Ralf Rothmann : Im Frühling sterben
Inhaltsangabe
Kritik
Die Freunde Walter Urban und Friedrich („Fiete“) Caroli wuchsen als Nachbarjungen in Essen-Borbeck auf und gingen auch zusammen zur Volksschule. Anders als Walter wechselte Fiete aufs Gymnasium, aber wegen seines losen Mundwerks wurde er relegiert. Weil im Zweiten Weltkrieg die meisten Zechen wegen der Luftangriffe schließen mussten, schickte das Arbeitsamt die beiden nach Holstein, und sie fingen auf dem Gut des Generalmajors van Cleef bei Sehestedt eine Melker-Ausbildung an. Ihr Lehrherr, der Verwalter Klaas Thamling, versicherte ihnen, dass sie wegen ihrer kriegswichtigen Arbeit – „kein Krieg ohne Milch!“ – auch nach Vollendung des 18. Lebensjahres nicht mit einer Einberufung zur Wehrmacht rechnen müssten.
Im Februar 1945 folgen die beiden 17-jährigen Lehrlinge und die meisten anderen jungen Leute einer Einladung des Reichsnährstands zu Freibier im Dorfkrug „Fährhof“. Fiete tanzt mit seiner festen Freundin Ortrud, deren ältere Schwester Hedwig als Haushälterin bei den Thamlings beschäftigt ist. Elisabeth Isbahner, Walters ein Jahr jüngere Freundin, trägt zu dem dunkelgrünen Seidenkleid, das Frau Thamling ihr geschenkt hat, Gummistiefel, das einzige Paar Schuhe, das ihr nach der Flucht mit Mutter und Schwester aus Danzig geblieben ist.
Schließlich verstummt die Musik. Tische und Stühle werden gerückt. Offenbar soll eine Rede gehalten werden. Bevor Walter als einer der Ersten aufbricht – als Melker muss er früh aufstehen –, lässt er sich vom Wirt Sybel Jahnson noch ein mit Räucheraal belegtes Brötchen geben, weil er an diesem Abend noch nichts gegessen hat. Dabei fällt er einem SS-Offizier auf: „Na, wenn das kein Prachtexemplar für die Leibstandarte ist.“ Walter erklärt, dass er auf dem Gut als Melker arbeitet. „Wir sind kriegswichtig hier.“
„Kriegswichtig “, grunzte der Offizier. „Was es alles gibt! Jung und gesund und drückt sich in der Milchetappe rum. Habt ihr dafür keine Weiber? […] Setz dich mal rasch wieder in den Saal, Freundchen, da wird dir nämlich gesagt, was wirklich kriegswichtig ist.“
Im Saal hält der kriegsverletzte Ritterkreuzträger Frick eine schneidige Ansprache.
„Wo wir sind, da ist der Sieg, das weiß jeder. Und warum sind wir so stark? Warum lassen wir uns von keinem Granatenhagel auseinandertreiben? […] Weil wir eine Haltung haben, eine Ehre, und das ist kein leerer Begriff, kein Kanzelgeschwätz dünnblütiger Moralapostel.“
Der Ortsbauernführer Mark Hunstein bedankt sich für die Rede und wendet sich dann ans Publikum:
„Darum, meine Freunde, schlage ich vor, dass jeder Mann auf diesem Fest, sei er jung oder älter, jeder, dem das Leben seiner Familie und seiner Scholle lieb ist und der ein Gewehr halten kann, noch heute Abend freiwillig in die siegreiche Waffen-SS eintritt. Das sind wir unseren Helden an der Front einfach schuldig!“
Wer sich nicht zum Kriegseinsetz melden wolle, fährt Hunstein fort, könne aufstehen. Fiete hätte sich wohl erhoben, wenn Walter ihn nicht zurückgehalten hätte.
„Bist du irre? Bleib sitzen! Die Küche ist voller SS. Die machen Hackfleisch aus dir!“
Dass keiner der Anwesenden aufzustehen wagt, quittiert Hunstein mit den Worten:
„Na bitte, ich wusste doch, dass es bei uns keine Drückeberger gibt.“
Den jungen Männern bleibt nichts anderes übrig, als sich von Hedwigs Verlobtem Ernst Kobluhn an Ort und Stelle registrieren zu lassen.
