Ida Casaburi : Der Lockruf

Der Lockruf
Der Lockruf Originalausgabe: Bettina Weiss Verlag, Heidelberg 2010 ISBN: 978-3-9810798-4-5, 182 Seiten Überarbeitete Taschenbuchausgabe: Bettina Weiss Verlag,kalliope paperbacks, Heidelberg 2016 ISBN: 978-3-9814953-4-8, 205 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Axel Gennaro Menzel arbeitet als Buchrestaurator. Nach dem Suizid seiner Mutter beginnt er zu trinken, und seine 17 Jahre jüngere Ehefrau Billa verlässt ihn. Als er wegen eines Auftrags nach Neapel reist, fällt ihm in der Wohnung des Kunden ein Gemälde auf. Das winzige Selbstbildnis der Malerin lässt ihn nicht mehr los, und die Suche nach der schönen jungen Frau wird für ihn zur Obsession, obwohl es heißt, ihr Gesicht sei durch einen Unfall verätzt oder verbrannt ...
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Kritik

Ida Casaburi beweist mit dem virtuos komponierten Roman "Der Lockruf" ihr erzählerisches Können. Mit viel Fantasie und Kreativität hat sie einen surrealen Kosmos voller Rätsel und Merkwürdigkeiten geschaffen. Das ist unterhaltsam und zugleich Literatur auf hohem Niveau.
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Axel Gennaro Menzel ist der Sohn einer Neapolitanerin und eines Deutschen, der gleich nach der Geburt des Kindes den Atlantik zwischen sich und seine Familie brachte. Der selbstständige Buchrestaurator Axel Menzel war bereits seit zehn Jahren verheiratet, als sich seine Mutter mit Tabletten das Leben nahm. Aus dem Abschiedsbrief erfuhr er, was ihr Schreckliches widerfahren war. Das setzte ihm so zu, dass er zu trinken begann. Drei Monate nach dem Suizid der Mutter verließ ihn seine 17 Jahre jüngere Frau Billa und zog in ihre alte Wohnung auf der anderen Straßenseite. Von einer Scheidung will sie allerdings nichts wissen.

Wegen eines möglichen Auftrags reist der Buchrestaurator nach Neapel und quartiert sich in einem Hotel auf dem Vomero ein. Eigentlich hat er nur ein einfaches Zimmer reservieren lassen, aber man bringt ihn ohne Aufpreis in der Hochzeitssuite unter.

Als er Dr. Raven aufsucht, der einige Bücher restaurieren lassen möchte, fällt ihm ein Gemälde mit zahlreichen winzigen Frauenfiguren auf, die mit einer Ausnahme dem Betrachter den Rücken kehren. Nur ein einziges Gesicht ist zu sehen. Bei der Miniatur handelt es sich um ein Selbstbildnis der Malerin. Axel Menzel ist hingerissen von der Schönheit dieser Frau. Dr. Raven sagt, sie heiße Katinka und sei durch einen dummen Unfall für immer „beschädigt“.

„Leider wird sie nie wieder so aussehen. Eine eifersüchtige Göttin hat dafür gesorgt.“

Und dann erzählt Dr. Raven seinem Besucher die Legende von der Halbinsel Megaride. Lucio Licinio Lucullo kaufte sie und lebte dort mit seiner wunderschönen Frau Servilia. Weil sie attraktiver als Venus aussah, brachte die Göttin Neptun dazu, die verhasste Frau samt der Insel durch einen Sturm zu vernichten.

Zurück im Hotel, fällt Axel Menzel am Kopfteil des Bettes ein kleines Loch in der Bespannung auf, und er zieht einen Zettel in kyrillischer Schrift heraus. Hat Katinka hier eine Nachricht hinterlassen? Er erkundigt sich bei Herrn Russo an der Rezeption, ob in der letzten Zeit russische Gäste in der Suite gewesen seien und erfährt, dass vor ein paar Tagen eine junge Frau ohne Gepäck nach dem schönsten Zimmer im Hotel gefragt habe.

