Friedrich Ani : Süden und der Straßenbahntrinker

Süden und der Straßenbahntrinker
Süden und der Straßenbahntrinker Originalausgabe: Droemer Knaur, München 2002 ISBN 3-426-62068-5, 206 Seiten Süddeutsche Zeitung / München erlesen München 2008 ISBN: 978-3-86615-630-2, 156 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Bei einer Vermisstenstelle in München erscheint ein 51-Jähriger, stellt sich als Jeremias Holzapfel vor und erklärt, er sei wieder da. Angeblich meldete ihn seine Ehefrau Clarissa vor 4 ½ Jahren als vermisst. Eine entsprechende Anzeige liegt jedoch nicht vor. Obwohl Kommissar Tabor Süden in Urlaub ist, versucht er herauszufinden, was es mit diesem seltsamen Mann auf sich hat ...
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Kritik

Obwohl Friedrich Ani in "Süden und der Straßenbahntrinker" – einem Kriminalroman mit Münchner Lokalkolorit – eine skurrile Geschichte erzählt, wirken die Haupt- und Nebenfiguren lebensnah.
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Hauptkommissar Tabor Süden arbeitet seit zwölf Jahren bei der Vermisstenstelle des Münchner Polizeidezernats 11. Als er dreizehn war, starb seine Mutter. Drei Jahre später verschwand sein Vater. Tabor hat nie wieder etwas von ihm gehört. Er gilt als stur, unberechenbar und einzelgängerisch.

Im Augenblick ist er in Urlaub, um 21 von seinen 78 Tagen Überstunden abzufeiern. Er hat nichts Besonderes vor. Hin und wieder telefoniert er mit seiner Kollegin Sonja Feyerabend. Die ruft ihn eines Abends an und bittet ihn, sich trotz seines Urlaubs am nächsten Tag mit einem Mann im Hauptbahnhof zu treffen. Der Einundfünfzigjährige erschien vor zwei Tagen in der Vermisstenstelle, stellte sich als Jeremias Holzapfel vor und erklärte, er sei wieder da. Angeblich meldete ihn seine Ehefrau Clarissa vor viereinhalb Jahren als vermisst. Offenbar gab es aber keine entsprechende Vermisstenanzeige. Holzapfel fragt dennoch alle paar Stunden nach, ob die Akte inzwischen aufgetaucht sei. Jetzt steht er bei Sonja Feyerabend im Büro.

Wie versprochen, trifft Tabor Süden sich am nächsten Morgen mit Jeremias Holzapfel im Hauptbahnhof. Auf die Frage, wo er viereinhalb Jahre lang gewesen sei, antwortet der seltsame Mann nicht. Plötzlich behauptet er, gar nicht Holzapfel zu heißen und rennt davon.

Das unerklärliche Verhalten des Mannes weckt das Interesse des Kommissars, und obwohl er eigentlich in Urlaub ist, schaut er bei der angegebenen Adresse vorbei: Schießstättstraße 6c. Tatsächlich steht auf dem Türschild „Holzapfel“. Bei der Frau, die dort zur Miete wohnt, handelt es sich um die BWL-Studentin Silvia Bast. Vor knapp einem Jahr vermittelte ihr der Makler Bernhard Schulze die Wohnung, die Clarissa Holzapfel gehört, und aus irgendeinem Grund – Silvia Bast vermutet einen Steuerbetrug – bat er sie, das Türschild nicht auszutauschen.

Kommissar Süden trifft sich mit Bernhard Schulze und erfährt, dass dessen Lebensgefährtin Clarissa Holzapfel vor vier Jahren von ihrem damaligen Ehemann Jeremias geschieden wurde. Bei Holzapfel handele es sich um einen erfolglosen Schauspieler, erzählt Bernhard Schulze, der früher beim Bayerischen Rundfunk als Radiosprecher arbeitete, bis man ihm vor viereinhalb Jahren wegen Alkoholproblemen und Frauengeschichten kündigte.

Horst Junginger von der Pressestelle des Bayerischen Rundfunks, der augenscheinlich mit seiner Sekretärin Eva ein Verhältnis hat, erinnert sich, dass damals über eine angebliche Geliebte Holzapfels getuschelt wurde, und Eva weiß auch noch den Namen der Frau: Inge Hrubesch.

Während sich Tabor Süden im Hauptbahnhof mit seinem Freund und Kollegen Martin Heuer unterhält, der fast rund um die Uhr damit beschäftigt ist, vermisste Kinder und Jugendliche zu suchen, taucht Jeremias Holzapfel auf. Plötzlich ist er wieder verschwunden. Kurz darauf heißt es, ein Unbekannter habe auf der Straße eine Passantin niedergeschlagen. Süden vermutet sofort, dass Holzapfel der Täter ist.

