Marcel Beyer : Kaltenburg

Kaltenburg
Kaltenburg Originalausgabe: Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 2008 ISBN 978-3-518-41920-5, 397 Seiten Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt/M 2009 ISBN 978-3-518-46103-7, 397 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der Ich-Erzähler Hermann Funk erinnert sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts in Dresden an frühere Erlebnisse und vor allem an seine Zeit mit dem Zoologen Ludwig Kaltenburg. Von manchen Zusammenhängen weiß er nichts mehr, einige Fehlinterpretationen bestimmter Ereignisse korrigiert er, und es bleiben Unsicherheiten: Die Vergangenheit lässt sich nicht lückenlos rekonstruieren ...
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Kritik

Marcel Beyer verzichtet in seinem Roman "Kaltenburg" weitgehend auf dramatische Zuspitzungen, begnügt sich vielfach mit Andeutungen und schildert die Figuren und das Geschehen mitunter wie im Nebel beobachtet.
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Zur Vorbereitung auf einen Termin mit einem Gast aus England, der sich für Vögel interessiert, konsultiert die Dolmetscherin Katharina Fischer in Dresden den Zoologen Hermann Funk. Der zeigt ihr in der Ornithologischen Sammlung Vogelbälge und nennt ihr die Namen der Vogelarten. Auch als der Engländer wieder abgereist ist, trifft sich Katharina Fischer mehrmals mit Hermann Funk, der ihr aus seinem Leben erzählt.

Im Kindesalter war Hermann Funk in Panik geraten, als ein Jungvogel sich in den Salon seines Elternhauses in Posen verflogen hatte. Später bildete er sich ein, es sei ein Mauersegler gewesen, aber aufgrund seiner ornithologischen Kenntnisse hält er dies inzwischen längst für unwahrscheinlich. Jedenfalls war er durch das Erlebnis so traumatisiert, dass seine Eltern sich Sorgen um ihn machten und versuchten, ihm die Welt der Vögel näherzubringen. Während des Krieges luden sie den Biologiestudenten Knut Sieverding und dessen vier Jahre jüngeren Freund Martin Spengler ein, der sich ebenfalls für Vögel begeisterte. Die beiden jungen Männer waren damals zusammen an der Luftwaffenschule in Posen.

Im Spätherbst oder Frühwinter 1942 begegnete Hermann Funk erstmals Ludwig Kaltenburg, einem damals neununddreißigjährigen Zoologie-Professor aus Königsberg, der auch an einer Nervenklinik in Posen zu tun hatte. Er beschäftige sich mit psychisch kranken Menschen, erklärte Frau Funk ihrem Sohn. Kaltenburg kam von da an häufig zu Besuch. Er fachsimpelte mit Herrn Funk, der in Posen Botanik lehrte und zeigte ein besonderes Interesse an Hermann. Dass Funk in seinem Gewächshaus verletzte Vögel aufzupäppeln versuchte, hielt Kaltenburg für falsch, denn er befürchtete, dass Hermann dadurch verweichlicht werden könne. Als Funk und Kaltenburg sich 1943 – vielleicht war es auch erst 1944 – plötzlich überwarfen, kannte Hermann den Grund nicht, aber seine Mutter erklärte ihm, Kaltenburg habe sich zu sehr in seine Erziehung eingemischt.

Was aus Maria wurde, seinem Kindermädchen, weiß Hermann Funk nicht. Während er noch geschlafen hatte, war sie plötzlich fort gewesen. War sie aufgefordert worden, sich an einem Sammelplatz für Juden einzufinden [Holocaust]? Hatte sie Hermanns Eltern nicht in Schwierigkeiten bringen wollen? War sie zu ihrer Familie zurückgekehrt oder hatte sie eine andere Stelle angetreten?

Auf der Flucht vor der Roten Armee kamen die Funks Anfang 1945 mit ihrem Sohn nach Dresden. Der Botanik-Professor wollte sich dort mit Kollegen treffen und dann mit seiner Familie weiterreisen. Am 13./14. Februar erlebte sein damals elfjähriger Sohn, wie verbrannte Vögel vom Himmel fielen und es überall nach verbranntem Fleisch roch. Schließlich gehörte er zu einer Gruppe verstörter Überlebender, die zusammen mit ein paar Affen aus dem Zoo erstarrt am Rand des Großen Gartens standen, bis sie anfingen, unter den herumliegenden Leichen nach Angehörigen zu suchen.

