Jean Anouilh : Antigone

Antigone
Antigone Manuskript: 1941/42 Uraufführung: Théâtre de l'Atelier,Paris, 6. Februar 1944
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Nachdem sich die beiden Söhne des Ödipus im Kampf um Theben gegenseitig getötet haben, übernimmt ihr Onkel Kreon die Herrschaft. Während er für Eteokles eine feierliche Beerdigung anordnet, lässt er die Leiche des Angreifers Polyneikes vor der Stadt liegen und untersagt ihre Bestattung unter Androhung der Todesstrafe. Antigone bedeckt den toten Bruder jedoch mit Erde. Als sie dabei ertappt wird, bekennt sie sich zu der sinnlosen Tat und verhindert, dass der König sie verschont ...
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Kritik

In der Tragödie von Jean Anouilh ist Antigone zwar unverzichtbar, aber Kreon die komplexere und interes­santere Figur. Die Auseinander­setzung des Realpolitikers und der kompromisslosen Jugendlichen steht im Zentrum des Stücks.
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Ohne Iokaste als seine verwitwete Mutter zu erkennen, zeugt der thebanische König Ödipus mit ihr die Söhne Eteokles und Polyneikes sowie die Töchter Antigone und Ismene. Als Iokaste durch den blinden Seher Teiresias die Wahrheit erfährt, erhängt sie sich, und Ödipus sticht sich die Augen aus. Doch der Fluch des Labdakiden-Hauses ist damit nicht gebrochen.

Nach dem Tod des Königs Ödipus sollen Eteokles und Polyneikes Theben im jährlichen Wechsel regieren. Eteokles macht den Anfang und weigert sich nach Ablauf seiner ersten Amtszeit, seinem Bruder den Thron zu überlassen. Stattdessen verbannt er Polyneikes, der daraufhin in Argos ein Heer zur Eroberung Thebens aushebt. Im Zweikampf vor einem der Tore der Stadt töten sich die Brüder gegenseitig.

Iokastes Bruder Kreon übernimmt die Herrschaft über Theben. Während er für Eteokles eine feierliche Beerdigung anordnet, lässt er die Leiche des Angreifers Polyneikes vor der Stadt liegen und verbietet ihre Bestattung unter Androhung der Todesstrafe.

Trotz des Verbots beschließt Antigone, ihren Bruder symbolisch zu beerdigen.

Nachdem ein Sprecher die Vorgeschichte kurz umrissen hat, beginnt die Tragödie im Morgengrauen, als Antigone in den Palast zurückkehrt. Antigones Amme, die nicht weiß, dass die 20-Jährige soeben die Leiche ihres Bruders mit ein paar Schaufeln Erde bedeckte, passt sie ab. Sie argwöhnt, dass Antigone, die mit Kreons Sohn Hämon verlobt ist, sich heimlich mit einem anderen Mann getroffen haben könnte. Antigone lässt die Amme zunächst in dem Glauben, beteuert dann jedoch, nur Hämon zu lieben.

Ismene kann nicht schlafen. Noch bevor die Dienstboten aufstehen, gesellt sie sich zu ihrer jüngeren Schwester. Antigone bat sie, ihr bei Polyneikes‘ Beerdigung zu helfen, aber Ismene wagte es nicht, gegen Kreons Gesetz zu verstoßen und versucht nun noch einmal, die Schwester von dem Vorhaben abzubringen – ohne zu ahnen, dass es bereits zu spät ist.

Ein Wächter meldet König Kreon, dass Polyneikes während der Nacht symbolisch mit Erde bedeckt wurde. Er und seine vor der Stadt gebliebener Kameraden haben die Leiche inzwischen wieder freigelegt. Aufgrund der Aussage des Wächters, dass bei dem Toten eine Sandkastenschaufel gefunden wurde, vermutet Kreon, dass ein Kind die Tat im Auftrag seiner politischen Gegner verübte. Das hält er für einen geschickten Schachzug der Opposition, denn wenn er ein Kind hinrichten ließe, würde er viele seiner Anhänger gegen sich aufbringen.

Beim zweiten Versuch, die Leiche mit etwas Erde zu bedecken, wird Antigone von den Wächtern ertappt und vor den König gezerrt. Freimütig bekennt sie sich zu ihrer Tat. Kreon schickt die Wachen weg und redet unter vier Augen mit seiner Nichte. Er nimmt zunächst an, dass sie wegen ihrer Verwandtschaft mit dem König nicht mit der Todesstrafe rechnet. Antigone betont jedoch, ihr sei klar, dass er gar nicht anders könne, als ihre Hinrichtung anzuordnen.