Der Nachportier Bonin, dem Axel Menzel von der schönen Malerin und dem Zettel erzählt, hinterlässt am nächsten Morgen für ihn einen Brief mit einer Adresse. Obwohl es sich um eine üble Gegend handelt, sucht Axel Menzel sie und findet dort eine alte Frau vor, eine Hemdnäherin, die ihn sogleich für einen Kunden hält und Maß nimmt. Notgedrungen bestellt er drei Hemden. Sie habe eine Tochter, antwortet sie auf seine Frage nach Kindern, aber die sei längst in ein besseres Stadtviertel gezogen. Als er die halbfertig geschnitzte Holzfigur eines Vogels anfasst, verletzt er sich am Finger. Ihre Tochter arbeite daran, wenn sie zu Besuch sei, erklärt die Hemdnäherin. Doch als er fragt, wo die Tochter nun wohne, durchschaut sie, dass er gar nicht als Kunde zu ihr gekommen ist.

„Behalten Sie Ihr Geld! Sie wollen gar keine Hemden, oder? Hat er sie geschickt?“
„Er? Wen meinen Sie? Nein, mich schickt niemand. Erlauben Sie mir bitte, Ihnen alles zu erklären!“
„Verschonen Sie mich mit Ihren Erklärungen. Es ist besser, Sie gehen jetzt.“

Keifend wirft sie ihn hinaus. Vor Aufregung verläuft er sich im Labyrinth der Gassen. Er wird nach dem Weg fragen müssen.

Dort, wo ich mich gerade befand, gab es viele Frauen, nur keine alten. Sie standen oder saßen, einzeln oder in kleinen Gruppen vor den Eingängen zu den bassi, deren breite Türen offen waren. Merkwürdigerweise sprachen sie nicht miteinander, noch konnte ich zwischen ihnen einen einzigen Mann entdecken, sodass ich mir über den Grund ihres Daseins nicht im Klaren war. Auch wirkte diese Gasse, durch das Fehlen von Verkehr, Geräuschen und jeglicher Geschäftigkeit irgendwie anders.
Schließlich ging ich auf ein Mädchen zu, dem zierlichen Körperbau nach kaum älter als dreizehn. Sie schenkte mir ein reizendes Lächeln. Aus der Nähe sah ich, dass es doch älter war, zu sehr geschminkt und recht freizügig angezogen. Als ich dies wahrnahm, war es schon zu spät.
„Ich mache alles“, flüsterte die Kindfrau […]

Die Prostituierte führt den schüchternen Fremden in einen fensterlosen Kellerraum. Als er dort eine Ratte huschen sieht, flüchtet er ins Freie und rennt davon.

Er will nur noch weg aus Neapel, doch als er seinen Koffer im Hotel holt, überlegt er es sich anders. Mit einer Empfehlung des Kellners Gigino zieht er in die von Donna Letizia betriebene Pension Gioia.

Als er erneut zu Dr. Raven geht, erfährt er von der Haushälterin Antoinetta, dass sein Kunde ausgegangen sei. Axel Menzel fragt nach Katinka. Caterina sei im Garten, meint Antoinetta. Aber als er hinunterkommt, ist die junge Frau bereits fort. In der Hoffnung, dass sie den Aufzug benutzte, während er im Treppenhaus nach unten lief, eilt Axel Menzel zurück, aber Antoinetta ist nach wie vor allein. Während er wartet, bemerkt er, dass das Acrylbild übermalt wurde: Nun ist auch von der zentralen Frauenfigur nur noch der Rücken zu sehen. Er sucht Katinkas Zimmer. Während er die Sachen im Kleiderschrank anschaut, ertappt ihn Dr. Raven und fordert ihn auf, die schönen Stoffe zu befühlen. Seit dem Unglück sei Katinka ruhelos, klagt er.