Bei dem Opfer handelt sich um Esther Kolb, eine Frau Anfang vierzig, die ein Billardcafé im Westend betreibt. Als sie am nächsten Tag ihre Anzeige wegen Körperverletzung zurückzieht, sucht Tabor Süden sie auf. Zuerst behauptet sie, den Angreifer nicht erkannt zu haben und keinen Jeremias Holzapfel zu kennen, aber dann lässt sie den Kommissar in die Wohnung, und auf ihrem Bett erkennt er Kleidungsstücke Holzapfels. Sie habe Jerry vor zehn Jahren kennen gelernt, gibt Esther Kolb zu. Damals war sie noch mit Rolf Kolb verheiratet. Trotzdem hatte sie ein Verhältnis mit Jerry. Der sei meistens nachts gekommen, um mit ihr zu schlafen, und mit wenigen Ausnahmen sei er betrunken gewesen. Den Angreifer habe sie wirklich nicht erkannt, doch als Jerry letzte Nacht bei ihr auftauchte, war ihr klar, dass er es war. Am Morgen wechselte er die Kleidung, zog eine Hose, einen Pullover und einen „Ostfriesennerz“ von ihr an und verschwand.

Als nächstes fährt Tabor Süden zu Clarissa Holzapfel. Die Sechsundvierzigjährige arbeitet als Chefredakteurin des lokalen Privatsenders TV9 und hat drei Handys vor sich auf dem Tisch liegen. Während sie zusammen zwei Flaschen Rotwein und ein paar Gläser Grappa trinken, erfährt der Kommissar, dass Clarissa Holzapfel ihren fünf Jahre älteren Mann mit sechzehn kennen lernte, die Wohnung in der Schießstättstraße vor zehn Jahren kaufte und dass Jeremias nach der Trennung von ihr zu seiner Freundin Inge Hrubesch zog.

Am späten Abend holt Süden Esther Kolb vom Billardcafé ab. Sie nimmt ihn mit nach Hause, und die beiden verbringen eine wilde Nacht miteinander im Bett. Tabor Süden ist zwar eigentlich mit der drei Jahre älteren Ute Fröhlich liiert, aber er geht davon aus, dass die Beziehung ohnehin zu Ende ist und nur noch keiner von ihnen den Mut hatte, es auszusprechen.

Weil bei Inge Hrubesch niemand öffnet, holt Kommissar Süden den Hausmeister, der gerade seine Freundin Nike Zons bei sich hat und öffnet mit einem Zweitschlüssel die Wohnungstür. Im Bett liegt sorgfältig zugedeckt eine Tote: Inge Hrubesch. Süden verständigt die Mordkommission, und Rolf Stern übernimmt die Ermittlungen. Der Gerichtsmediziner Silvester Ekhorn schätzt, dass Inge Hrubesch seit Dienstag letzter Woche tot ist, und er wundert sich darüber, dass die Leiche offenbar mehrmals gewaschen und parfümiert wurde. Spuren eines gewaltsamen Todes fand er nicht; Inge Hrubesch starb an einem Gemisch von Alkohol und Tabletten.

Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

Inge Hrubesch war früher Fotomodell. Zuletzt verdiente die Achtundfünfzigjährige noch als Pornodarstellerin ein wenig Geld.

Tabor Süden bestellt Clarissa Holzapfel zur Zeugenvernehmung und teilt ihr mit, dass Inge Hrubesch seit Dienstag letzter Woche tot ist. Daraufhin gibt sie zu, dass ihr Exmann am Mittwoch unerwartet bei ihr geklingelt habe. Er kam die Treppe hoch, aber Bernhard Schulze jagte ihn wieder hinunter auf die Straße und schlug ihn zusammen. Nur mit Mühe konnte Clarissa ihren eifersüchtigen Lebensgefährten von ihm wegzerren. Als sie sich über Jeremias beugte, stammelte er: „Ich hab die Frau umgebracht, die Frau umgebracht.“

Franziska Hrubesch, die zweiundachtzig Jahre alte Mutter der Toten, kommt aus Burghausen nach München. Tabor Süden lädt sie zum Mittagessen ins Weiße Bräuhaus ein. Nachdem sie beide ihren Schweinsbraten verzehrt haben, klärt Franziska Hrubesch den Kommissar darüber auf, dass Inge nicht ihr leibliches Kind war. Sie erzählt, sie habe im Luftschutzbunker auf die kleine Inge aufgepasst, als deren Mutter Paula trotz eines Luftangriffs im Zweiten Weltkrieg zum Bäcker gelaufen sei, um Brot zu kaufen. Als sie nicht mehr zurückkam, nahm Franziska Hrubesch das verwaiste Kind, dessen Vater im Krieg verschollen war, bei sich auf. Nach dem Krieg bekam sie neue Papiere, und von da an war Inge offiziell ihr eigenes Kind. Franziska Hrubesch arbeitete in München als Köchin und wohnte mit ihrer Pflegetochter in Schwabing. In der Jugend war Inge jede Nacht unterwegs, und als Franziska Hrubesch nach Burghausen zog, blieb sie in München.