Als Walter die Leiter zu den Melkerstuben hochklettert, stellt er überrascht fest, dass Elisabeth ihn bereits in seinem Bett erwartet. Sie verbringen die letzte Nacht miteinander, bevor Walter und Fiete sich am nächsten Morgen in der Kaserne in Hamburg-Langenhorn melden müssen.
Die Rekruten hoffen, dass der Krieg noch vor dem Ende der Grundausbildung vorbei ist. Immerhin haben die Briten Kleve erreicht, und die Russen stehen an der Oder. Aber die militärische Ausbildung dauert nicht drei Monate, wie üblich, sondern nur drei Wochen. Dann heißt es:
„Ihr dürft euch nun Staffelmänner der Waffen-SS nennen. Eure Kompanie mit allen Scharführern wird den Truppen vor Budapest zugeführt; um einundzwanzig Uhr stehen die Transporter auf dem Hof.“
„Ihr kriegt jetzt eure Blutgruppe eintätowiert. Die sollte ein Soldat zwar stets im Kopf haben, aber wer weiß, wo der gerade liegt.“
Der Scharführer Egon Vatteroth bringt die Einheit über Graz nach Ungarn. Während Fiete an die Front muss, wird Walter als Fahrer eingesetzt. Einmal erhält er den Befehl, drei Fallschirmjäger von einer Mühle abzuholen. Als er hinkommt, stehen der greise Müller, dessen blinde Ehefrau und der buckelige Ziegenhirt Fredo auf drei Hockern in der Scheune. Man hat ihnen die Hände auf den Rücken gebunden und ihnen von einem Deckenbalken herabhängende Schlingen um den Hals gelegt.
Das schwarze Kopftuch der Frau, die zitternd die Zehen in den Strohsitz krallte, hatte Salzränder, die Hosen der Männer waren nass im Schritt.
Walter meldet, dass er die Personen kennt. Boglárka, die Tochter des Müller-Ehepaars, war mit einem vor Budapest gefallenen Donauschwaben verheiratet und kochte erst kürzlich für Walters Einheit.
„Es sind gewöhnliche Zivilisten, nette Leute, wir durften in ihrer Wohnstube schlafen. Und sie haben unsere Verletzten gepflegt und die Transporttiere gefüttert! Die kann man doch nicht einfach liquidieren!“
Aber der Rottenführer nimmt ihn nicht ernst.
„Noch keine Schramme. Hast du schon mal jemanden abgemurkst?“ Walter verneinte, und er runzelte die Stirn. „Wirklich nicht? Menschenskind, was bringt man euch bloß bei Kuchen backen? Na komm, ich zeig’s dir.“
„Bei diesem Pack musst du zusehen, dass der Knoten vorn ist“, sagte der Mann und drehte die Schlinge. „Hängt er hinten, bricht nur das Genick, eine Sache von zwei Sekunden. Aber hier, unterm Kinn, hat der Sauhund mehr davon. Da ist er noch eine Weile bei sich und wird schön langsam verröcheln.“
Mit den Worten „Partisanen, Juden, Huren, wen schert’s?“ tritt einer der Fallschirmjäger den Hocker unter dem Müller weg. Nachdem auch der Ziegenhirt erhängt wurde, sagt einer zu Walter:
„Das war’s schon. […] Keine große Sache, oder? Sollte man mal gemacht haben. Komm her, die Frau ist für dich.“
Walter weigert sich, die blinde Müllerin zu töten. Ein Fallschirmjäger meint dazu:
„Aber gut, wie du willst, bleibt die Alte eben da stehen. Fressen sie die Ratten.“
Zunächst sieht es so aus, als ließen die Männer die Frau zwischen den beiden Erhängten stehen, denen Blut aus den Augen läuft und Kot und Urin von den Füßen tropft. Aber sie binden den Hocker an das Fahrzeug, ohne dass Walter es mitbekommt. Als er anfährt, baumelt auch die Frau am Strick.