Weil Kreon fälschlicherweise glaubt, dass Antigone es für ihre sittliche Pflicht hält, den Bruder trotz des ausdrücklichen Verbots zu bestatten, klärt er sie darüber auf, welch ein Schurke Polyneikes war. Eteokles sei keinen Deut besser gewesen, sagt er. Wie sein Bruder habe er Verrat und Aufstand geplant. Nach dem Tod der beiden hielt Kreon es für ratsam, einen der beiden zum Idol zu erklären, und seine Wahl fiel dabei auf Eteokles. Aber es hätte ebenso gut auch Polyneikes sein können. Kreon weiß nicht einmal, welchen der beiden Brüder er feierlich zu Grabe tragen ließ, denn die argivischen Reiter hatten die beiden Leichen so zertrampelt, dass sie nicht mehr zu identifizieren waren. Um seine Macht zu festigen, stilisierte Kreon nicht nur Eteokles zum Helden, sondern verbot auch die Bestattung des vor der Stadt liegenden Toten. Der inzwischen fast unerträgliche Gestank soll die Bewohner Thebens darauf hinweisen, was mit Verrätern geschieht. Kreon gesteht Antigone, dass ihm das alles zuwider ist. Er strebte den Thron nicht an, aber als er aufgefordert wurde, das verwaiste Amt zu übernehmen, sagte er ja, und nun will er es so gut wie möglich ausüben und für Ordnung sorgen. Dazu gehören auch politische Kompromisse und Maßnahmen, die er als Privatmensch nicht gutheißen würde. Kreon teilt den Nihilismus seiner Nichte, aber er sieht seine Aufgabe als König darin, den Menschen zu einem kleinen Glück zu verhelfen.

Antigone verachtet Kreon, weil er sich der Realpolitik verschrieben hat. „Ich, ich will alles, sofort und vollkommen – oder ich will nichts.“ Ihr geht es im Gegensatz dazu, angesichts der Sinnlosigkeit des Lebens konsequent nein zu sagen. Für sie gibt es keine Werte, aber statt sich anzupassen, will sie frei sein, auch wenn sie den König dadurch zwingt, sie zum Tod zu verurteilen. Sie will endlich ernst genommen und nicht mehr wie ein Kind behandelt werden. Kreon wirft Antigone vor, sie mache es sich zu einfach: Es sei leicht, alles zu negieren und sehr viel schwerer, sich konstruktiv auf die ungeordneten und schmutzigen Zusammenhänge des Lebens einzulassen.

Ismene kommt dazu und behauptet, an der verbotenen Tat beteiligt gewesen zu sein, aber Antigone stellt sogleich klar, dass sie allein handelte. Das Opfer ihrer Schwester kommt zu spät.

Kreon versucht verzweifelt, seine Nichte zu retten, aber sie lässt es nicht zu. Schließlich befiehlt er den Wachen, sie abzuführen.

Als Hämon davon erfährt, eilt er zu seinem Vater und drängt ihn, Antigone zu begnadigen. Der König weigert sich jedoch, denn in diesem Fall würde er nicht nur seine Autorität verlieren, sondern auch neue Unruhen heraufbeschwören.

Damit bei Antigones Tötung kein Blut vergossen wird, befiehlt Kreon, sie lebendig in einer Felsenhöhle einzumauern. Kurz bevor der letzte Stein gesetzt wird, hört Kreon die Stimme seines Sohnes aus dem Grab. Daraufhin lässt er die Mauer wieder einreißen und hilft selbst dabei mit. Antigone hat sich mit ihrem Gürtel erhängt. Hämon, der sich unbemerkt zu ihr in die Höhle geschlichen hat, erdolcht sich vor den Augen seines entsetzten Vaters [Suizid].

Kurz darauf berichtet der Sprecher, dass Eurydike sich aus Gram über den Tod des Sohnes die Pulsadern aufschnitt und verblutete.

Kreon beneidet die Toten, die nun – im Gegensatz zu ihm – ihre Ruhe gefunden haben. Aber er geht pünktlich zur anstehenden Ratssitzung. Trotz allem wird er entschlossen weiterregieren.

