Georg Büchner : Lenz

Lenz
Manuskript: Straßburg, um 1835 Originalausgabe: Lenz in "Telegraph für Deutschland", 1839 Kommentierte Ausgaben: Hubert Gersch (Hg.), Reclam Verlag, Stuttgart 1998 Gerhard Schaub (Hg.), Reclam Verlag, Stuttgart 1996 Jürgen Schröder (Hg.), Insel Verlag, Frankfurt/M 1994
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der 26-jährige Dichter Jakob Lenz findet 1778 bei dem protestantischen Pfarrer Johann Friedrich Oberlin in Waldersbach ein Refugium. Trotzdem gerät er zunehmend in Verzweiflung über sich selbst, und es mehren sich die Symptome einer Schizophrenie. Als Lenz erfährt, dass in einem Nachbardorf ein Kind gestorben sei, glaubt er, es durch seine Gebete wieder zum Leben erwecken zu können. Das Misslingen des Versuchs löst eine Glaubenskrise bei ihm aus, und in seiner geistigen Zerrüttung bezichtigt er sich eines Mordes.
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Kritik

In der realistischen Erzählung "Lenz" porträtiert Georg Büchner mit sehr viel Einfühlungsvermögen den Dichter Jakob Lenz. Die posthum veröffentlichte einzige Prosadichtung Büchners gilt als ein Meilenstein in der deutschen Literatur.
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1778 wandert der sechsundzwanzigjährige Dichter Jakob Lenz in die Vogesen und wendet sich mit einer Empfehlung des Arztes und Dichters Christoph Kaufmann an Johann Friedrich Oberlin in Waldersbach, der seit 1767 als protestantischer Pfarrer die Menschen im Steintal betreut. Lenz wird von Oberlin und dessen Familie freundlich aufgenommen. Weil im Pfarrhaus zu wenig Platz ist, erhält er ein Zimmer im Schulhaus. In dieser wohlmeinenden Umgebung findet Lenz endlich Ruhe. Niemand fragt ihn, woher er komme und wohin er zu gehen beabsichtige. Gern begleitet er Oberlin, der unermüdlich unterwegs ist, um die verarmten Bauern zu beraten und nach Kindern und Kranken zu schauen.

Als Christoph Kaufmann mit seiner Braut ins Steintal kommt, stört es Lenz, dass jemand in sein Refugium eindringt, der über seine Vergangenheit und seine geistige Zerrüttung Bescheid weiß. Obendrein bringt Kaufmann einen Brief von Lenz‘ Vater mit. Der missbilligt die Lebensweise seines Sohnes und fordert ihn auf, nach Hause zu kommen und dort mitzuhelfen. Doch Lenz befürchtet, er könne verrückt werden, wenn er noch einmal unter der Fuchtel seines despotischen Vaters stünde.

Kaufmann und Oberlin reisen in die Schweiz, um dem Theologen Johann Kaspar Lavater ihre Aufwartung zu machen, der seit 1775 Pfarrer in Zürich ist. Lenz geht bis zur nächsten Passhöhe mit und kehrt dann allein um. Die Nacht verbringt er in einer Hütte am Hang des Steintals, in der eine Greisin mit einer geistesgestörten jungen Frau lebt. Ein in der Gegend als Heiliger verehrter Wunderheiler übernachtet ebenfalls in der Hütte, aber er vermag dem armen Mädchen nicht zu helfen.

Während der Abwesenheit seiner Bezugsperson sucht Lenz ersatzweise die Gesellschaft von dessen Ehefrau, aber er gerät zunehmend in Verzweiflung über sich selbst.

Als Lenz erfährt, dass in Fouday ein Kind namens Friederike gestorben sei, fastet er einen Tag lang, dann beschmiert er sein Gesicht mit Asche, vertauscht seine Kleidung mit einem alten Sack und wandert nach Fouday. Dort wirft er sich über die Leiche des Kindes, betet und fleht Gott um ein Zeichen an. „Stehe auf und wandle!“, befiehlt er dem toten Kind, aber nichts geschieht. Daraufhin zieht sich Lenz auf den nahen Berg zurück. Nachdem er zweimal erlebt hat, dass der Glaube nichts bewegt, lästert er Gott und leugnet von da an dessen Existenz.