Von Billa erhält Axel Menzel die Nachricht, dass alle Billigflüge in den nächsten elf Tagen ausgebucht sind. Wird er mit dem Zug nach Deutschland zurückkehren müssen? Er ruft Billa im Büro an, aber man klärt ihn darüber auf, dass sie sich freigenommen hat.

Als er die in einem Schrank seines Pensionszimmers vorgefundenen Kleidungsstücke probiert, stellt er fest, dass sie ihm wie maßgeschneidert passen. Er rasiert seinen Bart ab und trägt von nun an die fremden Sachen.

Beim Versuch, die Bücher abzuholen, die er restaurieren soll, trifft er wieder nur Antoinetta an. Obwohl Dr. Raven ihr verbot, Axel Menzel noch einmal in die Wohnung zu lassen, erzählt sie, ihr Arbeitgeber habe Caterina in Paris kennengelernt, und zwar bei einem russischen Maler, dem sie Modell stand. Dr. Raven brachte das fröhliche, aus Neapel stammende Mädchen mit hierher und wollte etwas Besonderes aus ihm machen. Aber nach einem Jahr verließ Caterina ihn. Daraufhin ging er kaum noch aus. Stattdessen starrte er ihr Foto an – bis sie zurückkam, allerdings mit zerstörtem Gesicht, Antoinetta ist sich nicht sicher, ob es verätzt oder verbrannt war. Dr. Raven brachte Caterina zu Ärzten, und inzwischen wurde sie bereits viermal operiert, aber die Schönheit ihres Gesichts lässt sich wohl nicht wiederherstellen.

Im Regen läuft Axel Menzel eine Perserkatze nach. Zurück in der Pension, fragt er Herrn Ambrosino, einen Gast, der ebenfalls eine Perserkatze besitzt, um Rat. Herr Ambrosino war 20 Jahre lang Souffleur und fängt schließlich in grauenvoller Sprechweise einen Shakespeare-Text zu rezitieren an. Weil seine Katze auf den Namen Bianca hört und die beiden Töchter des Kaufmanns Baptista in „Der Widerspenstigen Zähmung“ Bianca und Katharina heißen, schlägt Herr Ambrosino vor, die zugelaufende Katze Cathy zu nennen.

Mit Katinka/Caterina in Kontakt zu kommen, ist für Axel Menzel inzwischen zur Obsession geworden. Er kauft ein Handy, schreibt die Nummer auf und geht damit zu Dr. Raven. Aber der ist für längere Zeit verreist, und weil Antoinetta annimmt, dass während Dr. Ravens Abwesenheit auch Caterina nicht auftauchen werde, wendet Axel Menzel sich an den Nachtportier Bonin. Der hilft ihm, einen Zettel mit der Handynummer in den Bespann des Bettes in der Hochzeitssuite zu schieben.

Im Speisesaal der Pension findet an diesem Abend ein Festessen anlässlich des 50. Geburtstags eines Gastes statt. Luisa Gualtieri ist in Wirklichkeit gewiss älter, und es heißt, sie habe nie gearbeitet, sondern sich stets von Liebhabern aushalten lassen. Axel Menzel wundert sich darüber, dass alle anwesenden 13 Gäste reden und fragt sich, wer eigentlich zuhöre.

Zurück in seinem Zimmer, erhält er eine SMS. Weil er sich mit Handys nicht auskennt und befürchtet, etwas falsch zu machen, klingelt er Herrn Ambrosino aus dem Bett, obwohl es kurz vor Mitternacht ist. Die Nachricht lautet:

Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir?

Mit Hilfe von Herrn Ambrosino schreibt Axel Menzel zurück und erhält daraufhin eine SMS mit dem Text:

Morgen um drei in der Villa Floridiana.