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In der griechischen Tragödie „Antigone“ von Sophokles orientiert sich Antigone an den ewig gültigen göttlichen Geboten und übertritt staatliche Gesetze, die ihnen widersprechen. Indem sie gegen das Regime aufbegehrt, wenn sie es aus ethischen oder humanistischen Gründen für erforderlich hält, ist sie ein Vorbild der Widerstandskämpfer. Bei Jean Anouilh gibt es keine Götter mehr; die Welt ist nicht nur säkularisiert, sondern sinnlos. Antigones Motivation ist hier sehr viel schwieriger nachzuvollziehen. Sie ärgert sich darüber, wenn die Amme sie noch wie ein Kind zu betreuen versucht oder ihr Verlobter sie – wenn auch liebevoll – „kleine Närrin“ nennt; Antigone möchte endlich ernst genommen werden. Ihre Revolte gegen das Gesetz des königlichen Onkels ist nicht zuletzt als Konkretisierung eines Generationenkonflikts zu verstehen: „Ich, ich will alles, sofort und vollkommen – oder ich will nichts.“ Die Kompromisslosigkeit der Jugendlichen und ihre Weigerung, sich anzupassen, kontrastieren mit der desillusionierten Haltung des Realpolitikers Kreon, der aus Staatsräson Maßnahmen anordnet, die ihm persönlich zuwider sind. Kreon hat das Amt nicht angestrebt, aber angenommen, als es ihm angetragen wurde, und jetzt stellt er die Amtsführung über sein persönliches Geschick. Antigone findet das erbärmlich. In den Niederungen der Kompromisse und Zugeständnisse will sie nicht leben; sie sagt kategorisch „nein“ und lehnt sich gegen das Gesetz auf, obwohl sie weiß, dass es sinnlos ist und sie den König dadurch zwingt, sie zum Tod zu verurteilen.

Während es bei Sophokles nur zu einer kurzen persönlichen Konfrontation von Kreon und Antigone kommt, bildet ihre Auseinandersetzung bei Jean Anouilh das Herzstück der Tragödie. Vor diesem Dreh- und Angelpunkt dominiert Antigone auf der Bühne, danach geht es vor allem um Kreon – die komplexere der beiden Figuren.

Ebenso wie Sophokles behält auch Jean Anouilh die Einheit von Ort und Zeit bei: Auf der Bühne zeigt er nur Szenen, die hier und jetzt im Königspalast in Theben spielen. Alles andere erfahren wir aus verbalen Äußerungen.

Die griechische Tagödie ist in fünf Akte, einen Prolog und einen Exodus eingeteilt. (In der griechischen Tragödie spricht man allerdings nicht von einem Akt, sondern von einem Epeisodion, also einer Episode.) Anouilh ersetzt diese strenge Form durch eine Gliederung in sieben Sprechszenen und Auftritte eines Sprechers.

Und anstelle des aus fünfzehn thebanischen Greisen bestehenden Chors sieht er nur einen einzelnen Sprecher vor. Der kommentiert das Geschehen zunächst als auktorialer Erzähler von außen, mischt sich jedoch gegen Ende zu in die Handlung ein, indem er sich an Kreon wendet und sich für Antigones Verschonung einsetzt.

Die Bühnenfiguren tragen bei Anouilh zeitgemäße Kleidung und sprechen nicht in Versen wie bei Sophokles, sondern in moderner Prosa, zu der auch Begriffe wie Auto oder Zigaretten gehören.

Die Figur der Amme hat Jean Anouilh hinzugefügt, wohl um zu unterstreichen, dass Antigone am Übergang vom Kind zur Erwachsenen steht. Der blinde Seher Teiresias, der bei Sophokles das Religiöse repräsentiert, fehlt dagegen bei Jean Anouilh.

Jean Anouilh (1910 – 1987) schrieb die Tragödie „Antigone“ zwischen Herbst 1941 und Sommer 1942. Die von André Barsacq inszenierte und von der deutschen Besatzungsmacht genehmigte Uraufführung fand am 6. Februar 1944 im Théâtre de l’Atelier in Paris statt (mit Monelle Valentin als Antigone und Jean Davy als Créon).

Dass Nordfrankreich besetzt war, als Jean Anouilh die Tragödie verfasste, legt die Frage nahe, ob er dabei an die Résistance dachte. Aber als Vorbild für Widerstandskämpfer eignet sich seine Antigone – anders als die gleiche Figur bei Sophokles – kaum, denn sie handelt nur aus einem persönlichen Motiv und verfolgt dabei kein anderes Ziel als die kompromisslose Verneinung.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2013

Sophokles: Antigone

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Aus Erinnerungsbruchstücken setzt sich allmählich ein Bild zusammen – das am Ende wieder in Frage gestellt wird. "Die Tochter" ist ein ernster, verzweifelter und verstörender Roman auf hohem Niveau.
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