Über Oberlin Rückkehr aus der Schweiz freut Lenz sich nicht, sondern er empfindet die Anwesenheit des Pfarrers jetzt eher als Belastung, denn dieser passt nicht mehr zu seinem Atheismus. Dazu kommt, dass Oberlin ihn ermahnt, Vater und Mutter zu ehren und zu seinem Vater zurückzukehren. Oberlin stellt fest, dass sich die Geisteskrankheit seines Gastes verschlimmert. Deshalb ruft er den Schulmeister Sebastian Scheidecker aus Bellefosse herbei, als er erneut fort muss. Scheidecker beaufsichtigt Lenz zusammen mit seinem Bruder, aber der schizophrene Dichter entkommt ihnen. Einige Zeit später erfährt Scheidecker, dass in Fouday ein Fremder festgenommen wurde, der sich als Mörder ausgibt. Es handelt sich um Lenz. Scheidecker holt ihn nach Waldersbach.

Die Erregtheit des Gastes weicht nun einer ebenso unnatürlichen Lethargie. Lenz langweilt sich und bleibt im Bett liegen.

Schließlich sieht Oberlin keine andere Möglichkeit mehr, als Lenz nach Straßburg zu bringen.

Es wurde finster, je mehr sie sich Straßburg näherten; hoher Vollmond, alle fernen Gegenstände dunkel, nur der Berg neben bildete eine scharfe Linie, die Erde war wie ein goldner Pokal, über den schäumend die Goldwellen des Monds liefen. Lenz starrte ruhig hinaus, keine Ahnung, kein Drang; nur wuchs eine dumpfe Angst in ihm, je mehr die Gegenstände sich in der Finsternis verloren. Sie mussten einkehren; da machte er wieder mehrere Versuche, Hand an sich zu legen, war aber zu scharf bewacht. Am folgenden Morgen bei trübem regnerischem Wetter traf er in Straßburg ein. Er schien ganz vernünftig, sprach mit den Leuten; er tat alles wie es die andern taten, es war aber eine entsetzliche Leere in ihm, er fühlte keine Angst mehr, kein Verlangen; sein Dasein war ihm eine notwendige Last.

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Unmittelbar nach einem knapp dreiwöchigen Aufenthalt des geisteskranken Dichters Jakob Lenz (1751 – 1792) bei ihm in Waldersbach, einem kleinen Ort in den Vogesen, verfasste Johann Friedrich Oberlin (1740 – 1826) einen Bericht darüber. Als der in Deutschland wegen seiner politischen Auffassungen steckbrieflich gesuchte Dichter Georg Büchner (1813 – 1837) 1835/36 in Straßburg Schutz suchte, stieß er auf eine Abschrift des Berichts, und der Inhalt inspirierte ihn zu einer Erzählung über Jakob Lenz.

Ich habe mir hier allerhand interessante Notizen über einen Freund Goethes, einen unglücklichen Poeten Namens Lenz verschafft, der sich gleichzeitig mit Goethe hier aufhielt und halb verrückt wurde. (Georg Büchner in einem Brief vom Oktober 1835)

Er wusste auch, was Johann Wolfgang von Goethe in „Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit“ über Lenz geschrieben hatte.

„Lenz“, die einzige Prosadichtung von Georg Büchner, erschien 1839 posthum in der von Karl Gutzkow (1811 – 1878) herausgegebenen Zeitschrift „Telegraph für Deutschland“, und zwar in acht Folgen, wobei der offenbar lückenhafte Text auf einer von Georg Büchners Braut Wilhelmine Jaeglé stammenden Abschrift beruhte. Das Originalmanuskript ist verschollen.

Bei einem fiktiven Tischgespräch in „Lenz“ macht Georg Büchner die Figur Christoph Kaufmann (1753 – 1795) zum Apologeten des Idealismus in der Literatur und legt Jakob Lenz seine eigene Kunstauffassung in den Mund:

Er sagte: Die Dichter, von denen man sage, sie geben die Wirklichkeit, hätten auch keine Ahnung davon, doch seien sie immer noch erträglicher, als die, welche die Wirklichkeit verklären wollten. Er sagte: Der liebe Gott hat die Welt wohl gemacht wie sie sein soll, und wir können wohl nicht was Besseres klecksen, unser einziges Bestreben soll sein, ihm ein wenig nachzuschaffen […] wir haben dann nicht zu fragen, ob es schön, ob es hässlich ist, das Gefühl, dass was geschaffen sei, Leben habe, stehe über diesen beiden, und sei das einzige Kriterium in Kunstsachen. Übrigens begegne es uns nur selten, in Shakespeare finden wir es und in den Volksliedern tönt es einem ganz, in Goethe manchmal entgegen. Alles übrige kann man ins Feuer werfen […] Da wolle man idealistische Gestalten, aber alles, was ich davon gesehen, sind Holzpuppen. Dieser Idealismus ist die schmählichste Verachtung der menschlichen Natur.

