Gerbrand Bakker : Der Umweg

Der Umweg
Originalausgabe: De omweg Uitgeverij Cossee BV, Amsterdam 2010 Der Umweg Übersetzung: Andreas Ecke Suhrkamp Verlag, Berlin 2012 ISBN: 978-3-518-422288-5, 231 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die todkranke Protagonistin hat sich zum Sterben zurückgezogen. Sie legt sich gern nackt ins Freie, versucht aber auch, die wuchernde Natur zu bändigen. Von einem Dachs, der sich unversehens zwischen ihren Beinen befindet, wird sie gebissen, und ein Rotmilan raubt ihr eine Gans nach der anderen. Während ein junger, vom Fernwanderweg abgekommener Mann zu ihrem Todesengel wird, sucht ihr Lebensgefährte mit Hilfe eines schwulen Polizisten nach ihr ...
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Kritik

Gerbrand Bakker erzählt ruhig und unaufgeregt; vieles lässt er aus, anderes deutet er an, nichts wird erklärt. Getragen wird der stilsichere Roman "Der Umweg" von symbolisch aufgeladenen, suggestiven Bildern.
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Eine Niederländerin trifft mit der Fähre in Hull ein. Ihr Handy lässt sie absichtlich in der Kabine liegen. An Land zieht sie aus vier verschiedenen Automaten eine größere Geldmenge, weil sie ihre Kreditkarten von jetzt an nicht mehr benutzen möchte, um nicht gefunden zu werden. Mit Auto und Anhänger fährt sie nach Osten. Irland ist ihr Reiseziel. In Bangor übernachtet sie in einem Privathaus mit Bed & Breakfast. Am nächsten Morgen zeigt ihr ein Immobilienmakler ein abgelegenes Grey Stone Welsh Farmhouse in der Nähe des Dorfes Waunfawr. Weil es ihr gefällt, beendet sie die Reise und mietet es. Die verwitwete Besitzerin, Mrs Evans, starb im Alter von 93 Jahren. Nach einem Erben wird erst noch gesucht.

Sie nahm das Haus, wie es war. Ein paar Möbel, ein Kühlschrank und eine Gefriertruhe waren vorhanden. Sie kaufte Teppiche (in allen Zimmern lagen die gleichen breiten, kahlen Dielen) und Kissen, Küchenutensilien, Töpfe, Teller, einen Wasserkessel. Kerzen. Zwei Stehlampen.

Eine Matratze hat sie aus Amsterdam mitgebracht. Im größeren der beiden Schlafzimmer schiebt sie einen wurmstichigen Eichentisch ans Fenster und stellt eine Schreibtischlampe darauf. Hier will sie an ihrer Dissertation über Emily Dickinson weiterarbeiten.

Sie denkt an ihren Onkel, den Bruder ihres Vaters. Bei ihm war sie gern zu Besuch. Er behauptete, dass man im Leben allein auf sich gestellt sei und riet ihr, nicht darauf zu achten, was andere über sie denken. Er galt als nicht ganz normal. In dem Hotel, in dem er arbeitete, steckte er eines Tages schwere Gegenstände aus der Küche in seine Taschen und ging dann in den Teich, um sich zu ertränken. Aber das Wasser reichte ihm nur bis zur Hüfte.

Am nächsten Tag findet sie mittags in der Nähe des Hauses einen Steinkreis. Obwohl es November ist, sind die Steine so warm, dass sie sich auszieht, nackt auf den größten der Steine legt und einschläft. Als sie die Augen aufschlägt, fällt ihr Blick auf einen Dachs.

Dunkle, kleine Augen schauten zwischen ihren Füßen aufwärts, der Dachs starrte genau in ihren Schoß.

Der Dachs bewegt sich vorwärts. Sie presst die Hände in den Schoß. Die heftige Bewegung erschreckt das Tier. Es flüchtet, ihr linker Fußrücken ist im Weg, der Dachs beißt zu. Sie hebt einen Ast auf und schlägt damit zu, so heftig, dass er zerbricht. Knurrend verschwindet der Dachs unter einem Stechginsterstrauch.

Weil der Fuß anschwillt und pocht, fährt sie nach Caernafon und sucht dort einen Arzt. Der versorgt die Wunde, gibt ihr eine Tetanusspritze und wundert sich über die Kratzer weiter oben an den Beinen, aber dass sie bei Tag einen Dachs sah, glaubt er ihr nicht.