Zur angegebenen Zeit wartet er vergeblich im Park der klassizistischen Villa auf dem Vomero. Ein anderer Herr, dem es ebenso geht, nimmt ihn mit nach Hause. Herr Solimene wohnt gleich in der Nähe. Von seinen Angehörigen lebt niemand mehr, und seine Katze ist entlaufen. Er war nie verheiratet. Olimpia, seine große Liebe, ist die Ehefrau eines erfolgreichen Immobilienmaklers geworden, weil Herr Solimene sich nicht dazu entschließen konnte, ihr einen Heiratsantrag zu machen. Er lebte ihn dem Wahn, er werde schon noch einer jüngeren, schöneren und ausgefalleneren Frau begegnen.

Eine Stunde, bevor der Park der Villa Floridiana für die Nacht geschlossen wird, geht Axel Menzel los. Über eine Treppe steigt er in den Untergrund hinab. An den Wänden befinden sich Namensschilder und Klingeln wie in einer Gasse.

Ein nackter Mann, kaum größer als ein Kind, stand am Rande eines etwas kleineren Beckens. Neben ihm auf dem Boden lagen ein Häufchen Kleider, Sandalen und ein Hammer. Mein plötzliches Auftauchen kümmerte ihn nicht weiter, und er stieg hinein.
„Haben Sie sich verlaufen?“, fragte er mich.
„Nicht, dass ich wüsste.“
„Wieso sind Sie dann allein?“
„Wieso nicht?“
„Weil Sie mit den anderen laufen müssen. So sind die Regeln.“
Ich konnte mit seiner Antwort nichts anfangen und fragte: „Was machen Sie hier unten?“
„Ich arbeite natürlich!“ Er plantschte vergnügt wie ein Kind.
Ich steckte eine Hand in das Wasser. Es war eiskalt.
„Eisig, nicht wahr? Und jetzt auch nicht mehr ganz sauber“, sagte der Zwerg mit einem gewitzten Grinsen.

Von einem Park weiß der Gnom nichts, aber er rät dem Eindringling, der blauen Markierung zum Meer zu folgen. Eine junge Frau, die trotz des Sommers einen Pelzmantel und weiße Stiefel trägt, erklärt ihm den Weg. Als er sich darüber wundert, was sie und ihre in der Nähe zu hörenden Freunde nachts im Park treiben („Was kann man nachts schon hier machen?“), lacht sie und drückt sich an ihn. Als er ihre warme Haut berührt und merkt, dass sie unter dem Mantel nackt ist, schreckt er zurück. 777 Stufen – wie zwischen Capri und Anacapri – führen zur Via Caracciolo hinunter. Ein im Stehen rudernder Mann landet ein Holzboot an. Axel Menzel fragt, ob ihn der Bootsbesitzer zur Halbinsel Megaride bringen könne, und sie legen ab. Mitten auf dem Meer stellt Axel Menzel plötzlich fest, dass er allein ist. Er versucht, nach Megaride zu schwimmen, droht jedoch nach einiger Zeit vor Erschöpfung zu ertrinken. Da packen ihn zwei Hände, und er wacht bei Herrn Solimene auf. Offenbar war er eingeschlafen.

Am Abend besucht Gigino ihn mit einer Flasche Jack Daniels in der Pension. Der Kellner hat von Donna Letizia erfahren, dass der Deutsche am nächsten Morgen abreisen wird. Axel Menzel wird ihn nicht mehr los; Gigino bestellt auch noch Pizzen. Die Türen der anderen Gäste stehen offen; sie haben sich alle in einem der Zimmer versammelt. Als Axel Menzel von Gigino erfährt, dass Cathy Herrn Solimene gehört, bringt er die Perserkatze noch in der Nacht dem Besitzer.

Er wundert sich, dass Billa ihn nicht vom Flughafen abholt. Auf seinem Kopfkissen findet er einen Brief von ihr. Sie erinnert ihn daran, dass sie schon im Alter von 13 Jahren in ihn verliebt war. Später sei sie überrascht gewesen, schreibt sie, dass er ihren Heiratsantrag angenommen habe. Als sie während seiner Italienreise in seine Wohnung und seine Werkstatt schaute, war sie über die leeren Flaschen und die Verwahrlosung entsetzt. Kürzlich wurde sie in dem Zug, mit dem sie zur Arbeit fährt (Billa ist in einem Maklerbüro angestellt), von einem ihr gegenüber sitzenden Fahrgast gezeichnet – und fand das Porträt schmeichelhaft.