Damit distanziert sich Georg Büchner von Friedrich Schillers Idealismus und rechtfertigt die von ihm für „Lenz“ gewählte neuartige Darstellung. Die Hauptfigur dieser Erzählung ist eben keine für abstrakte Ideen stehende „Holzpuppe“, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut, noch dazu ein gequälter Geisteskranker.

Mit sehr viel Einfühlungsvermögen porträtiert Georg Büchner den Dichter Jakob Lenz, und durch die gewählte Perspektive lässt er den Leser an dessen inneren Erlebnissen teilnehmen. Georg Büchner schildert Lenz als innerlich zerrissene, schizophrene Persönlichkeit, als einen empfindsamen Menschen, der unter Angstzuständen leidet, sich einsam fühlt und den Einklang mit der Natur schmerzlich vermisst. Als Lenz glaubt, in Johann Friedrich Oberlin einen verständnisvollen Ersatzvater gefunden zu haben, beruhigt er sich, aber nachdem er seinen Glauben verloren hat, kann der Pfarrer keine Bezugsperson mehr für ihn sein, und Lenz bricht vollends zusammen.

Georg Büchner beschränkt seine realistische Darstellung strikt auf die zwanzig Tage, die Jakob Lenz in Waldersbach verbrachte und verzichtet darauf, etwas über die Vorgeschichte zu erzählen.

Wolfgang Rihm (Musik) und Michael Fröhling (Libretto) verwendeten die Erzählung „Lenz“ als Vorlage für ihre Oper „Jakob Lenz“, die am 8. März 1979 in Hamburg unter Leitung von Klauspeter Seibel und mit Richard Salter in der Titelrolle uraufgeführt wurde.

Die Erzählung „Lenz“ von Georg Büchner wurde mehrmals verfilmt:

Lenz – Regie: George Moorse – Drehbuch: George Moorse, nach der Erzählung „Lenz“ von Georg Büchner – Kamera: Gérard Vandenberg – Schnitt: Christa Wernicke – Musik: David Llewellyn – Darsteller: Michael König, Sigurd Bischoff, Toon Gallée, Elke Koska, Klaus Lea, Monica Maurer, Anne Meier, Kristin Peterson, Horst Tiessler, Louis Waldon, Rolf Zacher u. a. – 1971; 130 Minuten

Lenz – Regie: András Szirtes – Drehbuch: Mátyás Büki, Tamás Pap und András Szirtes, nach der Erzählung „Lenz“ von Georg Büchner – Kamera: Zoltán David alias Dávid András, Barna Mihók – Schnitt: Eszter Kovács – Musik: Gustav Mahler – Darsteller: Klára Mónus, Katalin Szerb, Zsófia Szerb, Károly Pilát, Milan Encian, János Gémes, Piroska Douglas, Tamás Pap, Rozi Vajda, Anikó Artner, Michéle Luégen, Hosoga Csizürü, Susanne Cubano, Andrea Víg, Tamás Váradi, Melinda Csönge, György Durst, György Orosz, Hermann Erbst, Valéria Varga, Adél Durst, Péter Durst, Zsuzsa Kalocsai, István Lugossy, András Szirtes u. a. – 1987; 100 Minuten

Lenz – Regie: Egon Günther – Darsteller: Jörg Schüttauf, Christian Kuchenbuch, Hans-Otto Reintsch, Anja Kling, Götz Schubert, Suzanne Stoll, Francis Freyburger, Matthias Bundschuh u. a. – 1992; 90 Minuten

Auch Thomas Imbach (*1962) ließ sich von Büchners Erzählung zu einem Film inspirieren, wobei er die Handlung allerdings nach Zermatt und in die Gegenwart verlegte:

Lenz – Regie: Thomas Imbach – Drehbuch: Thomas Imbach, nach der Erzählung „Lenz“ von Georg Büchner – Kamera: Jörg Hassler und Thomas Imbach – Schnitt: Jürg Hassler, Thomas Imbach, Patricia Stotz – Musik: Balz Bachmann, Peter Bräker – Darsteller: Milan Peschel, Barbara Maurer, Barbara Heynen, Noah Gsell – 2006; 95 Minuten

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2007

Jakob Lenz (Kurzbiografie)
Georg Büchner (Kurzbiografie)

Sabrina Janesch - Sibir
Mit poetischen Scharniersätzen wechselt Sabrina Janesch in ihrem autofiktionalen Roman "Sibir" zwischen den zeitlichen Ebenen, den Handlungssträngen und Perspektiven. Obwohl das Fehlen von Zäsuren das Verständnis der Zusammenhänge erschwert, bietet "Sibir" sowohl inhaltlich als auch formal eine gewinnbringende Lektüre.
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