Gerbrand Bakker : Tage im Juni

Tage im Juni
Originalausgabe: Juni Uitgeverij Cossee BV, Amsterdam 2009 Tage im Juni Übersetzung: Andreas Ecke Suhrkamp Taschenbuch, Berlin 2011 ISBN: 978-3-518-46251-5, 303 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die niederländische Königin streichelt während eines Besuchs in einem Dorf das Gesicht eines zweijährigen Mädchens im Arm einer jungen Frau namens Anna Kaan. Wenige Stunden später ist das Kind tot. Beim Spielen wurde es vom Lieferauto des Bäckers erfasst. 40 Jahre später beobachtet der Erzähler die Eltern, Brüder und die fünf Jahre alte Nichte der Toten, den Bäcker und eine Frau, die an der Kasse des Schwimmbads saß, als ihr Sohn und die Kaan-Brüder noch Kinder waren ...
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Kritik

Gerbrand Bakker erzählt betont leise, langsam und lakonisch. Er evoziert eine Atmosphäre des Stillstands und der Hoffnungslosigkeit. Weil dazu auch noch die Sprache schlicht und einfach ist, handelt es sich bei "Tage im Juni" um einen spröden Roman.
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Am 17. Juni 1969 besucht die niederländische Königin Juliana ein Dorf in der Nähe der Kleinstadt Schagen südlich von Den Helder bzw. Anna Paulowna. Der kleine Sohn des Metzgers und die Tochter des Bäckers überreichen ihr ein Bukett. Nach dem Essen im Polderhuis, einem ehemaligen Bauernhof, drängt der für die Reise Verantwortliche zum Aufbruch, aber der Königin fällt eine sich nähernde junge Frau auf, die ein Kind auf dem Arm trägt und mit der anderen Hand ein Fahrrad schiebt. Offenbar wollte sie die Königin sehen, hat sich aber verspätet. Unter den missbilligenden Blicken ihres Gefolges geht Juliana auf die Frau zu, streichelt das Gesicht des Mädchens und fragt nach dem Namen. „Anne“, antwortet die Kleine. Die Mutter, die sich als Anna Kaan vorstellt, korrigiert: Ihre zweijährige Tochter heiße Hanne, könne aber noch kein H aussprechen.

Am nächsten Tag, während der Überfahrt nach Texel, liest Königin Juliana in der Zeitung, dass in dem Dorf bei Schagen kurz nach ihrem Besuch ein zweijähriges Mädchen beim Spielen mit dem Hund der Familie auf die Straße geriet, von einem Lieferwagen angefahren und tödlich verletzt wurde.

Vierzig Jahre später: Anna Kaan, inzwischen 73, verkriecht sich mit einer Flasche Wasser, einer Flasche Eierlikör und einer Packung Bokkenpootjes auf dem Heuboden. Und ihr Mann Zeeger fällt die kurz nach Hannes Tod gepflanzten Kastanienbäume. Das ganze Jahr über bastelt er Weihnachtsbäume und verkauft sie an irgendeiner Straße vom Kofferraum aus an deutsche Touristen. Klaas Kaan, der mit 48 Jahren älteste der drei Söhne, lebt mit seiner Frau und der fünfjährigen Tochter Dieke ebenfalls auf dem heruntergekommenen Bauernhof. Vieh gibt es keines mehr; im Stall steht nur noch der nutzlose Ochse Dirk.

Klaas‘ zwei Jahre jüngerer Bruder Jan, der auf Texel wohnt, kommt am Abend mit dem Zug aus Den Helder. Am nächsten Morgen geht er zum Friedhof, um den Grabstein seiner Schwester zu putzen und die Inschrift zu erneuern. Dieke zieht es vor, nicht wie sonst ins Schwimmbad zu gehen, sondern ihrem Onkel bei der Arbeit auf dem Friedhof zuzusehen.

Schließlich trifft auch ihr 44 Jahre alter Onkel Johan auf dem Friedhof ein. Er kommt zu Fuß aus Schagen, wo er in einem Heim lebt. Von dort hat er einen Sack Kies für das Grab herangeschleppt.

Dinie Grin, die an der Kasse des Schwimmbads saß, als Klaas, Jan und Johan noch Kinder waren, beobachtet argwöhnisch die Männer auf dem Friedhof, die einen Grabstein umgelegt haben. Seit einiger Zeit werden Gräber mit Kuhfladen beschmiert, und sie verdächtigt die „Kaan-Bande“ als Übeltäter. Sie wohnt neben dem Friedhof. Wegen der Hitze trägt sie in ihrem Haus keine Bluse, sondern nur einen Büstenhalter. Den zieht sie aus, bevor sie sich aufs Bett legt. Und dann schiebt sie auch noch den Rock und den Schlüpfer hinunter, denn sie bildet sich ein, der Afrikaner, der hin und wieder vorbeigeht, steige durchs Fenster herein. In ihre sexuellen Fantasien mischt sich die Erinnerung daran, wie sie ihren pubertierenden Sohn Teun mit dem drei oder vier Jahre jüngeren Jan Kaan auf dem Dachboden der Garage ertappte. Als sie den Kopf durch die Luke schob, starrte sie auf Teuns erigierten Penis und in das rote Gesicht seines ebenfalls nackten Freundes. Teun, der sich inzwischen Toon nennt, lebt jetzt in Den Helder. Er ist geschieden und hat zwei Töchter. Vor einiger Zeit kündigte er seine Stelle als Maschinenschlosser und ließ sich zum Jugendbetreuer umschulen. Dinies Ehemann Kees starb vor längerer Zeit. Sein Grab befindet sich auch auf dem Dorffriedhof.