Mein erster Impuls war natürlich gewesen, diese viel zu schöne Lüge wegzuwerfen, dann habe ich es mir überlegt und das Porträt in die Aktentasche gesteckt.

In der Mittagspause gab Billa ein Monatsgehalt für neue Kleidungsstücke aus. Im Internet fand sie eine Dame namens Vernier, die sie schließlich aufsuchte, um ihr das Porträt zu zeigen und sich über ihr Aussehen beraten zu lassen.

Ich fühle mich glücklicher! Stärker! Ich bin bereit für ein ganz neues Leben, wenn es sein muss, auch ohne dich.

Tagelang wartet Axel Menzel, aber die Rollläden an Billas Fenstern bleiben geschlossen. Er räumt seine Wohnung gründlich auf. Dann findet er in der Post eine an ihn adressierte Ansichtskarte ohne jegliche Nachricht. Erst bei genauem Hinsehen entdeckt er eine mit dem Fingernagel eingedrückte Kerbe, die er als Hinweis auf ein abgebildetes Haus auf einem Berg interpretiert. Unverzüglich steigt er ins Auto und macht sich auf den Weg.

Auf halber Strecke übernachtet er. Die Wirtin heißt Marie, ihr Mann Pierre ist Jäger und Koch zugleich, ihren jüngeren Bruder Leo beschäftigt sie als Kellner. Am Abend nimmt Axel Menzel an einer Prozession teil. Eine Heiligenfigur wird zu einem Abgrund getragen, dort gesteinigt und in die Tiefe gestürzt. Erschrocken entfernt Axel Menzel sich und verläuft sich. Zum Glück kommt ihm nach einer Weile Pierre mit seinem Hund entgegen. Der Ehemann der Wirtin, der aus Abscheu nicht an der Prozession teilnahm, ist betrunken, aber er bringt den Gast zur Herberge zurück.

Wie erwartet, handelt es sich bei dem auf der Ansichtskarte markierten Gebäude um einen Gasthof. Lucien, der Wirt, gibt Axel Menzel das Kapitänszimmer. Darin erhängte sich 1918 der letzte Spross der Familie Monnier, von der Luciens Vater das Anwesen erworben hatte. Die Monniers waren Seeleute, und Axel Menzel schlägt das Logbuch eines Kapitäns Monnier auf.

Durch ein im Zimmer vorhandenes Teleskop sieht er eine Frau auf einer Aussichtsterrasse, die durch ein Münzfernrohr schaut und es schließlich auf sein Fenster richtet. Und beim des Abendessen kommt eine junge Frau in den Speisesaal.

Ich blickte hoch. Der Grund dieses freudigen Aufruhrs war das Eintreten eines Gastes gewesen, einer zierlichen Frau, die am englischen Tisch Platz genommen hatte. Nach den strahlenden Gesichtern der Damen schien sie äußerst willkommen zu sein. Durch ihre Aufmachung stand sie spürbar im Mittelpunkt. Sie war nicht so angezogen, wie man es vielleicht an einem solchen Ort erwartet. Anstatt wie die anderen in sportlicher und bequemer Kleidung zu stecken, trug sie einen engen Pulli, der die Schultern frei ließ, einen Rock aus einem dünnen, fließenden Stoff und hochhackige Sandalen. Ein Teil ihres blonden Haares war hochgesteckt, der Rest fiel glatt über den schlanken Rücken. Sie griff öfters hinein, um es mit einer stolzen Handbewegung zurückzuwerfen. Für mich stand fest, dass sie auf keinen Fall diejenige sein konnte, auf die ich wartete.
Wenig später erschien Lucien in der Tür. Er ging auf die junge Frau zu und beugte sich über sie. Mit einer unverkennbaren Vertrautheit flüsterte er ihr etwas ins Ohr. Danach strahlte sein Gesicht die Freude des Boten einer glücklichen Nachricht aus.

