Vertraute Fremde" – die Verfilmung einer Graphic Novel von Jiro Taniguchi durch Sam Garbarski – basiert auf einer faszinierenden Grundidee, aber dem leisen Film gelingt es nicht, uns die Figuren nahezubringen und sie zu farbigen, lebendigen Charakteren zu machen.
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Der 50-jährige Comic-Zeichner und -Autor Thomas Verniaz (Pascal Greggory) verabschiedet sich in Paris von seiner Ehefrau Catherine (Sophie Duez) und fährt zu einer Comic-Messe. Dort sitzt er einsam an seinem Stand. Vor zwei Jahren veröffentlichte er seine letzte Graphic Novel: „Agatha Hayes“. Seither sucht er vergeblich nach einer neuen Idee.

Bei der Rückfahrt schläft er im Zug ein. Der Schaffner weckt ihn und stellt bei der Fahrkartenkontrolle fest, dass er im falschen Zug sitzt. Am nächsten Bahnhof steigt Thomas deshalb aus. Zufällig handelt es sich um die Kleinstadt in den Bergen, in der er aufwuchs. Seit der Beerdigung seiner Mutter war er nicht mehr hier. Weil der nächste Zug nach Paris erst in fünfeinhalb Stunden geht, hat Thomas genügend Zeit, zum Friedhof zu gehen.

„Anna Verniaz, née Zorn, 1927 – 1975“ steht auf dem Grabstein seiner Mutter. Thomas schaut einem Schmetterling nach. Dabei wird ihm schwindelig, und er stürzt zu Boden.

Als er wieder zu sich kommt, ist er 14 (Léo Legrand) und befindet sich im Jahr 1966.

Am 5. Juni 1966 wurde sein Vater Bruno (Jonathan Zaccaï) 40 Jahre alt, aber statt zu feiern, verschwand er an diesem Tag ohne ein Wort des Abschieds oder der Erklärung. Anna (Alexandra Maria Lara) kam nicht darüber hinweg, dass ihr Mann sie, den Sohn und die Tochter Corinne (Laura Moisson) verlassen hatte.

Thomas hebt sein Rad auf, fährt damit nach Hause und trifft dort auf seinen Vater, der ein Schneider-Atelier betreibt. Thomas sieht zwar wieder aus wie ein 14-Jähriger, verfügt jedoch über das Wissen und die Erfahrungen aus weiteren 35 Lebensjahren. So sagt er seiner Schwester die erste Mondlandung der Amerikaner im Jahr 1969 voraus und seinem Vater den Fall der Berliner Mauer. Anna nimmt die Veränderung an ihm wahr und führt sie auf die Pubertät zurück.

Am nächsten Morgen geht Thomas in die Schule.

Von seiner Großmutter Yvette (Evelyne Didi) erfährt Thomas, dass sein Vater und dessen Freund Robert in der Résistance waren. Als Robert erschossen wurde, fühlte Bruno sich verpflichtet, dessen Verlobte Anna zu heiraten.

1966 schwärmte Thomas für seine ein Jahr ältere Mitschülerin Sylvie Dumontelle (Laura Martin), die Tochter des Hausarztes (Patrick Zimmermann) der Familie Verniaz, aber das vertraute er nur seinem besten Freund Philippe Rousseau (Pierre-Louis Bellet) an, denn er hielt das attraktive Mädchen für unerreichbar. Nun ist es anders: Thomas wird im Mathematikunterricht beim Zeichnen ertappt. Die Lehrerin (Odile Matthieu) nimmt ihm das Heft ab und zeigt in der Klasse ein Porträt Sylvies herum. Die Schülerin erfährt davon, wird dadurch auf Thomas aufmerksam und lässt sich von ihm Zeichenunterricht geben. Sie verliebt sich in ihn und versucht ihn zu küssen, aber Thomas zuckt zurück, denn er will seine Ehefrau Catherine nicht betrügen.

Er ruft Catherine an. Sie ist noch ein Mädchen und wundert sich über den Anruf eines fremden Jungen, der behauptet, sie würden später heiraten und zwei Töchter bekommen.