Von seinen Eltern fand Hermann Funk nach der Bombardierung Dresdens nie mehr eine Spur. Der Waisenknabe wuchs bei Pflegeeltern auf, ohne zu ihnen oder ihren Kindern Herta, Gerlinde und Hans-Georg eine engere Beziehung zu entwickeln.

Nach dem Krieg erhielt Professor Ludwig Kaltenburg einen Ruf nach Leipzig und das Angebot, in Dresden-Loschwitz ein ornithologisches Institut ganz nach seinen Vorstellungen aufzubauen. Er verschaffte Hermann Funk einen Studienplatz am Zoologischen Institut in Leipzig, schärfte ihm jedoch ein: „Wir müssen uns benehmen, als ob wir Fremde wären.“ (Seite 299)

In einer Vorlesung erlebte Hermann Funk, wie Kaltenburg durch eine Frage aus dem Auditorium in Verlegenheit gebracht wurde. Bei dem Fragesteller handelte es sich um Martin Spengler. Er war im Krieg mit dem Flugzeug über der Krim abgestürzt und von Tataren gerettet worden. Obwohl er sich nicht für das Thema der Vorlesung interessierte – Martin Spengler hatte inzwischen eine vielversprechende Karriere als Künstler angefangen –, war er mit dem Vorsatz gekommen, Kaltenburg zu provozieren. Auf diese Weise wollte er sich dafür rächen, dass sich der Zoologie-Professor damals in Posen an Maria herangemacht hatte, das von ihm umschwärmte Kindermädchen Hermann Funks. Jedenfalls glaubte Martin Spengler, das sei der Grund für das Zerwürfnis zwischen den Professoren Funk und Kaltenburg gewesen.

Durch Martin Spengler, der inzwischen mit Ulrike („Ulli“) Hagemann befreundet war, lernte Hermann Funk deren zwei Jahre jüngere Schwester Klara und die Eltern der beiden Mädchen kennen. Klara – die viel Proust („Eine Liebe Swanns“) las und den Raum verließ, wenn andere über die Vergangenheit redeten – wurde einige Zeit später seine Ehefrau.

Am 6. März 1953 brachte Hermann Funk erstmals Kaltenburg mit zu den Hagemanns. Die Nachricht vom Tod Stalins am Vortag brachte Kaltenburg zum Reden: Er erinnerte sich an die russische Gefangenschaft: Er war in verschiedenen Lagern als Lazarettarzt tätig gewesen, und überall hatte Stalins Porträt an der Wand gehängt. Kaltenburg, der sich sonst nur für Vögel interessierte, redete erstmals einen ganzen Abend lang von Menschen. Es handelte sich um eine Zäsur.

In der zweiten Hälfte der Fünfzigerjahre gelang es Kaltenburg, Knut Sieverding nach Dresden-Loschwitz zu holen, und der Biologe, der sich inzwischen einen Namen als Tierfilmer gemacht hatte, überredete Martin Spengler, seinem Beispiel zu folgen und in Kaltenburgs Institut Vögel zu zeichnen bzw. zu malen.

Doch als Martin Spengler eines Tages im Lodenmantel ins Institut kam – was strikt verboten war, weil Kaltenburg Loden mit Jägern assoziierte – und von einem Kolkraben attackiert wurde, erteilte ihm der Institutsleiter Hausverbot.

Kaltenburg hielt seinen sieben Jahre jüngeren Leipziger Mitarbeiter Eberhard Matzke für einen Konkurrenten. Matzke, von dem Hermann Funk später erfuhr, dass er der SS angehört hatte, wurde schließlich Direktor der Zoologischen Forschungsstelle in Westberlin. Im Winter 1961/62 schickte Kaltenburg Hermann Funk heimlich mit einem Friedensangebot zu Eberhard Matzke, aber der ging nicht darauf ein.

