Julian Barnes : Lebensstufen

Lebensstufen
Manuskript: 2012 Originalausgabe: Levels of Life, 2013 Lebensstufen Übersetzung: Gertraude Krueger Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015 ISBN: 978-3-462-047271, 143 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

In den ersten beiden Kapiteln erzählt Julian Barnes von Ereignissen aus der Geschichte der Ballonfahrt und einer fiktiven Liebesaffäre Sarah Bernhardts mit dem britischen Offizier Frederick Burnaby. Erst im dritten und letzten Kapitel wechselt er vom neutralen Berichterstatter zum Ich-Erzähler und greift sein eigentliches Thema auf: Die Auseinandersetzung mit dem Verlust seiner Ehefrau Pat Kavanagh. Der Kreis schließt sich, wenn er die Wagnisse der Ballonfahrer mit den Risiken menschlicher Beziehung vergleicht ...
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Kritik

Trotz der eingezogenen Quer­verweise wirkt "Lebensstufen" heterogen. Um die literarische Einordnung macht Julian Barnes sich keine Gedanken: "Lebensstufen" passt in keine Schublade, man kann das Buch als Kurzroman, Sachbuch, Essay oder Erfahrungsbericht lesen.
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Die Sünde der Höhe

Ballonfahren stand für Freiheit – doch diese Freiheit war der Macht von Wind und Wetter unterworfen.

Nadar (eigentlich: Gaspard-Félix Tournachon, 1820 – 1910) war ein französischer Journalist, Karikaturist, Fotograf, Ballonfahrer, Erfinder und Unternehmer. Sein Medizin-Studium hatte er abgebrochen. 1854 heiratet er Ernestine, eine 18-jährige Protestantin aus der Normandie, und eröffnete in seiner Heimatstadt Paris ein Fotoatalier. Im Herbst 1858 versuchte er bei Petit-Bicêtre südwestlich von Paris erste Luftaufnahmen aus einem Fesselballon zu machen, und am 23. Oktober 1858 meldete Nadar ein „neues System der aerostatischen Fotografie“ als Patent an.

Ernestine war bei ihm, als er am 18. Oktober 1863 in Paris mit dem riesigen Heißluftballon „Le Géant“ aufstieg und 17 Stunden später in der Nähe von Hannover abstürzte. Sie überlebten beide ebenso wie die übrigen Ballonfahrer mit Knochenbrüchen und anderen Verletzungen.

Als Ernestine 1887 von einem Brand in der Opéra Comique in Paris erfuhr und ihren 31 Jahre alten Sohn Paul dort wähnte, erlitt sie einen Schlaganfall, von dem sie sich bis zu ihrem Tod im Jahr 1909 nicht mehr ganz erholte. Nadar folgte ihr im Jahr darauf ins Grab.

Auf ebenen Bahnen

Der französische Physiker und Luftfahrtpionier Jean-François Pilâtre de Rozier (1754 – 1785) glaubte, mit einer Kombination aus einem Wasserstoffballon für den Auftrieb und darunter einem Heißluftballon für die Steuerung den Ärmelkanal überqueren zu können. Am 15. Juni 1785 startete er in Boulogne-sur-Mer südwestlich von Calais. Aber in 900 Metern Höhe fing der Gasballon Feuer. Jean-François Pilâtre de Rozier und sein Mitfahrer Pierre Romain kamen bei dem Absturz ums Leben.

Die berühmte Schauspielerin Sarah Bernhardt (1844 – 1923) ließ sich immer wieder zunächst von Nadar, dann von dessen Sohn Paul fotografieren. 1878 machte sie eine Ballonfahrt von Paris nach Émerainville mit.

Ein paar Jahre zuvor hatte sie eine dreimonatige Liebesaffäre mit Colonel Frederick Gustavus Burnaby (1842 – 1885) von den Royal Horse Guards. Er machte ihr einen Heiratsantrag, aber sie wies ihn mit der Erklärung ab, niemals eine Ehe schließen zu wollen. Danach mied Fred Burnaby die Schauspielerin.

1879 heiratete der 37-Jährige Elizabeth Hawkins-Whitshed, die 18-jährige Tochter eines irischen Baronets.

Obwohl der inzwischen zum Oberstleutnant beförderte Fred Burnaby überzeugt war, dass die Zukunft der Luftfahrt den Schwerer-als-Luft-Maschinen gehören würde, stieg er am 23. März 1882 in Dover mit einem Ballon auf, überquerte den Ärmelkanal und landete zwischen Dieppe und Neufchâtel-en-Bray.

