Julian Barnes : Der Lärm der Zeit

Der Lärm der Zeit
Originalausgabe: The Noise Of Time Jonathan Cape, London 2016 Der Lärm der Zeit Übersetzung: Gertraude Krueger Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017 ISBN: 978-3-462-04888-9, 245 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

"Der Lärm der Zeit" dreht sich um den russischen Komponisten Schostakowitsch, aber mit dessen Musik setzt sich Julian Barnes nicht auseinander. Stattdessen veranschaulicht er, wie sich Schostakowitsch widerstrebend mit dem sowjetischen Machtapparat arrangiert und sich dabei selbst verachtet. Das Buch dreht sich um das Verhältnis von Tyrannei und Kunst. Nicht zuletzt geht es um die Frage, was Feigheit ist ...
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Kritik

Julian Barnes erzählt in "Der Lärm der Zeit" – einer Mischung aus Romanbiografie und Künstlerroman – aus der subjektiven Perspektive des Protagonisten: Schostakowitsch erinnert sich, denkt nach, und das geschieht selbstverständlich nicht linear-chronologisch.
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Im Alter von 16 Jahren kuriert Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch in einem Sanatorium auf der Krim eine Tuberkulose aus. Dort verliebt er sich in die gleichaltrige Tatjana („Tanja“) Gliwenko, und sie erwidert seine Gefühle, aber nach dem Aufenthalt auf der Krim trennen sich ihre Wege: Tanja kehrt nach Moskau, Dmitri mit seiner Schwester Marusja nach Petrograd zurück.

Mit der 1925 als Diplomarbeit komponierten, am 12. Mai 1926 uraufgeführten 1. Sinfonie in f-Moll schließt Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch nicht nur sein Musikstudium ab, sondern macht sich zugleich weltweit einen Namen. Mischa Kwadri, dem er sie gewidmet hat, wird allerdings als erster seiner Freunde aus politischen Gründen verhaftet und erschossen.

Nachdem Tanja einen älteren Mann geheiratet hat und schwanger geworden ist, verspricht Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch der Physikerin und Fotografin Nina („Nita“) Wassiljewna Warsar die Ehe. Beim ersten Hochzeitstermin läuft er davon, aber bald darauf, im Mai 1932, wird er mit Nina getraut. Später lässt das Ehepaar sich scheiden und heiratet nach sechs Wochen Trennung erneut. Die beiden Kinder, Galina („Galja“) und Maxim, wurden 1936 bzw. 1938 geboren.

Mit großem Erfolg wird am 22. Januar 1934 in Leningrad (so der geänderte Name seiner Geburtsstadt) seine zweite Oper uraufgeführt: „Lady Macbeth von Mzensk“. Im In- und Ausland bewundert man das Werk – bis Stalin mit Molotow, Mikojan und Schdanow am 16. Januar 1936 eine Aufführung im Bolschoi-Theater in Moskau besucht, ungünstig sitzt und die nervösen Musiker zu laut spielen. Stalin verlässt seine Loge vorzeitig, und am 28. Januar veröffentlicht die Prawda einen Leitartikel mit der Schlagzeile „Chaos statt Musik“. Das macht die Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ unaufführbar. Auf der Rückreise von Archangelsk sucht Schostakowitsch deshalb in Moskau Platon Kerschenzew auf, den Vorsitzenden des Komitees für Kulturelle Angelegenheiten. Der rät ihm zur öffentlichen Selbstkritik. Dazu ist er (noch) nicht bereit.

Sie waren entschlossen, die Künste aus dem Würgegriff der Bourgeoisie zu befreien. Darum mussten Arbeiter zu Komponisten ausgebildet werden, und alle Musik musste für die Massen unmittelbar verständlich und erbaulich sein.