Zum Haus gehören augenscheinlich auch zehn Gänse. Nach einem Monat sind es nur noch sieben. Weil die Mieterin vermutet, dass ein Fuchs die Gänse holt, besorgt sie sich Maschendraht und baut einen Zaun. Aber der Räuber kommt von oben: Es handelt sich um einen Rotmilan.

Als sie am nächsten Morgen aus dem Schlafzimmer kommt, steht die Haustüre offen, und in der Küche sitzt ein Mann, der sich als Rhys Jones vorstellt. Er besitzt die auf dem Grundstück weidenden Schafe. Den Schlüssel hat er noch von der Witwe Evans. Sie bekam von ihm einmal im Jahr ein Lamm als Gegenleistung für das Weiderecht. Der Schafzüchter klärt die Mieterin darüber auf, dass die Gänse von Mrs Evans hinterlassen wurden. Für die fehlenden Gänse werde sie aufkommen müssen, meint er.

Im Dezember taucht ein junger Mann mit einem Hund auf. Er stammt aus Llanberis, heißt Bradwen Jones und ist 20 Jahre alt. Sein Studium in Liverpool hat er abgebrochen. Zur Zeit erkundet er einen Fernwanderweg. Die Niederländerin, die sich nun Emilie nennt, lädt ihn ein, die Nacht auf der Chaiselongue in ihrem Arbeitszimmer zu verbringen.

Am nächsten Morgen zieht er los. Sein Ziel ist der Snowdon. Aber er kehrt zurück und behauptet, keinen anderen Schlafplatz gefunden zu haben. Bradwen kauft ein, kocht, schließt ein neues Fernsehgerät an und arbeitet im Garten. Sie weiß, dass sie den Jungen wegschicken müsste, aber jedes Mal, wenn sie ihn zum Gehen auffordert, erwidert er nur, er werde bleiben.

Die Paracetamol-Tabletten, die sie mitbrachte, gehen zur Neige. Sie fährt zu dem Arzt in Caernafon und bringt ihn dazu, ihr ein sehr viel stärkeres Schmerzmittel zu verschreiben. Untersuchen lässt sie sich nicht, und statt über die Ursache ihrer Schmerzen zu sprechen, verlangt sie von ihm, die beim ersten Besuch angefertigten Notizen zu vernichten. Das Rezept legt sie in der Apotheke vor und kauft eine größere Menge des starken Schmerzmittels.

Rhys Jones bringt ihr ein zerlegtes halbes Lamm. Sie ekelt sich vor dem Fleisch, aber er will sich an die Abmachung halten. Unwirsch weigert sie sich, ihm Kaffee anzubieten. Er berichtet, man habe einen Großneffen der Verstorbenen gefunden. Der mit Rhys Jones befreundete Makler lässt ihr ausrichten, dass sie das Haus deshalb spätestens am 5. Januar verlassen müsse. Am Neujahrstag werde man zur Besichtigung vorbeikommen.

Da taucht der Hund auf, der mit Bradwen unterwegs war. Er springt Rhys Jones in die Arme, und der Junge begrüßt den Schafzüchter als seinen Vater. Ohne noch viel zu reden, fährt Rhys Jones mit dem Hund im Auto weg.

Bradwen bereitet das Lammfleisch mit Knoblauch und Anchovis zu. Emilie isst nichts davon. Nachts übergibt der Junge sich. Sie glaubt zunächst, er habe zu viel gegessen, entdeckt dann aber, dass das Verfallsdatum der Dose Anchovis seit Juni 1984 abgelaufen ist.

Sie lässt Bradwen in ihr Bett und stellt sich seine Hände auf ihren Brüsten vor. Er erzählt ihr, dass er die tote Witwe gefunden habe. Er kam aus Liverpool und entdeckte die von Tieren angefressene Leiche auf der Gänseweide. Mit verstellter Stimme sprach er seinem Vater eine entsprechende Nachricht auf den Anrufbeantworter und kehrte nach Liverpool zurück. Mr Evans kannte er nicht. Der starb bereits, als Bradwen zwei oder drei Jahre alt war.

Emilie schickt Bradwen zum Einkaufen und sagt, er könne auch wegbleiben. Davon will er jedoch nichts wissen. Sie habe ihn gewarnt, erwidert sie.

Während er unterwegs ist, bringt sie Brot, Wasser und Wein in den ehemaligen Schweinestall, eine Kerze und Streichhölzer, Kissen und Teppiche.