Durch einen Anruf im Hotel Post in Salzburg erfährt Kommissar Süden, dass ein Mann, auf den die Beschreibung Holzapfels passt, dort die vorletzte Nacht verbrachte. Eingetragen hatte er sich unter dem Namen Franz Hrubesch.

Auf dem Anrufbeantworter hört Tabor Süden einen Hilferuf von Silvia Bast: Jeremias Holzapfel sei in ihre Wohnung eingedrungen und habe sie im Bad eingesperrt. Der Kommissar eilt sofort hin und befreit die Studentin. Holzapfel steht mit einem Küchenmesser da. Nachdem Süden es ihm aus der Hand geschlagen hat, geht er mit ihm zur Straßenbahn. Während der Fahrt zur St.-Veit-Straße und zurück erzählt Holzapfel, dass sich seine Eltern häufig stritten. Um das auszuhalten, habe er sich immer vorgestellt, es handele sich nicht um das wahre Leben, sondern seine Eltern und er seien Schauspieler in einem Theaterstück. Unumwunden gesteht er, seine Freundin mit Alkohol und Tabletten vergiftet zu haben. Süden bittet ihn um Geld für Zigaretten, und als Holzapfel seine Geldbörse herauszieht, entreißt er sie ihm. Darin findet er einen zusammengefalteten Abschiedsbrief von Inge Hrubesch:

„[…] Ich will nicht mehr leben […] alles, was ich konnte, war mich fotografieren lassen und mich ausziehen. Ist das nicht erbärmlich? […] Ich ekele mich so, dass ich mich nicht einmal betrinken kann, und die Tabletten helfen auch nicht mehr.“ (Seite 153f)

Durch den Schock über den Suizid seiner Lebensgefährtin leidet Jeremias Holzapfel unter einer psychogenen Amnesie.

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Friedrich Ani lässt seinen Protagonisten, den wortkargen, eigenbrötlerischen und melancholischen Münchner Hauptkommissar Tabor Süden, als Ich-Erzähler auftreten. Dass dieser Polizeibeamte weder ein Held ist noch dem Klischee eines Kommissars entspricht, macht ihn interessant. Um Tabor Süden gruppieren sich in dem Roman „Süden und der Straßenbahntrinker“ zahlreiche Haupt- und Nebenfiguren, und Friedrich Ani versteht es sehr gut, alle diese Figuren mit wenigen Strichen lebendig wirken zu lassen. Auch beim Chef und den Kollegen handelt es sich um Charaktere, nicht um Schablonen: Volker Thon, der Leiter der Vermisstenstelle, der nach teurem Aftershave duftet und blaue Seidensocken zu seinen Slippern trägt; Martin Heuer, der mit einer sechsundfünfzigjährigen Prostituierten liiert ist, oder Paul Weber, dessen Ehefrau Elfriede vor sechs Jahren an Darmkrebs erkrankt war, sich nach einer Operation erholt zu haben schien und nun im Sterben liegt. Die Alltagsmenschen, der Verzicht auf spektakuläre Ereignisse und die Verwendung der Umgangssprache in den Dialogen geben dem Roman „Süden und der Straßenbahntrinker“ Lebensnähe. Dabei ist die rätselhafte Geschichte, die Friedrich Ani lakonisch erzählt, recht skurril. Zur Authentizität gehört auch, dass München in diesem Kriminalroman mit Lokalkolorit nicht als Idylle darstellt wird, sondern als eine von ganz gewöhnlichen Menschen – darunter vielen Gescheiterten – bewohnte Stadt.

Friedrich Ani wurde vor allem durch die Romane mit der Figur des Münchner Kommissars Tabor Süden bekannt:

  • Die Erfindung des Abschieds. Martin Heuer begeht Selbstmord (1998)
  • German Angst (2000)
  • Verzeihen (2001)
  • Süden und das Gelöbnis des gefallenen Engels (2001)
  • Süden und der Straßenbahntrinker (2002)
  • Süden und die Frau mit dem harten Kleid (2002)
  • Süden und das Geheimnis der Königin (2002)
  • Süden und das Lächeln des Windes (2003)
  • Gottes Tochter (2003)
  • Süden und der Luftgitarrist (2003 – Verfilmung)
  • Süden und der glückliche Winkel (2003)
  • Süden und das verkehrte Kind (2004)
  • Süden und das grüne Haar des Todes (2005)
  • Süden und der Mann im langen schwarzen Mantel (2005)
  • Süden (2011)
  • Süden und die Schlüsselkinder (2011)
  • Süden und das heimliche Leben (2012)
  • M. Ein Tabor Süden Roman (2013)
  • Der einsame Engel. Ein Tabor Süden Roman (2016)

 

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Inhaltsangabe und Buchkritik: © Dieter Wunderlich 2008 / 2015
Textauszüge: © Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf.

Friedrich Ani (Kurzbiografie / Bibliografie)
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