Im Frühjahr 1937 wird er ins Große Haus am Liteiny-Prospekt in Leningrad bestellt und von einem Offizier namens Sakrewski verhört. Dabei geht es um eine angebliche Verschwörung seines Förderers Marschall Michail Nikolajewitsch Tuchatschewski. Sakrewski gibt ihm übers Wochenende Zeit, sich auf ein Geständnis vorzubereiten. Als Schostakowitsch am Montag erneut ins Große Haus kommt, erfährt er, dass inzwischen Sakrewski seinerseits abgeführt wurde.

Schostakowitsch kehrt also nach Hause zurück. Weil er jedoch mit seiner Verhaftung durch die Geheimpolizei rechnen muss und nicht möchte, dass seine Frau dadurch aus dem Schlaf aufgeschreckt wird, steht er wochenlang jede Nacht mit einem gepackten Koffer neben dem Aufzug des Mietshauses. Man holt ihn nicht ab, aber Marschall Tuchatschewski wird am 12. Juni 1937 hingerichtet.

Stalin lässt auch den mit Schostakowitsch befreundeten Direktor des Staatlichen Jüdischen Theaters Moskau, Solomon Michailowitsch Michoels, im Januar 1948 durch einen inszenierten Unfall ermorden.

Im Februar 1949 sitzt Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch gerade mit seiner Frau und einem Besucher zusammen, als Stalin persönlich anruft: Der Komponist soll die Sowjetunion auf dem Kultur- und Wissenschaftskongress für den Weltfrieden im März in New York vertreten. Vergeblich sträubt er sich. Stalin kommt ihm entgegen und lässt eine negative Stellungnahme des Zentralkomitees gegen die Musik einiger Komponisten, darunter Schostakowitsch, aufheben.

Im Hotel Waldorf Astoria in New York hält Schostakowitsch die für ihn geschriebenen Reden, in denen beispielsweise die Überlegenheit des sowjetischen Musiklebens behauptet wird. Außerdem distanziert er sich gegen seine persönliche Überzeugung von Igor Strawinsky. Der russisch-stämmige amerikanische Komponist Nicolas Nabokov meldet sich daraufhin zu Wort und bringt Schostakowitsch mit gezielten Fragen dazu, sich nicht nur zu immer extremeren Leitlinien der sowjetischen Politik zu bekennen, sondern auch die gegen seine Musik gerichtete Kritik und das Verbot seiner Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ für richtig zu erklären. Was für eine Demütigung!

Nach Stalins Tod am 5. März 1953 hofft Schostakowitsch auf politisches Tauwetter. Aber der neue Machthaber Nikita Sergejewitsch Chruschtschow hält seine Musik für eine Art Jazz und behauptet, davon Bauchschmerzen zu bekommen. Immerhin braucht Schostakowitsch nicht mehr um sein Leben zu fürchten. Im neuen Regime nimmt man ihm allenfalls Privilegien wie den Wagen mit Chauffeur ab. Die Dichterin Anna Andrejewna Achmatowa bringt es mit dem Aphorismus, die Macht sei vegetarisch geworden, auf den Punkt. Schostakowitsch überarbeitet seine Oper „Lady Macbeth von Mzensk“, aber eine Kommission verwirft auch diese Fassung.

Nina hält sich mit ihrem Geliebten A. in Armenien auf, als sie erkrankt und die Ärzte Krebs im Endstadium diagnostizieren. Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch fliegt mit Galja zu ihr, aber als sie ankommen, ist Nina bereits tot.

Im Juli 1956 heiratet Schostakowitsch die Lehrerin Margarita Andrejewna Kainowa, aber die Ehe scheitert und wird nach drei Jahren geschieden.