In Amsterdam war sie Dozentin für Übersetzungswissenschaft. Aber nach einer Affäre mit einem Studenten wurde sie entlassen. Nachdem sie ihrem Mann Rutger den Grund gestanden hatte, gingen die beiden sich eine Woche lang aus dem Weg. Sie war bereits zwei Tage fort, als es Rutger auffiel. In seinem Zorn schlich er sich ins frühere Büro seiner Frau und legte Feuer. Der Brand wurde rasch gelöscht. Rutger wartete auf das Eintreffen der Polizei. Weil er sich sofort bereit erklärte, für den Schaden aufzukommen, musste er nicht ins Gefängnis.

Seine Schwiegereltern erhielten von ihrer Tochter eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter: Sie sei weg, und die Eltern sollten sich keine Sorgen machen.

Beim Aufräumen der Garage fiel Rutger ein Karton mit Büchern und Papieren seiner Frau auf den Fuß. Die Ärztin, die ihn untersuchte, holte seine Krankenakte auf den Bildschirm und stellte fest, dass sowohl er als auch seine Frau vor gut einem Jahr eine Fruchtbarkeitsuntersuchung machen ließen. Es sei sehr selten, dass man dabei etwas anderes finde, meint sie, weil man nicht darauf achte. Er weiß nicht, was sie meint, und als sie das merkt, sagt sie nichts weiter. Aber er hat begriffen, dass seine Frau krank ist. Der Fuß wird eingegipst.

Rutger trifft sich weiterhin mit dem schwulen Polizisten, der ihn wegen der Brandstiftung vernahm. Anton, so heißt er, rät ihm, einen Privatdetektiv mit der Suche nach seiner Frau zu beauftragen, denn die Polizei könne nichts tun. Nachdem der Detektiv ihren Aufenthaltsort herausgefunden hat, nimmt Anton seinen Resturlaub, um Rutger nach Wales fahren zu können. Sie gehen an Bord der Fähre nach Hull.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Währenddessen liegt Bradwen wieder bei Emilie im Bett. Als sie ihn dazu auffordert, streichelt er ihre Brüste. Er beugt sich über sie und fragt, ob sie nicht verhüten müssten, aber sie antwortet nicht, sondern schaut sein gieriges Geschlecht an und packt ihn an den Pobacken.

Am nächsten Tag fahren sie mit dem Zug nach Rhyd Ddu und beginnen mit dem Aufstieg zum Snowdon, der auf Walisisch Yr Wyddfa heißt. Mehrmals muss Bradwen auf Emilie warten. Schließlich geht er allein weiter. Nachdem sie weitere Schmerztabletten geschluckt hat, kehrt sie allein zum Bahnhof zurück, um dort auf ihn zu warten.

Im Briefkasten findet sie eine Karte ihres Mannes vor: „Ich komme“, schreibt er. Sie verschweigt es Bradwen, lügt, es sei nur Reklame. Mit einem an die Haustüre geklebten Zettel kündigt der Makler für den 1. Januar seinen Besuch an.

Sie geht mit Bradwen in den Schweinestall und fordert ihn dort auf, durch die offene Bodenluke hinabzusteigen. Dann wirft sie die Klappe zu und schiebt eine bereitliegende Holzlatte durch die beiden Bügel an den Seiten der Luke.

Anschließend schleppt sie die aus Amsterdam mitgebrachte Matratze und Bettdecken in das Gänsehäuschen. Sie isst zwei Bananen, trinkt ein paar Gläser Weißwein und nimmt ein heißes Bad. Mit eingeschaltetem Radio geht sie zum Gänsehäuschen, setzt sich auf die Matratze und schluckt alle noch übrigen Schmerztabletten. Eine nach der anderen spült sie mit einem Schluck Wasser aus der mitgebrachten Plastikflasche hinunter [Suizid], während sich die vier noch lebenden Gänse um sie scharen.

Am zweiten Weihnachtstag erreichen Rutger und Anton ihr Ziel. Bradwen hört zwei niederländisch sprechende Männer. Er isst noch ein Stück Fleisch mit einer Scheibe Brot und trinkt ein Glas Rotwein dazu. Dann hämmert er mit der Klappe, bis er aus seinem Gefängnis befreit wird.

Rutger fragt ihn nach Agnes. In Wirklichkeit heißt sie also gar nicht Emilie. Bradwen schickt die beiden zum Steinkreis und sagt, dort halte sie sich gern auf. Als Rutger und Anton fort sind, fällt ihm die leere Gänseweide auf. Er hört Musik aus dem Gänsehäuschen, sieht nach und entdeckt die Leiche.