Axel Menzel verlässt den Raum vorzeitig. Er hat Fieber.

Am nächsten Morgen erkundigt Lucien sich besorgt nach seinem Befinden und rät ihm zu einem Spaziergang. Axel Menzel geht die Uferpromenade entlang und setzt sich in ein Straßencafé. Lucien kommt mit dem Wagen und lässt die blonde Frau aussteigen. Axel Menzel beobachtet, wie sie Platz nimmt und etwas auf einen Zettel schreibt, den ihm der Kellner dann bringt. „Ich würde Sie gerne kennenlernen“, steht darauf. Während Axel Menzel zahlt, steht sie auf und geht. Er folgt ihr und holt sie ein.

Nach ein paar weiteren stillen Minuten blieb ich abrupt stehen, hielt sie am Arm fest, versuchte ein wenig unbeholfen sie am Kinn zu fassen und wollte ihr Gesicht zu mir drehen. Sie sträubte sich jedoch, wie eine schüchterne Braut vor der Entschleierung.
„Noch nicht!“, flüsterte sie.
„Wann?“
„Heute Abend, in Ihrem Zimmer, um sieben. Ein Abenteuer zu haben, ist besser, als immer nur von einem zu träumen. Das ist es doch, wonach Sie sich gesehnt haben, oder? Eine Verabredung mit einer Unbekannten.“
„Ich möchte nicht mehr träumen, ich möchte endlich aufwachen!“

Während er am Abend wartet, schläft er ein. Kurz vor Mitternacht weckt ihn ein Anruf Luciens. Er werde am Auto erwartet, lautet die telefonische Mitteilung. Axel Menzel fährt mit der jungen Frau los, und sie gehen schließlich ein Stück zu Fuß, bis kein Weg mehr zu erkennen ist.

„Endstation!“, stellte ich fest. „Oder sehen Sie einen Weg?“
„Den gibt es immer. Der hier ist bloß zugewachsen. Jemand muss dennoch versucht haben durchzukommen. Sehen Sie!“
[…] „Wir hätten lieber am Tag gehen sollen. Am Tage kann man sich weniger leicht verirren.“
„Gewiss! Am Tage wären wir aber kaum über die vermüllten Trampelpfade hinausgekommen und höchstens zu einem der verschandelten Picknickplätze gelangt. Doch auf Abwege gerät man nicht durch Zufall, besonders nicht in der Nacht. Und wer im Dunkel läuft, sieht manchmal mehr, als ihm lieb ist“, sagte sie mir leise ins Ohr.

In einiger Entfernung glaubt Axel Menzel ein Licht zu sehen, und er meint auch, dass jemand in der Nähe sei. Ein Gewitter kündigt sich an.

Da setzt sich ein Mann – vermutlich Lucien – zu ihm aufs Bett und hebt die leere Pastis-Flasche vom Boden auf.

„Sie wissen, wer dort unten ist?“, höre ich den Mann sagen. Ich bin mir gar nicht mehr so sicher, dass es Lucien ist.
„Ich verstehe nicht, was Sie meinen.“
„Sie schauen besser selbst nach. Nun gehen Sie schon! Sie wird nicht ewig auf Sie warten.“

Axel Menzel tritt auf den Balkon. Was er in der Bucht unter sich sieht, hält er zunächst für eine weiße Robbe, aber dann erkennt er, dass es sich um eine Frau handelt. Sie gestikuliert und ruft ihn bei seinem Vornamen. Es ist Billa. Sie fordert ihn auf, an dem Seil, das mit einem Eisenring an der Felswand befestigt ist, zu ihr hinunter zu klettern. Er steigt über die Brüstung und greift mit beiden Händen nach dem Tau, ohne auch nur einen Augenblick lang den Eindruck zu haben, etwas Gefährliches zu tun.

