Ralf Rothmann : Hitze

Hitze
Hitze Originalausgabe: Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 2003 ISBN 3-518-41396-1, 292 Seiten Taschenbuch: Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 2005 ISBN 3-518-45675-X, 292 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Durch den Tod seiner Lebensgefährtin wird der Kameramann Simon DeLoo aus der Bahn geworfen. Als er Essen ausfährt und dabei die junge polnische Stadtstreicherin Lucilla kennen lernt, erinnert sie ihn an die Verstorbene. Er versorgt sie mit deren Kleidung, überlässt ihr die leer stehende Wohnung der Toten und verbringt einen Sommer mit ihr in Polen, aber die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen ...
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Kritik

Das Besondere an dem Roman "Hitze" von Ralf Rothmann sind die authentisch wirkenden Milieuschilderungen. Die eigentliche Handlung kommt dagegen mit einem Drittel der Seiten aus.
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Durch den Tod seiner Lebensgefährtin wird der Berliner Kameramann Simon DeLoo kurz nach der Wiedervereinigung Deutschlands aus der Bahn geworfen. Er wohnt in einem heruntergekommenen Hinterhaus. Bei seiner Vermieterin handelt es sich um eine über achtzigjährige Malerin mit dem Namen Lia Andersen. DeLoo gibt seinen Beruf auf und fängt als Ausfahrer bei der Großküche Pohl in Kreuzberg an. Zu den Kunden gehören die Prostituierten in einem schäbigen Bordell, und als er die Arbeiter in einem Schlachthof beliefert, sieht er, wie Schweine geschlachtet werden.

Einmal fragt ihn sein Kollege Emil Klaputzsek:

„Glaubst du eigentlich, dass man eine Frau braucht? Jetzt nicht nur fürs Bett – ich meine, um glücklich zu sein und so?“
DeLoo kurbelte das Seitenfenster runter. Der Geruch von rohem Fleisch im Wagen vermischte sich mit dem von Make-up und Parfüm. „Man ist vollständiger“, sagte er. „Aber glücklich … Ich weiß nicht. Wahrscheinlich ist es gar nicht so wichtig, glücklich oder unglücklich zu sein, oder? Man lebt. Und aus.“ (Seite 107)

DeLoos Vater war kurz nach dem juristischen Staatsexamen zur Wehrmacht eingezogen worden. In Polen hatte er einen fahnenflüchtigen Kommilitonen exekutieren müssen. Nach dem Krieg heiratete er und überließ das Geldverdienen seiner Frau, die ein kleines Steuerberatungsbüro betrieb. Erst als sie in den Fünfzigerjahren mit Simon schwanger wurde, nahm er eine Stelle als Korrektor beim „Tagesspiegel“ an – und das blieb er bis zur Pensionierung. In seiner Freizeit legte er Ordner mit Material über verschiedene Wissensgebiete an, beispielsweise über die Nubier, Waschbeton, Bach, Nadelhölzer.

Weshalb nur …, sagte er leise, fast flüsternd und legte die Hände vor sich hin, als gehörten sie ihm nicht. – Kannst du mir das erklären? Warum muss man ständig etwas tun und erreichen wollen? Kann man nicht einfach nur leben? (Seite 230)

In einer Gruppe von Obdachlosen entdeckt DeLoo eine junge Polin, die ihn an seine verstorbene Lebensgefährtin erinnert. Sie heißt Lucilla. Ihr Hund Bingo hat eine eiternde Verletzung an einer Vorderpfote, und DeLoo erneuert den verschmutzten Verband.

Bald darauf sieht er Lucilla wieder. Die Kleider und Schuhe von seiner toten Freundin, die er der Polin schenkt, passen. Er nimmt sie mit und stellt ihr die leer stehende Wohnung der Toten zur Verfügung. Doch als er am nächsten Tag von der Arbeit nach Hause kommt, ist Lucilla mit dem Hund fort und hat ihm nicht einmal eine Nachricht hinterlassen.

DeLoo sucht nach Lucilla. Aufgrund von Gerüchten vermutet er sie in dem Bordell, das er jeden Tag mit Essen beliefert. Dort übernachtete sie jedoch nur zwei Mal. Eines Tages sitzt sie im Umkleideraum der Großküche und wartet auf DeLoo. Der Hund ist fort. Ihr Kleid ist zerrissen, sie hat Hämatome im Gesicht und Verletzungen am Hals. „Ich will nach Hause“, flüstert sie.

Gemeinsam reisen DeLoo und Lucilla nach Polen und verbringen den Sommer an einem See. In der Hitze zieht Lucilla sich aus, kühlt sich im See ab und legt sich dann am Ufer nackt zu DeLoo und ihrem angeblichen Bruder Marek. Marek verdient seit dem Ende des Kalten Krieges eine Menge Geld als Strohmann. Weil Ausländer Grundstücke in Polen erst nach 30 Jahren Pacht erwerben dürfen, kann Marek mit ihnen Geschäfte machen: Er kauft die gewünschten Grundstücke und verpachtet sie an die Interessenten, die de facto die Besitzer sind. Als Ausländer wissen sie in der Regel nicht, dass in den ersten fünf Jahren keine Grundsteuer anfällt, und Marek – der sie darüber nicht aufklärt – steckt das Geld selbst ein.