Nach seiner Mutter und der Witwe Evans ist Agnes die dritte tote Frau, die er sieht.

Ruhig packt er seinen Rucksack und entnimmt den Portemonnaies der Männer 40 Pfund, obwohl sie sehr viel mehr Geld enthalten. Dann entfernt er noch den Schmuck vom Christbaum, den er eigens mit Ballen kaufte, gräbt im Garten ein Loch und pflanzt ihn ein. Er muss einen Tagesmarsch weit zurück. Das letzte Stück hierher war ein Umweg. Statt hier vorbei muss der Fernwanderweg über Llanberis zum Snowdon führen.

Er blickt nach Südwesten. Ein paar Stunden Tageslicht hat er noch. Als er in einiger Entfernung Stimmen hört, zögert er einen Moment, bahnt sich dann einen Weg durch die Wallhecke und hockt sich hinter einen Baum. Jemand hat ihm mal erzählt, dass Nägel und Haare von Toten noch eine Zeit lang weiterwachsen. Wie lange, überlegt er, kann etwas Organisches, das nicht mehr gesteuert wird, Blut und Nährstoffe aufnehmen? Er kneift die Augen zusammen. Er will nicht sitzen, nicht nichts tun. Er will gehen, in Bewegung sein. Seufzend schaut er auf die Wiese, die vor ihm liegt, von einer Hecke aus gedrungenen Bäumchen gesäumt. Als kleiner Junge konnte er bei günstigem Wind sogar von hier aus die Stimmen seiner Mutter und der Witwe Evans hören. Nie hatte er sich weiter entfernt, als ihre Stimmen trugen. Noch in zehn oder zwanzig Jahren wird sich hier kaum etwas verändert haben. Erst als er die Männer nicht mehr hört, verlässt er seinen Platz hinter der alten Stechpalme. Er beginnt leise zu pfeifen.

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Auf Umwegen finden drei verschiedene Menschen zu sich selbst.

Die todkranke Protagonistin des Romans „Der Umweg“ von Gerbrand Bakker hat sich zum Sterben zurückgezogen. Sie sonnt sich nackt und badet nackt, arbeitet aber auch mit letzter Kraft daran, die wuchernde Natur zu bändigen und legt mit Schiefersplitt einen scharf abgegrenzten Weg durchs Gras an. Von einem Dachs, der sich unversehens zwischen ihren Beinen befindet, wird sie gebissen, und ein Rotmilan raubt ihr eine Gans nach der anderen. Während ein junger, vitaler, vom Fernwanderweg abgekommener Mann zu ihrem Todesengel wird, sucht ihr Lebensgefährte mit Hilfe eines schwulen Polizisten nach ihr. Zufällig ist er am Fuß verletzt wie sie. Die symbolisch aufgeladenen, suggestiven Bilder tragen den Roman „Der Umweg“.

Die Figuren verschweigen sich gegenseitig viel, und auch Gerbrand Bakker erzählt dem Leser nicht alles. Vieles lässt er aus, anderes deutet er nur an, nichts wird erklärt. Im Zusammenspiel von zwei Handlungssträngen setzt sich nach und nach ein Bild zusammen, das aber auch am Ende noch blinde Flecken enthält. Durch die Kunst des Weglassens evoziert Gerbrand Bakker eine dichte Atmosphäre des Geheimnisvollen.

Er vermeidet jede Effekthascherei. Ruhig, unaufgeregt und schnörkellos entwickelt Gerbrand Bakker die bewegende Geschichte. Seine Sprache ist bewusst schlicht. Aber hinter der Lakonie in „Der Umweg“ verbirgt sich eine subtile, einfühlsame Beobachtungsgabe. Das ist stilsichere Literatur auf hohem Niveau.

Den Roman „Der Umweg“ von Gerbrand Bakker gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Regina Lemnitz (Hamburg 2012, 300 Min, ISBN 978-3-8337-2905-8).

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2012
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

Gerbrand Bakker: Oben ist es still
Gerbrand Bakker: Tage im Juni

Carsten Kluth - Wenn das Land still ist
Unter dem Titel "Wenn das Land still ist" hat Carsten Kluth eine Mischung aus Familienroman und gesellschaftskritischem Roman geschrieben. Das Thema ist brisant, aber die Darstellung wirkt verkopft.
Wenn das Land still ist