Der Parteifunktionär Pjotr Nikolajewitsch Pospelow unterrichtet Schostakowitsch darüber, dass Chruschtschow beschlossen habe, ihn zum Vorsitzenden des Komponistenverbands der RSFSR zu ernennen. Wie bei der Entsendung zum Kongress in New York helfen auch in diesem Fall keine Ausflüchte. Resignierend unterschreibt Schostakowitsch schließlich die vorbereiteten Papiere. In der Zeitung heißt es, er habe um die Aufnahme in die Partei ersucht, und man habe seiner Bitte entsprochen. Unter seinem Namen werden Zeitungsartikel und wissenschaftliche Aufsätze veröffentlicht. So wie er sich in New York gegen Strawinsky wandte und seine eigene Meinung verleugnete, unterschreibt er nun gegen Dissidenten wie Alexander Issajewitsch Solschenizyn und Andrei Dmitrijewitsch Sacharow gerichtete Stellungnahmen. Weil er sich mit der Macht arrangiert, darf eine Neufassung seiner Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ unter dem Titel „Katerina Ismailowa“ aufgeführt werden.

Was konnte man dem Lärm der Zeit entgegensetzen? Nur die Musik, die wir in uns tragen – die Musik unseres Seins –, die von einigen in wirkliche Musik verwandelt wird. Und die sich, wenn sie stark und wahr und rein genug ist, um den Lärm der Zeit zu übertönen, im Laufe der Jahrzehnte in das Flüstern der Geschichte verwandelt.

Im November 1962 heiratet Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch die 27-jährige Verlegerin Irina Antonowna Supinskaja, die ein Jahr älter als seine Tochter Galja ist.

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Man kann „Der Lärm der Zeit“ als Künstlerroman und als Romanbiografie lesen. Im Zentrum steht der russische Komponist Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch, aber mit dessen Musik setzt sich Julian Barnes nicht auseinander. Stattdessen veranschaulicht er, wie sich Schostakowitsch widerstrebend mit dem Machtapparat arrangiert und sich dabei selbst verachtet. Das Buch dreht sich um das Verhältnis von Tyrannei und Kunst. Nicht zuletzt geht es um die Frage, was Feigheit ist.

Julian Barnes umrahmt die Geschichte mit einer Szene „mitten im Krieg auf einem Bahnsteig“, zwei Reisetage östlich von Moskau. Ein Bettler ohne Beine nähert sich dem eingefahrenen Zug auf einem Brett mit Holzrollen. Eifrig sammelt er die ihm zugeworfenen Münzen ein. Schostakowitsch und sein Begleiter steigen mit einer Flasche Wodka aus, schenken drei Gläser voll und stoßen mit dem Kriegskrüppel an.

Und als die drei Gläser mit ihrer unterschiedlich hohen Füllung in gemeinsamem Klirren aneinanderstießen, lächelte er [Schostakowitsch], neigte den Kopf zur Seite, sodass kurz das Sonnenlicht in seiner Brille aufblitzte, und murmelte:
„Ein Dreiklang.“
Und das war es, woran sich der, der sich erinnerte, erinnerte. Angst, Armut, Typhus und Schmutz, aber mittendrin, darüber und darunter und durch alles hindurch hatte Dmitri Dmitrijewitsch einen perfekten Dreiklang gehört. […] ein Geräusch, das vom Lärm der Zeit rein war und alle und alles überdauern würde. Und vielleicht kam es am Ende nur darauf an.

Julian Barnes erzählt in „Der Lärm der Zeit“ aus der subjektiven Perspektive des Protagonisten Schostakowitsch, aber nicht in der ersten, sondern in der dritten Person Singular. Schostakowitsch erinnert sich, denkt nach, und das geschieht selbstverständlich nicht linear-chronologisch, sondern in assoziativ verknüpften Episoden mit manchen Wiederholungen.

Als Hauptquellen nennt Julian Barnes zwei Bücher: „Shostakovich. A Life Rememered“ (1994) von Elizabeth Wilson und „The Memoirs of Shostakovich“ (1979) von Solomon Volkov.

Den Roman „Der Lärm der Zeit“ von Julian Barnes gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Frank Arnold (ISBN 978-3-8398-1531-1).

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2017
Textauszüge: © Verlag Kiepenheuer & Witsch

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