Eineinhalb Wochen später, am 4. April 1882, heiratete Sarah Bernhardt den Griechen Aristides Damal.

Während des Mahdi-Aufstands im Sudan schloss Fred Burnaby sich 1884 ohne Freistellung von seiner Einheit der Gordon Relief Expedition an. In der Schlacht von Abu Klea wurde er am 17. Januar 1885 von einem Speer in den Nacken getroffen und getötet.

Der Verlust der Tiefe

Man bringt zwei Menschen zusammen, die vorher nicht zusammengebracht wurden; und manchmal hat die Welt sich verändert, manchmal auch nicht. Sie können abstürzen und verbrennen oder verbrennen und abstürzen. Aber manchmal entsteht etwas Neues, und dann hat die Welt sich verändert.

Man bringt zwei Menschen zusammen, die vorher nicht zusammengebracht wurden. Manchmal ist das wie jener erste Versuch, einen Wasserstoffballon an einen Heißluftballon zu koppeln: Man hat die Wahl zwischen abstürzen und verbrennen oder verbrennen und abstürzen. Aber manchmal funktioniert es, und etwas Neues entsteht, und die Welt hat sich verändert. Dann wird irgendwann, früher oder später, aus dem einen oder anderen Grund, einer von beiden weggenommen. Und was weggenommen wurde, ist größer als die Summe dessen, was vorher da gewesen war. Mathematisch mag das nicht möglich sein, aber emotional ist es möglich.

Im September 2008 wurde bei Julian Barnes‘ 68-jähriger Ehefrau Patricia („Pat“) Olive Kavanagh ein Hirntumor diagnostiziert. 37 Tage später, am 20. Oktober 2008, starb sie.

Der Witwer erinnert sich:

Wenn ich abends aus dem Krankenhaus kam, ertappte ich mich meist dabei, dass ich voller Groll auf die Leute starrte, die nach Feierabend einfach nur mit dem Bus nach Hause fuhren.

Bei der Beerdigung liest Julian Barnes eine Passage aus seinem Roman „Flauberts Papagei“ vor:

Wenn sie stirbt, ist man zunächst nicht überrascht. Auf den Tod gefasst zu sein, gehört bei der Liebe mit dazu. […]
Danach kommt das Verrücktsein. Und dann das Alleinsein: nicht die spektakuläre Einsamkeit, die man vorausgeahnt hatte, nicht das interessante Martyrium der Witwerschaft, sondern einfach nur das Alleinsein. Man erwartet etwas beinahe Geologisches – Schwindelanfälle in einem jäh abfallenden Canyon –, aber so ist es nicht; es ist einfach nur elend, so alltäglich wie der Beruf … [Die Leute sagen] du wirst drüber wegkommen. … Und es stimmt, man kommt drüber hinweg … Aber man kommt nicht so drüber hinweg wie ein Zug über die Downs: raus aus dem Tunnel, hinein in den Sonnenschein und rasch hinabgerattert zum Ärmelkanal; man kommt heraus wie eine Möwe aus einer Öllache. Man ist geteert und gefedert fürs Leben.

Der Witwer ärgert sich über Freunde.

Wegen ihrer Unfähigkeit, das Richtige zu sagen oder zu tun, wegen ihrer unerwünschten Aufdringlichkeit oder scheinbaren Gefühlskälte.

In jungen Jahren teilt sich die Welt, grob gesprochen, in Menschen, die schon Sex hatten, und solche, die noch keinen hatten. Später dann in Menschen, die Liebe erlebt haben, und solche, die das noch nicht haben. Noch später – jedenfalls dann, wenn wir Glück haben (oder auch nicht) – teilt sich die Welt in Menschen, die Leid erfahren haben, und solche, die das nicht haben.

Julian Barnes denkt daran, sich im heißen Wasser in der Badewasser die Pulsadern aufzuschneiden. Aber er verwirft die Selbstmordgedanken, weil Pat mit ihm und seinen Erinnerungen an sie ein zweites Mal sterben würde.

Er spricht ständig mit Pat und hält diesen Ventriloquismus für normal.

Sie existiert nicht wirklich in der Gegenwart, nicht gänzlich in der Vergangenheit, sondern in einer grammatischen Zwischenzeit, dem Vergangenheits-Präsens.