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Was möchte uns Ida Casaburi mit ihrem Roman „Der Lockruf“ sagen? Ich weiß es nicht, aber das Buch hat mich von der ersten Seite an fasziniert.

Die Inhaltsangabe ist unzulänglich, nicht zuletzt, weil es in „Der Lockruf“ weniger auf die Handlung als auf die Komposition ankommt.

Es gibt faszinierende Traumsequenzen in „Der Lockruf“, und man könnte auch den gesamten Inhalt für einen Traum halten, denn die schrägen Figuren und die absurden, geheimnisvollen Begebenheiten sind nicht von dieser Welt. Mit viel Fantasie und Kreativität hat Ida Casaburi einen surrealen Kosmos voller Rätsel und Merkwürdigkeiten geschaffen. Die melancholische Atmosphäre ist ungemein dicht. Immer wieder blitzen tragikomische Einfälle auf.

Erzählt wird die Geschichte in der Ich-Form von dem schrulligen Buchrestaurator Axel Gennaro Menzel. Nur einmal, in einem Brief seiner Ehefrau Billa, wird seine Perspektive relativiert. Erst am Ende versteht man, dass die ersten beiden Seiten und die letzten Kapitel eine Rahmenhandlung bilden.

Eigentlich hätte ich diesen Bericht gleich schreiben oder zumindest mir Notizen machen müssen, denn selbst nach einer relativ kurzen Zeit besteht die Gefahr, dass Einzelheiten verloren gehen und durch Fantasie ersetzt werden.
[…] Das Logbuch von Kapitän Monnier liegt vor mir aufgeschlagen. Ich beabsichtige, mit meinem Schreiben genau an der Stelle zu beginnen, wo er aufgehört hat. Umso öfter ich seinen letzten Eintrag lese, desto mehr denke ich, dass es sich um Ereignisse handelt, die nicht nur mit dem Meer, dem Wetter und dem Schiff in Zusammenhang stehen. Und obwohl es verrückt klingt, denke ich sogar, dass sie etwas mit mir zu tun haben könnten. Inwiefern, weiß ich noch nicht. Möglicherwese werde ich es erst am Ende meines Berichtes erkennen.
Sollte es mir gelingen, so weiß ich nicht, was mit mir geschehen wird.

Ida Casaburi lässt den Ich-Erzähler in „Der Lockruf“ mit seiner Laienhaftigkeit kokettieren:

An dieser Stelle halte ich es für sinnvoll, einige Angaben über meine Person zu machen, obwohl nicht anzunehmen ist, dass andere diese Aufzeichnungen jemals lesen werden.

Ich bin kein Poet, und wie man sieht, auch kein begabter Schreiber.

Anders als bei „Das Hausmädchen mit dem Diamantohrring“ und „C wie Chiara, D wie Davonfliegen“ orientiert sich Ida Casaburi nach ihrer eigenen Aussage bei „Der Lockruf“ an den „strange stories“ des englischen Schriftstellers Robert Fordyce Aickman (1914 – 1981).

Das an M. C. Escher erinnernde Titelbild der Taschenbuchausgabe passt sehr gut zu dem ebenso poetischen wie surrealen und geheimnisvollen Roman „Der Lockruf“, mit dem Ida Casaburi ihr großes erzählerisches Können beweist.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2016
Textauszüge: © Bettina Weiss Verlag

Ida Casaburi: Das Hausmädchen mit dem Diamantohrring
Ida Casaburi: C wie Chiara, D wie Davonfliegen

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"Der stille Amerikaner" ist eine spannende, unterhaltsame und eindringliche Geschichte, die von dem Protagonisten Fowler in sachlichem Journalisten-Stil erzählt wird. Graham Greene braucht keine pseudointellektuellen Formen, um komplexe Gedanken zu transportieren.
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