Den drei Kaans fällt dort ein etwa sechsjähriger schwarzer Junge mit einem Eimer voller Kuhfladen auf. Er heiße Leslie, sagt er.

Als Dinie Grin bei einem weiteren Kontrollgang frisch beschmierte Gräber entdeckt, ruft sie ihren Sohn an und teilt ihm mit, dass ihrer Meinung nach die Kaan-Bande auf dem Friedhof ihr Unwesen treibe. Toon hält sie davon ab, die Polizei zu alarmieren.

Hin und wieder kommt der Bäcker Harm Blom zu ihr. Er isst bei ihr, und manchmal gehen sie auch zusammen ins Bett. Als Königin Juliana 1969 das Dorf besuchte und Bloms kleine Tochter gemeinsam mit dem Metzgersohn der Monarchin ein Bukett überreichen durfte, hatte er gerade den dreirädrigen Lieferwagen seines Vaters mit der Aufschrift „Blom – Bäckerei & Konditorei“ durch einen nagelneuen VW-Transporter mit dem Firmennamen „Blom Backwaren“ ersetzt. Inzwischen steht die Bäckerei leer, denn er konnte nicht mit dem Supermarkt in Schagen konkurrieren. Seine Frau verließ ihn, und seine Tochter wohnt jetzt in Zuid-Limburg.

Blom erinnert sich, wie er am 17. Juni 1969 Brot und Kuchen für den Empfang der Königin im Polderhuis lieferte. Als er vor dem Haus des Notars parkte und die Türe öffnete, ohne in den Rückspiegel zu schauen, wäre der damals siebenjährige Jan Kaan beinahe mit seinem Fahrrad gegen das Hindernis geprallt. Er konnte gerade noch ausweichen. Johan, der Mühe hatte, seinem Bruder auf einem Tretroller zu folgen, kriegte davon gar nichts mit. Harm Blom holte dann seinen Fotoapparat und knipste, wie die Kinder der Königin die Blumen reichten. Dann fuhr er die bestellten Waren aus. Auf dem Hof der Kaans bewunderte er den neuen Melkstand. Zeeger Kaan baute gerade im Obergeschoss ein Kinderzimmer für seine zweijährige Tochter Hanne aus. Eine halbe Stunde später kam Harm Blom aus der entgegengesetzten Richtung erneut am Hof vorbei.

In Gedanken war er immer noch bei den Bussarden und Weihen, und deshalb fuhr er ganz gemächlich, ohne besonders auf die lange, schmale Straße zu achten. Es war sehr ruhig, nur einmal hatte er für einen entgegenkommenden Wagen an den Rand fahren müssen. Als er gerade am Damm vorbeigerollt war, stieß er gegen irgendein Hindernis. Er beugte sich übers Lenkrad, den Fuß leicht auf dem Bremspedal. Vor ihm auf der Straße war nichts zu sehen. Im rechten Außenspiegel sah er etwas Braunes. Einen Hund, den jungen Irish Setter von Zeeger Kaan. Hatte er den angefahren? Aber wie konnte der Hund dann so aufrecht sitzen? Der Schreck war ihm wieder in die Knochen gefahren, beide Knie begannen zu zittern. Während er bremste und das Radio ausschaltete, blickte er immer noch in den Außenspiegel. Seine linke Hand glitt übers Lenkrad. Fast quer auf der Straße kam der Lieferwagen zum Stehen. Stille. Der Geruch von neuem Leder und frischem Brot. Ein plötzlicher Windstoß riss ihm beinahe die Tür aus der Hand. Die Ulmen am Straßenrand neigten sich zu ihm hinunter. Blom Backwaren. Schon bevor er das Heck des Lieferwagens erreichte und den Hund sitzen sah, verachtete er sich selbst wegen dieser Aufschrift, hörte er sich von den Siebzigerjahren schwafeln, die vor der Tür stünden, von neuen, anderen Zeiten.
Dem Hund fehlte nichts. Er saß nur da. Er saß, aber so, wie ein Vorstehhund steht, als wäre das Kind, das halb auf der Straße, halb im Gras lag, ein Stück Wild. Weil der Bäcker noch etliche Meter weitergefahren war und kaum imstande zu gehen, dauerte es einen Moment, bis er bei dem Kind und dem Hund ankam. Auf der Straße breitete sich ein unregelmäßiger Schatten aus, die Ulmen neigten sich noch weiter über ihn, ohne zu rauschen. Das Kind sah unversehrt aus. Es lag still, seine Augen waren geschlossen, das war alles. Er ging in die Knie, und der Hund, der das auf sich bezog, stellte sich an ihm hoch und begann ihn eifrig zu lecken. Der Bäcker stieß das junge Tier grob zur Seite. Aus einem Ohr des Kindes sickerte ein klein wenig Blut. Der Hund fing an zu bellen, hoch und durchdringend. Die Seitentür des Bauernhofs öffnete sich, eigentlich war es die Haustür, denn die Tür in der Vorderfront war blind. Der Bäcker stand auf. Anna Kaan ging ein paar Schritte auf den Hof. Blieb stehen. „Zeeger!“, rief sie. Der junge Hund hörte auf zu bellen.

