Sibylle Berg : Der Mann schläft

Der Mann schläft
Der Mann schläft Originalausgabe: Carl Hanser Verlag, München 2009 ISBN: 978-3-446-23388-1, 309 Seiten dtv, München 2011 ISBN 978-3-423-14002-7, 309 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die Ich-Erzählerin hält das Dasein für sinnlos und die Menschheit für erbärmlich. Die kapitalistische Konsumgesellschaft widert sie an. Andererseits findet sie ihre Einsamkeit bedrückend, und es graut ihr vor dem Älterwerden. Bis zum Klimakterium bleiben ihre Versuche, "Teil eines Paares zu werden" theoretisch. Dann begegnet sie einem Mann, den sie liebt, weil er sie liebt. Von Anfang an befürchtet sie, das Glück nicht festhalten zu können ...
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Kritik

Der Roman "Der Mann schläft" von Sibylle Berg besticht durch einen ungewöhnlichen Aufbau, und es funkelt von pointierten Formulierungen, die das Lesen zu einem besonderen Vergnügen machen.
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Die Ich-Erzählerin, deren Namen wir nicht erfahren, wuchs bei ihrer geschiedenen Mutter auf. Weil sie es nicht ertragen würde, in einem Büro den Launen eines Vorgesetzten ausgeliefert zu sein, übersetzt sie seit zwanzig Jahren Gebrauchsanweisungen.

Ich war froh, dass ich nicht dem Zwang unterlag, einem Bild entsprechen zu müssen, das ich mir von mir gemacht hatte. (Seite 10)

Sie ist misanthropisch und von der Sinnlosigkeit des Lebens überzeugt. Sektenanhänger, Scientologen, reformierte Christen hält sie für „arme suchende Deppen, die sich ihre Unfähigkeit, selber auf eine befriedigende Lösung im Leben zu kommen, nicht eingestehen können“ (Seite 204f).

Emotionale Krüppel in abstoßenden Hüllen, der Welt, dem Rudel, dem Wetter, den Gewalten hilflos ausgeliefert, torkeln wir durch ein Dasein, das an Lächerlichkeit nicht zu überbieten ist. All unsere ernsthaften Versuche, die Welt zu verstehen, charakterlich integre Personen zu werden, Besitz anzuhäufen, die Umwelt zu retten, Doktortitel zu erwerben, enden mit verschissenen Windeln im Altersheim. (Seite 63)

Liebe hält sie bloß für ein Instrument der Waschmittelwerbung, und sie vermag nur unzulänglich zwischen Sex und Liebe zu unterscheiden.

Dem ungeheuren Theater, das uns allen ständig als Gradmesser der eigenen Gefühle vorgeführt wird, misstraute ich bereits nach dem Ende der Pubertät. (Seite 66)

Ihre Versuche, „Teil eines Paares zu werden“ bleiben theoretisch.

Die zwischenmenschliche Bilanz meines Lebens war erschütternd. (Seite 42)

Je älter sie wird, desto verzweifelter sind ihre amourösen Abenteuer mit jüngeren Männern.

Sicher konnte man es Resignation nennen, nicht mehr auf ein Wunder zu warten, doch für mich hatte Hoffen immer Ohnmacht bedeutet. (Seite 12)

Eines Tages sitzt sie mit zwei schwulen Bekannten in einem Restaurant, als sich ein ebenso großer wie korpulenter Mann auf die rote Bank neben ihr drängt. Er kam mit zwei Damen, beteiligt sich jedoch nicht an deren Unterhaltung. Unvermittelt fangen die Erzählerin und der Mann miteinander zu reden an. Schließlich stehen sie auf und verlassen das Restaurant, ohne auf die anderen am Tisch zu achten.

Der Mann – auch hier kein Name – ist in der Holz verarbeitenden Industrie beschäftigt und aus beruflichen Gründen in der deutschen Stadt, in der die Erzählerin seit einigen Jahren lebt. Er stammt aus einem Dorf im Osten. Als er fünf Jahre alt war, setzte seine Mutter sich in den Westen ab. Der Vater starb später an einer Leberzirrhose.

Ich, die ich erfreulich wenige Menschen kannte, war noch nie jemandem begegnet, der der Welt so wohltemperiert begegnete wie der Mann, wahrscheinlich weil er nicht übermäßig an Wertungen interessiert und frei von Projektionen schien. Unklar, ob er schlichten Gemütes war oder ob seiner Unfähigkeit, sich zu erregen, ein buddhistisches Prinzip innewohnte. (Seite 96f)

Außer dass er mir das Gefühl gab, ich sei liebenswert, tat er sich in keinem Bereich mit Glanzleistungen hervor. (Seite 9)

Der 110 Kilogramm schwere, unattraktive Mann bleibt einige Zeit bei ihr, muss dann aber wieder zurück in den Tessin. Die Erzählerin hält es nicht lange ohne ihn aus: Sie reist ihm nach – und sie werden ein Paar. Die Frau kann es kaum fassen. Von Anfang an ist es keine körperliche Leidenschaft, die sie mit ihm verbindet, sondern das Glück der Zweisamkeit. Sie liebt ihn, weil er sie liebt.