Thomas möchte die Zeitreise nutzen und verhindern, dass sein Vater die Familie verlässt. Als Bruno am 5. Juni nicht verschwindet, glaubt Thomas, sein Ziel erreicht zu haben. Aber dann erfährt er, dass der Geburtstag seines Vaters erst mit einer Woche Verzögerung gefeiert wird, weil Thomas am 4. Juni in der Nähe des Friedhofs mit dem Rad stürzte und eine Weile bewusstlos war.

Um seinen Vater auch beschatten zu können, wenn er mit dem Auto unterwegs ist, leiht Thomas sich vom Sohn (Louis Bianchi, Lionel Abelanski) des Werkstattbesitzers Godin ein Moped. Er beobachtet, dass sein Vater im Krankenhaus eine todkranke Frau besucht.

Am 12. Juni soll Brunos 40. Geburtstag nachgefeiert werden. Er sagt, er wolle noch rasch Brot besorgen. Damit hat Thomas gerechnet, weil Bruno damals unter diesem Vorwand verschwand. Er hat bereits einen Wecken Brot gekauft. Dennoch verlässt Bruno kurz darauf das Haus. Thomas findet ihn am Bahnhof und drängt ihn, zu bleiben. Die Mutter sei nicht über die Trennung hinweggekommen und früh gestorben, sagt er in der Vergangenheitsform. Bruno lässt sich jedoch nicht davon abhalten, in den Zug nach Paris zu steigen. Er müsse das tun, erklärt er, bevor es für ihn zu spät sei.

Anna glaubt, Bruno werde zurückkommen. Vergeblich prophezeit Thomas ihr das Gegenteil. Sie hört nicht auf ihn und will auf Bruno warten.

Thomas fährt mit dem Rad zum Friedhof und stürzt dort. Er sieht sich selbst als 50-jährigen Mann und folgt dem Alter Ego. Während er einen flatternden Schmetterling beobachtet, verliert er das Bewusstsein.

Als 50-Jähriger kommt er wieder zu sich. Er geht zum Bahnhof, fährt mit dem Zug nach Paris und freut sich, als er seine Frau und die beiden Töchter durchs Fenster seines Hauses sieht.

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1997 veröffentlichte der Mangaka Jiro Taniguchi (* 1947) die Graphic Novel „Vertraute Fremde“ („Haruka na Machi e“) über den 48-jährigen Architekten Hiroshi Nakahara, der mit Frau und Kindern in Tokio lebt, nach einer Geschäftsreise in den falschen Zug steigt, auf diese Weise nach 30 Jahren erstmals wieder in seine Geburtsstadt Kurayoshi kommt, am Grab seiner Mutter in Ohnmacht fällt und als 14-Jähriger wieder aufsteht („Vertraute Fremde“, Übersetzung: Claudia Peter, 416 Seiten, Carlsen Verlag 2007, ISBN 978-3-551-77779-9).

Der 1948 in Krailling bei München geborene belgische Regisseur Sam Garbarski verfilmte die Graphic Novel von Jiro Taniguchi. In „Vertraute Fremde“ geht es um den Wunsch, die Vergangenheit zu verändern. Thomas ist nach einer Zeitreise von rund 35 Jahren zwar wieder 14, verfügt jedoch weiterhin über die Kenntnisse und Erfahrungen des älteren Mannes. Er weiß deshalb, dass sein Vater die Familie 1966 verließ. Und das versucht er nun zu verhindern.

Die Grundidee ist faszinierend. „Vertraute Fremde“ ist ein leiser, bedächtig erzählter Film. Aber es fehlt an Konflikten, und weder Sam Garbarski noch den Darstellern gelingt es, uns die Figuren nahezubringen, sie zu farbigen, lebendigen Charakteren zu machen. Auch die Geschichte bleibt oberflächlich und episodenhaft.

Jiro Taniguchi hat übrigens am Ende von „Vertraute Fremde“ einen Cameo-Auftritt als Bahnreisender.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2013

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