Unvermittelt taucht ein weiterer Pole namens Tycu auf, den Lucilla ebenfalls als Bruder ausgibt. Er habe vier Kinder von vier verschiedenen Frauen, behauptet sie.

Als DeLoo begriffen hat, dass Marek Lucillas Ehemann ist und Tycu ihr Liebhaber, kehrt er allein und um eine Illusion ärmer nach Berlin zurück. Er weiß jetzt, dass sich die Zeit nicht zurückdrehen lässt.

Seine Vermieterin Lia Andersen wird seit einiger Zeit von einem angeblichen Kunstexperten mit dem Namen Rosse umgarnt. Er hat der über Achtzigjährigen eine Vernissage versprochen und sie überredet, ihm ihr Haus gegen eine Leibrente zu verkaufen.

Kaum merklich, über Jahre, schleicht es sich ein. Man weiß nicht, was. Mit spitzen Fingern zieht man die Folie ab, vorsichtig, als zöge man ein Häutchen vom Licht. Man hat es geahnt. Die Haltung lässt nach, der Atem wird schlecht, die Stimme matt. Man sieht nicht mehr in den Spiegel, vergisst seinen Geburtstag, ruft nicht zurück. Die Haut wird stumpf, der Blick trüb, die Fußnägel wachsen ein, und plötzlich ist sie verschwunden, die sonst so helle Freude über das erste Birkengrün im Jahr, das Weiß des ersten Schnees … Und dann, nach Unzeiten, kommt sie wieder. Am Morgen nach der Heilung. Am Abend vor dem Tod. (Seite 284)

Einige Zeit später begegnet Emil Klaputzsek seinem früheren Kollegen DeLoo zufällig wieder. Der ist obdachlos und völlig verwahrlost. Als DeLoo auf der Straße zusammenbricht, bittet Klaputzsek eine Frau, die mit ihrer Katze im Arm aus einem Fenster schaut, einen Krankenwagen zu rufen, aber sie weigert sich:

„Nö. Det mach ick nich. Det jibt nur Schererein.“ (Seite 290)

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In fünf Kapiteln hat Ralf Rothmann seinen Roman „Hitze“ gegliedert:

  1. Keine Seife
  2. Die Asche des Brautkleids
  3. Goldene Vorhänge
  4. Das ganze Leben
  5. Reif

Von einem distanzierten auktorialen Erzähler erfahren wir, was Simon DeLoo innerhalb eines Jahres erlebt. Bei dem Protagonisten handelt es sich um einen wortkargen Mann, der über den Verlust seiner Lebenspartnerin nicht hinwegkommt und sich auf eine Verweigerungshaltung zurückgezogen hat. Aber es ist Ralf Rothmann nicht gelungen, daraus einen lebendigen Charakter zu machen. Das hängt damit zusammen, dass er darauf verzichtet hat, uns in die Gedankenwelt von Simon DeLoo einzuführen und sich auf Sichtbares beschränkt. Das Besondere an „Hitze“ sind die authentisch wirkenden Milieuschilderungen: Beispielsweise werden wir mitgenommen in eine Großküche, einen Schlachthof, eine Kneipe, ein schäbiges Bordell und in ein Kellerloch, in dem Obdachlose hausen. Allerdings erkenne ich dabei weder einen roten Faden noch einen engeren Zusammenhang mit der eigentlichen Handlung, die ohnehin nicht mehr als ein Drittel der Seiten beansprucht und bruchstückhaft erzählt wird.

Ralf Rothmann wurde am 10. Mai 1953 in Schleswig geboren, aber er wuchs im Ruhrgebiet auf. Den Besuch der Handelsschule brach er ab. Nach einer Maurerlehre schlug er sich mit Gelegenheitsjobs durch, zum Beispiel als Fahrer für ein Architekturbüro, Hilfskoch, Kneipenbedienung und Krankenpfleger. Seit 1976 lebt er in Berlin.

Ralf Rothmann: Bibliografie (Auswahl)

  • Kratzer und andere Gedichte (1984)
  • Messers Schneide (Erzählung, 1986)
  • Der Windfisch (Erzählung, 1988)
  • Stier (Roman, 1991)
  • Wäldernacht (Roman, 1994)
  • Berlin Blues. Ein Schauspiel (1997)
  • Flieh, mein Freund! (Roman, 1998)
  • Milch und Kohle (Roman, 2000)
  • Gebet in Ruinen (Lyrik, 2000)
  • Ein Winter unter Hirschen (Erzählungen, 2001)
  • Hitze (Roman, 2003)
  • Junges Licht (Roman, 2004)
  • Rehe am Meer (Erzählungen, 2006)
  • Feuer brennt nicht (Roman, 2010)
  • Shakespeares Hühner (Erzählungen, 2012)
  • Sterne tief unten (Roman, 2013)
  • Im Frühling sterben (Roman, 2015)

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2006
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon einen Monat, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte. Aus familiären Gründen reduziere ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik.