Cristina Sánchez
Die Tochter eines spanischen Banderilleros setzte sich schon als Kind in den Kopf, eine Torera zu werden. In der berühmten Stierkampfschule von Madrid erlernte sie den Umgang mit der muleta. Als Zwanzigjährige nahm sie es mit ausgewachsenen Stieren auf, aber wegen ihrer kleinen und zierlichen Figur fiel es ihr nicht leicht, die zehnmal so schweren Tiere mit einem einzigen Degenstoß zu töten. Zweimal rammte ihr ein Stier ein Horn in den Leib. Doch Cristina Sánchez gab nicht auf und schaffte es als erste Frau, zur confirmación in der Arena von Madrid zugelassen und damit offiziell als Matadora anerkannt zu werden.
Cristina Sánchez:
Offizielle Anerkennung als Matadora
Leseprobe aus
Dieter Wunderlich: WageMutige Frauen. 16 Porträts aus drei Jahrhunderten
Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 2004 / Piper Taschenbuch, München 2008 (5. Auflage: 2011)
Simón Casas gewinnt die bekannten Stierkämpfer Curro Romero und José María Manzanares dafür, Cristina Sánchez am 25. Mai 1996 mit einer feierlichen Zeremonie, der so genannten alternativa, als Matadora in Nîmes einzuführen. Der Schritt vom matador de novillos, kurz: novillero, zum matador de toros ist in der Karriere eines Stierkämpfers ein Meilenstein. Entsprechend nervös und erwartungsvoll reist Cristina in die südfranzösische Stadt. Dort zieht sie sich gleich nach ihrer Ankunft auf das Landgut »La Quinta« der mit ihr befreundeten Stierzüchterin Silvia Camacho zurück. Als die beiden Frauen bei einem Spaziergang von einem aggressiven Ziegenbock verfolgt werden und sie sich die Schlagzeilen für den Fall ausmalen, dass Cristina von dem Tier so verletzt wird, dass sie den Stierkampf absagen muss, biegen sie sich vor Lachen. Und dann findet Silvia Camacho auch noch heraus, dass die gefeierte Torera Angst vor Spinnen hat!
Für eine alternativa kleiden sich viele Stierkämpfer in festliches Weiß. Cristina wählt ein pastellblaues Kostüm. Während des paseillo weint sie vor Erregung. Zu Beginn erhält sie von dem zweiundsechzig Jahre alten Curro Romero, der als Pate fungiert, feierlich capa und muleta überreicht, und der dreiundvierzigjährige José María Manzanares tritt als Zeuge auf. Die vom spanischen Fernsehen übertragene Corrida ist ein voller Erfolg: Curro Romero bekommt für einen seiner beiden Kämpfe ein Ohr des getöteten Stiers als Trophäe; José María Manzanares und Cristina Sánchez halten nach jedem ihrer Kämpfe triumphierend ein
abgeschnittenes Stierohr hoch, während sie vor dem tobenden Publikum die Ehrenrunde abschreiten. Am Ende werden die beiden auf Schultern aus der Arena getragen.
Im Mai stehen gewöhnlich die Teilnehmer der Corridas der gesamten Saison fest, doch Simón Casas gelingt es, noch eine Reihe zusätzlicher Verträge für Cristina Sánchez abzuschließen. Achtundsechzig Stierkämpfe stehen 1996 auf ihrem Programm. Einer der ersten findet in Dax nordöstlich von Bayonne statt. Dort stößt einer der Stiere Antonio Sánchez, der wieder als Banderillo auftritt, ein Horn unter seinen Gürtel und schleift ihn durch die Arena. Panisch vor Angst rennt Cristina hin, greift sich die nächste capa und lenkt den Stier ab. Ihr Vater liegt blutüberströmt im Sand. Während er auf der Nothilfe-Station untersucht wird und sie um ihn bangt, muss sie in den Kampf. Zum Glück sind seine Verletzungen nicht so ernst wie befürchtet. Aber nach diesem Schock überredet Cristina ihren Vater, als Banderillero aufzuhören.
[…]
Ihren größten Erfolg feiert sie 1998: Am 12. Mai wird sie in der »Plaza de las Ventas« in Madrid als Matadora offiziell bestätigt. Für die Zeremonie haben sich ihre zwanzig beziehungsweise vier Jahre älteren Kollegen Curro Vázquez und David Luguillano zur Verfügung gestellt. Erst die confirmación in der spanischen Hauptstadt verleiht einem Matador die höheren Weihen. Stierkämpferinnen hat es zwar bereits vor Cristina Sánchez gegeben, aber keiner von ihnen war es gelungen, in der bedeutendsten Arena der Welt als Matadora anerkannt zu werden. Endlich hat Cristina Sánchez ihr Ziel erreicht und den Traum ihrer Kindheit verwirklicht.
Quelle: Dieter Wunderlich, WageMutige Frauen. 16 Porträts aus drei Jahrhunderten
© Pustet Verlag, Regensburg 2004
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