In der Nacht wachte ich immer wieder auf und überprüfte, ob der Mann noch atmete. (Seite 135)

Wenn ich aufwachte, fasste ich immer als Erstes nach jener Seite des Bettes, auf welcher der Mann schlief. Falls er da schlief. Denn zwanghaft musste ich mich jeden Tag seiner Anwesenheit versichern, es galt zu überprüfen, ob er atmete und ich nicht nur geträumt hatte. (Seite 163)

Sie richtet sein Haus neu ein.

Gut drei Jahre später bucht sie einen vierwöchigen Urlaub auf einer zu Hongkong gehörenden Insel.

Die beiden landen in Hongkong.

Wir glitten in ein perfektes Menschenverstauungssystem, da waren die Bahn, die Fähre, Wegweiser, Bahnhöfe, Trams, Boote – alles griff geschmeidig ineinander, der Traum eines perfekten Beförderungssystems. (Seite 238)

Ein Boot bringt sie zu der Insel.

In der ersten Zeit besichtigen sie die Sehenswürdigkeiten, dann ermüden sie, und die Stimmung verschlechtert sich.

Ich war eindeutig schlechter Laune, und wie immer, wenn ich schlechter Laune war, stand der Mann hilflos vor mir, die komplizierten Vorgänge in meinem chemischen Haushalt nur unzureichend nachvollziehen könnend. (Seite 261)

Er werde mit der Fähre in die Stadt Hongkong hinüberfahren, sagt er, Zeitungen für sie besorgen und „ein bisschen ehrliches Brot“ (Seite 261) mitbringen.

„Ich bin in zwei oder drei Stunden wieder da.“ (Seite 262)

Sie nickt ein. Als sie aufwacht, ist der Mann seit vier Stunden fort, und sie gerät in Panik. Aufgeregt fährt sie nach Hongkong und sucht nach dem Mann, bis eine Chinesin die hysterisch Schluchzende zum nächsten Polizeirevier bringt. Die höflichen Beamten erkundigen sich bei anderen Dienststellen und in Krankenhäusern nach einem Ausländer, auf den die Beschreibung passt, aber die Nachforschungen bleiben ergebnislos. Die Frau gibt eine Vermisstenanzeige auf und fragt zwei Wochen lang in allen Krankhäusern der Stadt nach dem Mann.

Alles kann dir genommen werden, dauernd. Wenn du vergisst, dass Leben Demütigung heißt, gerade dann kommt es und schlägt zu, der Tod, das Schicksal, Gott, das Böse, in unglaublicher Gleichgültigkeit überrollt es deinen Mann mit der Tram, lässt es dein Kind an einem kleinen miesen Bakterium verrecken. (Seite 152)

Auf der Insel begegnet sie einem etwa zehn Jahre alten chinesischen Mädchen, das auf einer Anlagenbank sitzt und weint. Vorsichtig nähert sie sich dem Kind. Kim, so heißt die Kleine, bedauert es sehr, eine Erwachsene, noch dazu eine Touristin, in die peinliche Lage gebracht zu haben. Sie vermisse ihre Mutter, schluchzt Kim und lässt sich von der Frau zum Haus ihres Großvaters bringen, bei dem sie jetzt wohnt. Kim fasst Vertrauen zu der Frau und trifft sich häufiger mit ihr. Bei ihrem ersten Besuch räumt sie die seit dem Verschwinden des Mannes verwahrloste Ferienwohnung der Touristin auf.

Kims verwitweter Großvater, der als Masseur arbeitet, zeigt der Erzählerin ein leer stehendes Zimmer in seinem Haus und lädt sie ein, es zu benutzen. Das sei gut für Kim, meint er. Die Frau folgt der Einladung und zieht zu dem Masseur und seiner Enkelin. Der Chinese blickt immer wieder durchs Fenster zum Grab seiner Frau im Garten hinaus. Seit ihrem Tod schneidet er sich jeden Tag neu ins Bein. Er zeigt seinem Gast die parallelen Narben und Wunden.

Die Frau beginnt zu trinken [Alkoholkrankheit]. Nur so erträgt sie die Einsamkeit. Betrunken setzt sie sich zu einer Gruppe von Bankern.

Erstaunlich glatte, durchtrainierte Herren schauen mich mit einer Art spöttischer Herablassung an, und ich studiere sie, durch eine Wand von Übelkeit. Absolut glatte Arschgesichter, deren Leben ihnen gnädigerweise nicht eine Sekunde des Innehaltens und inneren Betrachtens gestattet. (Seite 236)

Es fällt ihr schwer, die Alkoholkonzentration im Blut auf ein Optimum einzustellen.

Als Anfänger in dem Geschäft erwische ich entweder zu viel und muss mich übergeben oder zu wenig und sehe klar. Den Zustand freundlich gelaunter Umnachtung zu halten ein Unterfangen, das nicht zu den einfachsten zählt. (Seite 242)

Betrunken sein heißt, nicht an Fragen zu verzweifeln, auf die es keine Antwort gibt. (Seite 233)

Der Masseur trinkt mit ihr. Unvermittelt küsst er sie und schlägt ihr vor, es mit ihm zu versuchen.