Etwa zur gleichen Zeit wurde Kaltenburgs Dohlenschar vergiftet. Weil die Vögel nicht gelernt hatten, vor Feinden zu fliehen, war Kaltenburg jeden Abend aufs Hausdach geklettert, um sie anzulocken und über Nacht in einem Käfig in Sicherheit zu bringen. Wer die Dohlen vergiftete, weiß Hermann Funk bis heute nicht. Vielleicht war es Krause, Kaltenburgs Chauffeur, der sich von dem Zoologen missachtet gefühlt hatte.

Kurz darauf setzte Kaltenburg sich in den Westen ab und ging in seine Geburtsstadt Wien zurück.

1964 veröffentlichte er ein Buch mit dem Titel „Urformen der Angst“, in dem er seine in der Ethologie gewonnenen Erkenntnisse auf den Menschen übertrug. Im letzten Kapitel („Ausblick: Die namenlose Angst“) schilderte er, wie ein elfjähriger Junge die Luftangriffe auf Dresden am 13./14. Februar 1945 erlebte, nannte aber keinen Namen und führte auch keine Quelle an.

Einen Skandal löste Ludwig Kaltenburg einige Jahre später mit einem Pamphlet aus, das eigentlich „Die fünf apokalyptischen Reiter“ betitelt war, das jedoch meistens als „Kaltenburgs Gaskammerbuch“ bezeichnet wurde, weil es darin unter anderem hieß, es sei inzwischen nahezu unmöglich, vom unterschiedlichen Wert unterschiedlicher Menschen zu sprechen, ohne beschuldigt zu werden, man wolle neue Gaskammern einrichten [Holocaust]. Kaltenburg versicherte Hermann Funk, der Satz stamme nicht von ihm, sondern sei während der Schlussredaktion ins Manuskript geschmuggelt worden.

Es verbreitete sich das Gerücht, Kaltenburg habe unmittelbar nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 die Mitgliedschaft in der NSDAP beantragt, dies jedoch seither verschwiegen. Kaltenburg, der sich über das Gerücht ärgerte, rief im November 1973 Hermann Funk aus London an, beteuerte, nie ein Nationalsozialist gewesen zu sein und behauptete, sein alter Widersacher Eberhard Matzke habe das Gerücht lanciert.

Hermann Funk ahnte, dass Kaltenburg log und fand dafür auch ein Indiz: Der Zoologe hatte angegeben, im Sommer 1942 in russische Kriegsgefangenschaft geraten zu sein. Das konnte nicht stimmen, denn Funk erinnerte sich, dass er ihn erst im Spätsommer oder Frühwinter 1942 in Posen kennen gelernt hatte. Im Nachhinein begriff Hermann Funk, dass Kaltenburg seinen Vater über die Parteimitgliedschaft belogen hatte und es zum Zerwürfnis gekommen war, als sein Vater die Wahrheit herausgefunden hatte.

Ludwig Kaltenburg starb im Februar 1989 in Wien im Alter von fünfundachtzig Jahren.

Die Villa des ehemaligen Institutsgebäudes in Dresden-Loschwitz wurde Mitte der Neunzigerjahre renoviert und wieder zu einem Wohngebäude umfunktioniert.

Hermann Funk, der seit 1990 oder 1991 nicht mehr dort war, zeigt Katharina Fischer das Anwesen von außen. Sie will klingeln, um auch das Innere besichtigen zu können, aber er hält sie davon ab.

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Als Zoologe, darauf hat Ludwig Kaltenburg zeitlebens besonderen Wert gelegt, muss man die Fähigkeit zur rückblickenden Selbstbeobachtung aufbringen, muss in der Lage sein, Fehlschlüsse der Vergangenheit zu korrigieren. (Seite 295)

Dieser Satz könnte Marcel Beyer seinem Roman „Kaltenburg“ als Motto vorangestellt haben. Untergründig und geheimnisvoll, resignierend und unpathetisch – „gleichsam ermüdet von den Schrecken des 20. Jahrhunderts“ (Katrin Hillgruber, Frankfurter Rundschau, 10. März 2008) erinnert der Ich-Erzähler sich an Erlebnisse in der Zeit von den Dreißiger- bis zu den Neunzigerjahren. Von manchen Zusammenhängen weiß er nichts mehr, einige Fehlinterpretationen bestimmter Ereignisse korrigiert er, und es bleiben Unsicherheiten: Die Vergangenheit lässt sich nicht lückenlos rekonstruieren.