Die Witwe eines verstorbenen Freundes schreibt ihm:

„Der Punkt ist – die Natur ist da sehr genau. Es tut exakt so weh, wie es die Sache verdient, darum genießt man den Schmerz gewissermaßen, glaube ich. Wenn es einem nichts ausmachte, würde es einem nichts ausmachen.“

Julian Barnes kann den Schmerz zwar nicht genießen, findet jedoch, dass der Schmerz beweist, dass er Pat nicht vergessen hat und deshalb nicht sinnlos ist:

Schmerz wirkt als Geschmacksverstärker der Erinnerung; Schmerz ist ein Liebesbeweis.

Er weiß um die Gefahren der Trauer: Selbstmitleid, Abkapselung, Weltverachtung und vieles mehr. Und er fragt sich, ob Erinnern oder Vergessen Ziel der Trauerarbeit ist.

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Wenn wir so etwas wie einen Roman erwartet haben, wundern wir uns beim Lesen der ersten Seiten des Buches „Lebensstufen“, denn Julian Barnes referiert erst einmal über einige Ereignisse aus der Geschichte der Ballonfahrt. Im zweiten Kapitel erzählt er von einer Liebesaffäre der französischen Schauspielerin Sarah Bernhardt und des britischen Offiziers Frederick Burnaby. Das sind zwar keine erfundenen Romanfiguren, aber die Geschichte ist fiktiv. Erst im dritten und letzten Kapitel kommt Julian Barnes zu seinem eigentlichen Thema: Die Auseinandersetzung mit dem Verlust seiner Ehefrau Pat Kavanagh.

Die drei Kapitel tragen die Überschriften: Die Sünde der Höhe, Auf ebenen Bahnen und Der Verlust der Tiefe. Julian Barnes vergleicht die Wagnisse der Pioniere der Ballonfahrt mit den Risiken menschlicher Beziehungen. Das Aufsteigen ist stets mit der Gefahr des Abstürzens verbunden. In den ersten beiden Kapiteln gibt Julian Barnes sich als neutraler, nüchterner Berichterstatter. Erst im dritten Kapitel wechselt er zur Ich-Form und schildert, was er als Trauernder denkt und empfindet. Während die Ballonfahrer in die Ferne schauen, horcht Julian Barnes in sein Inneres. Dabei vermeidet er Pathos und Sentimentalität. Vielleicht können wir seinen Schmerz nachempfinden, aber „Lebensstufen“ ist keine deprimierende Lektüre.

Trotz der eingezogenen Querverweise wirkt „Lebensstufen“ heterogen. Um die literarische Einordnung macht Julian Barnes sich keine Gedanken: „Lebensstufen“ passt in keine Schublade, man kann das Buch als Kurzroman, Sachbuch, Essay oder Erfahrungsbericht lesen. Zwischendurch ist da auch Platz für Betrachtungen über das englische Adjektiv uxorious (liebend, treusorgend).

Patricia („Pat“) Olive Kavanagh wurde 1940 in Südafrika geboren. 1964 kam sie nach London und arbeitete zunächst in der Werbebranche, dann 40 Jahre lang als Literaturagentin. 1979 heiratete sie den englischen Schriftsteller Julian Barnes, dessen Agentin sie auch war. Das Paar lebte in London.

In den Achtzigerjahren soll Pat Kavanagh eine Beziehung mit der Autorin Jeanette Winterson (* 1959) gehabt haben. Sie kehrte jedoch nach einiger Zeit zu ihrem Ehemann zurück.

Im September 2008 wurde bei Pat Kavanagh ein Hirntumor diagnostiziert. 37 Tage später, am 20. Oktober 2008, starb die 68-Jährige.

Das Buch „Lebensstufen“ von Julian Barnes gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Wolfram Koch (Regie: Marlene Breuer, ISBN 978-3-8398-1381-2).

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2015
Textauszüge: © Verlag Kiepenheuer & Witsch

Julian Barnes: Flauberts Papagei
Julian Barnes: Vom Ende einer Geschichte
Julian Barnes: Der Lärm der Zeit
Julian Barnes: Die einzige Geschichte

Jens Christian Jensen - Paul Wunderlich
Paul Wunderlich (* 1927) als erotischen Künstler einzuordnen, würde zu kurz greifen. Es geht ihm um die Beziehung von Mann und Frau, ja, aber auch um die Polarität Eros - Tod. Paul Wunderlich gilt als bedeutendster Vertreter des "Fantastischen Realismus". Unverwechselbar ist seine manieristische, mythologisch-surreale und zarte Ästhetik.
Paul Wunderlich