Ich weiß natürlich, was er meint. Zusammenleben, beobachten, ob wir uns aneinander gewöhnen, uns liebgewinnen, zusammen einschlafen, alt werden, sterben. Das volle Programm. (Seite 264)

Am Strand werden die Leichen des chinesischen Kochs Rob und seines schwulen englischen Lebensgefährten Ben gefunden. Einige Zeit später liest die Erzählerin im Lokalteil einer Zeitung, dass ein ausländisches Paar verhaftet wurde, das die Welt verbessern wollte, indem es vermeintliche Schädlinge der Gesellschaft ermordete.

Sie bemühen, wie alle Machtlosen, die Moral, und deren Zerstörung schreiben sie den üblichen Verdächtigen zu, den Ausländern, Künstlern, Homosexuellen, den Jugendlichen und den Gammlern. (Seite 303)

Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

Eines Morgens sieht sie die einzige Prostituierte der Insel, eine auf den Rollstuhl angewiesene Querschnittgelähmte, im Bett des Masseurs. Sie verlässt das Haus. Kim folgt ihr und erklärt ihr, bei der Hure handele es sich um ihre Mutter. Seit einem Autounfall vor einigen Jahren verdiene die frühere Sekretärin ihr Geld durch Prostitution. Deshalb lebt Kim seit ihrem sechsten Lebensjahr bei ihrem Großvater. Kim bittet die Erzählerin, wieder mit ihr nach Hause zu kommen.

Die Frau beschließt resignierend, ihr weiteres Leben mit Kim und deren Großvater zu verbringen.

Ich würde alt werden und still, ich würde Tee trinken und aus dem Fenster sehen. Mein Leben würde ebenso ereignislos und unwichtig verstreichen wie das Milliarden anderer, nur würde ich darum wissen. Ich würde mich irgendwann damit trösten, dass ich wenigstens für vier Jahre erfahren hatte, wie es anders sein konnte. (Seite 307)

Bevor sie dem Masseur und seiner Enkelin ihren Entschluss mitteilt, setzt sie sich am Abend noch einmal an den Kai und sieht zu, wie die Fähre in den Hafen einläuft. Zwischen den Chinesen, die von der Arbeit nach Hause kommen, glaubt sie einen großen, korpulenten Mann zu sehen.

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In dem Roman „Der Mann schläft“ lässt Sibylle Berg eine Frau Anfang vierzig erzählen. Die Protagonistin hält das Dasein für sinnlos und die Menschheit für erbärmlich. Die kapitalistische Konsumgesellschaft widert sie an, und das leere Geschwätz langweilt sie. Andererseits findet sie ihre Einsamkeit bedrückend, und es graut ihr vor dem Älterwerden. Im Klimakterium gelingt es ihr endlich, „Teil eines Paares“ zu werden, aber sie befürchtet von Anfang an, das Glück nicht festhalten zu können.

Obwohl es sich bei „Der Mann schläft“ um eine realistische Geschichte handelt, gibt es auch absurde Episoden. Da erklärt die Protagonistin beispielsweise einer Bekannten, dass sie ihr lästig sei, und die frustrierte Frau hackt sich daraufhin eine Hand ab.

Sibylle Berg gibt weder der Protagonistin noch dem Mann, mit dem diese vier Jahre lang zusammenlebt, einen Namen. Die melancholische, aber auch sarkastische Ich-Erzählerin entwickelt die Geschichte in zwei Strängen, zwischen denen sie kapitelweise wechselt. Der eine Erzählstrang beginnt vor vier Jahren („Ehe alles begann. Damals. Vor vier Jahren.“) Der andere setzt in der letzten Nacht ein, und „vor einer Stunde“ überschneiden sich die beiden Stränge. Durch den ungewöhnlichen Aufbau des Romans „Der Mann schläft“ werden die Episoden der Liebesgeschichte ständig mit der Situation der inzwischen desillusionierten Erzählerin kontrastiert. Das ist eindrucksvoll.

Nicht jeder Satz ist geglückt, aber in „Der Mann schläft“ funkelt es von pointierten Formulierungen, die das Lesen zu einem besonderen Vergnügen machen, auch wenn sie nicht aus der Schule des positive thinking stammen.

Männer werden Gurus, und Frauen folgen dem Quark. Lassen sich auf Vielweiberei ein, übereignen Gurus ihre Kinder, waschen ihm die Füße, schleppen Geld für ihn an. Seit Jesus nicht viel Neues. (Seite 127)

Es ist normal geworden, keine Wurzeln mehr zu haben. Nicht in Orten, nicht in Familien. Kein Grund, sich zu beklagen. Dafür leben wir heute länger. Wenn auch nicht ganz klar ist, wozu. (Seite 74)

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2010
Textauszüge: © Carl Hanser Verlag

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