Eins spiegelt sich im anderen, aber dem Ganzen scheint man kaum trauen zu können. (Jens Bisky, Süddeutsche Zeitung, 11. März 2008)

Den Hintergrund dieser persönlichen Erlebnisse bildet die Zeitgeschichte: NS-Regime, Holocaust, Verwüstung Dresdens im Februar 1945, Hetzkampagne und Prozess gegen Philipp Auerbach (1951/52), Schauprozess gegen Rudolf Slánský im November 1952 in Prag, Moskauer Ärzteprozess 1953, Stalins Tod am 5. März 1953, Bau der Berliner Mauer, Wiedervereinigung. Zu diesem Hintergrund gehört auch das Zusammenbrechen staatlicher Systeme, die auf Angst basierten: NS-Regime, Stalinismus, DDR.

In Beyers Romanen ist Geschichte nicht die Zierde für einen Plot, sondern intensiv recherchierter, leichthändig und glaubhaft erzählter Stoff, in den sich die Lebensläufe wie selbstverständlich einfügen. (Christoph Schröder, TAZ, 12. März 2008)

Besonders leicht macht Marcel Beyer es dem Leser nicht, denn er entwickelt die Handlung nicht chronologisch, sondern lässt Hermann Funk assoziativ erzählen, er verzichtet weitgehend auf dramatische Zuspitzungen, begnügt sich vielfach mit Andeutungen und schildert die Figuren und das Geschehen mitunter wie im Nebel beobachtet.

„Kaltenburg“ fehlt die kriminalistische Spannung von „Flughunde“ oder Beyers letztem Roman „Spione“ (2000). Allzu massiv wird in den Erinnerungsdiskurs dieser programmatischen Dresden-Hommage gegen Ende Marcel Prousts „mémoire involontaire“ als Gegenmodell zur Lorenz’schen Prägung eingeführt. (Katrin Hillgruber, a. a. O.)

[…] ein stofflich ehrgeiziges, sprachlich reizarmes Konstrukt, das durch allzu viele farblose Nebenfiguren und Begebenheiten, durch ein Übermaß an ornithologischem Fachwissen, verhaltenspsychologischen Anspielungen und zeitgeschichtlichen Bezügen zur Geduldsprobe wird. Für eine Liebesgeschichte etwa muss die blasseste Andeutung genügen, das Präparieren von Vogelkadavern dagegen wird bis ins kleinste Detail erläutert. Das mag dem biologistischen Geist, der das Romanmilieu durchweht, und den diversen seelischen Defiziten des Personals entsprechen, aber den Leser lässt das alles fatalerweise so kalt, wie es der Name des Titelhelden suggeriert.
(Kristina Maidt-Zinke, Die Zeit, 13. März 2008)

Die Titelfigur, der Zoologe Professor Ludwig Kaltenburg, weist unverkennbar Übereinstimmungen mit Konrad Lorenz auf: 1903 in Wien geboren, Verhaltensforscher, NSDAP-Mitgliedschaft, Professur in Königsberg, Studien als Psychiater in Posen, russische Kriegsgefangenschaft, 1989 in Wien gestorben. Das von Konrad Lorenz nach dem Krieg gegründete Institut befand sich allerdings nicht in Dresden, sondern in Altenberg bei Wien. – Bei Martin Spengler denken wir an Joseph Beuys (1921 – 1986), der am 16. März 1944 als Bordschütze mit einem Stuka über der Krim abgestürzt und von Tataren gerettet worden war. Joseph Beuys – später einer der bedeutendsten Künstler Deutschlands – war an der Luftnachrichtenschule in Posen Rekrut des Ausbilders Heinz Sielmann (1917 – 2006) gewesen, und die beiden hatten sich befreundet. Wie die Romanfigur Kurt Sieverding studierte Heinz Sielmann in Posen Biologie und Zoologie und machte sich dann vor allem als Tierfilmer einen Namen.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2008
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

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Paradies verloren