Als Dieke auf den Hof zurückkommt, liegt ihre Großmutter noch immer auf dem Heuboden.

Jetzt hat sie alles auf. Die Bokkenpootjes, den Eierlikör und sogar das Wasser. Den Rest Eierlikör hat sie getrunken, nachdem Dieke lange dort unten gestanden und laut erzählt hat. Wann war das? Vor einer Stunde? Vor einer halben? Von Jan, der „einen Stein bemalt, mit einem ganz kleinen Pinsel“ und dass da „eine Tante“ liege, „aber das versteh ich nicht“. Von jemandem, der Leslie heißt, und dass Jan gesagt habe, Leslie sei „ein Möhrchen“. Sie selbst habe „ganz viele Steine saubergemacht, mit toten Menschen drunter“, was „doch ein bisschen komisch“ gewesen sei. Sie hat nicht geantwortet, natürlich nicht, und nach einiger Zeit ist Dieke wieder verschwunden. Dirk hat danach noch eine Weile geschnaubt, bis auch er verstummte.

Bald darauf fährt Jan mit dem Zug von Den Helder nach Schagen, um seinen Bruder Johan zu besuchen. Auf der eingleisigen Strecke zwischen Anna Paulowna und Schagen hält der Zug auf offener Strecke. Eine Betriebsstörung, heißt es. Jan springt aus dem Zug und wartet im Freien auf die Weiterfahrt. Eine Mitreisende namens Brecht Koomen sieht, dass er ein Foto liegengelassen hat. Sie erkennt darauf die inzwischen verstorbene Königin Juliana, eine junge Frau und ein kleines Kind. Neugierig folgt sie dem rothaarigen Fremden und erzählt ihm, dass sie am 17. Juni 1969 beim Abendessen der Königin in Den Helder dabei gewesen sei. Sie arbeitete damals als Gemeindeschwester und gehörte zu den Personen, die als Querschnitt der berufstätigen Bevölkerung ausgesucht worden waren.

Jan erinnert sich, wie er sich damals ärgerte, weil nicht er, sondern der Sohn des Metzgers mit der Tochter des Bäckers der Königin Blumen überreichen durfte. Mürrisch stand er neben seinem Freund Peter Breebaart vor dem Polderhuis. Teun Grin kam dazu und nahm seine Hand. Er ließ dann seinen jüngeren Bruder Johan mit dem Tretroller zurück und fuhr mit dem Fahrrad nach Hause. Aber Peters Vater, Onkel Aris, fing ihn kurz vor dem Hof der Eltern ab. Jan wunderte sich, dass das Lieferauto des Bäckers quer auf der Straße stand, aber Aris antwortete nicht auf seine Frage, was das bedeute, sondern nahm ihn mit und meinte, Tante Tinie würde ihm etwas zu essen geben. Johan war auch schon da. Sie übernachteten beide bei Onkel Aris und Tante Tinie. Erst am nächsten Tag kamen sie wieder nach Hause – und standen dort vor dem kleinen Sarg ihrer toten Schwester.

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In dem Roman „Juni“ (Hardcover) bzw. „Tage im Juni“ (Taschenbuch) geht es um eine niederländische Familie, die durch den Tod der zweijährigen Tochter aus der Bahn geworfen wird. Der Unfall ereignet sich unmittelbar nach einem Besuch der Königin im Dorf, mit dem das Buch beginnt und endet, aber Gerbrand Bakker schildert das schreckliche Ereignis erst aus der Rückschau 40 Jahre später, und auch dann nur mit wenigen Worten. Immerhin wird der Tod des Kindes aus drei verschiedenen Perspektiven dargestellt (Harm Blom, Klaas und Jan Kaan).

Gerbrand Bakker erzählt betont leise, langsam und lakonisch. In der Gegenwart (also 40 Jahre nach dem Besuch der Königin und dem tödlichen Unfall des Kindes) ereignet sich wenig und schon gar nichts Spektakuläres. Indem Gerbrand Bakker dennoch das Geschehen von einem unbeteiligten auktorialen Erzähler minuziös darstellen lässt, evoziert er eine Atmosphäre des Stillstands und der Hoffnungslosigkeit. Weil dazu auch noch die Sprache schlicht und einfach ist, handelt es sich bei „Tage im Juni“ um einen sehr spröden Roman.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2012
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

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Matthias Politycki - Jenseitsnovelle
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Jenseitsnovelle