Unter den von Walter transportierten Verwundeten ist Jochen, der Sohn des Kommandeurs der inzwischen in Tata / Totis stationierten Versorgungseinheit, Hauptsturmführer Greiff. Jochen erkundigt sich nach Zigaretten, und als Walter antwortet, danach müsse er seinen Vater fragen, zischt Jochen:
„Meinen Vater Ausgerechnet. Den werd‘ ich nicht mal um ein Glas Wasser bitten, den Sack. Dass ich für den Rest meines Lebens mit einer schwarzen Binde rumlaufen muss, hab ich ihm zu verdanken. In der Etappe, da hätte ich eine ruhige Kugel schieben können! Heeresversuchsanstalt Kummersdorf, nicht weit von zu Hause: Meine Mutter hatte das gedeichselt, die mochte mich mehr als ihn, und das fuchste den Alten. Kriegte Angst, dass ich verweichliche und ein Hinterlader werde. Immer schön kalt duschen, rohes Fleisch aufs Brot und ran an den Feind, verstehst du. Die alte Schule.“
Sich vorbeugend, spuckte er zwischen seinen Beinen auf den Boden. „Er kennt den Sepp Dietrich und ließ mich versetzen. Kampfgruppe Ney, nur Schweinebacken und Sadisten. Das hat mich hart gemacht, klar. Aber ein Hundertfünfundsiebziger bin ich trotzdem geworden, auch an der Front. In der Todesangst will jeder noch mal alles erleben, und das hab ich ihm auch geschrieben. Aber jetzt, wo meine Mutter tot ist und unser Haus in Jena ein Haufen Asche, jetzt wird er sentimental und macht auf Familie. Ich scheiß drauf, kannst du mir glauben.“
Tagsüber schluckt Jochen Pervitin, und weil er zum Schlafen Veronal nimmt, kriegt Walter ihn bei einem Tieffliegerangriff nicht wach. Im letzten Augenblick zerrt er ihn aus der Beifahrertür. Alle sechs Verwundeten auf der Ladefläche kommen bei dem Beschuss ums Leben.
In einem notdürftig in einem Palmenhaus eingerichteten Lazarett sehen Walter und Fiete sich wieder. Fiete hat einen Treffer am Schlüsselbein abbekommen. Bis vor einem Jahr wäre das noch ein Heimatschuss gewesen, aber die Zeiten haben sich geändert. Fiete berichtet:
„Unsere Offiziere werfen ihren eigenen Leuten Handgranaten in die Hacken, damit sie überhaupt noch angreifen.“
Fiete hat erfahren, dass seine Eltern bei einem Luftangriff auf Hamburg ums Leben kamen.
Walter hat an seinen Vater keine guten Erinnerungen. Alfred Urban trank zu viel und legte es im Rausch darauf an, den Sohn zu verprügeln und die Tochter zu befummeln. Weil er als Wachmann in Dachau Häftlingen Zigarettenkippen überließ, wurde er degradiert und zur Frontbewährung abkommandiert.
Jemand von der Wachmannschaft hatte Bier verschüttet beim Skat, und die Kippen wurden zum Trocknen auf den Ofen gelegt. Da sind sie fast verbrutzelt, keiner wollte sie mehr rauchen. Also hat er sie den Sträflingen gegeben, und dafür wurde er versetzt, keine Ahnung, wohin.
Aus einem Brief erfährt Walter, dass es seiner zwölfjährigen Schwester Helene und der Mutter verhältnismäßig gut geht. Sie wohnen jetzt beim Beerdigungsunternehmer Herbert Hess, mit dem die 45 Jahre alte Mutter ein Verhältnis hat. Als Walter hört, dass der Vater möglicherweise in Stuhlweißenburg, also ganz in der Nähe, gefallen ist, meldet er sich bei Hauptsturmführer Greiff. Der weiß, dass Walter seinem Sohn das Leben rettete und beabsichtigt, ihn für eine Auszeichnung vorzuschlagen. Aber Walter wäre es wichtiger, ein paar Tage frei zu bekommen, um nach dem Grab seines Vaters suchen zu können. Der Kommandeur stellt ihm einen entsprechenden Marschbefehl für drei Tage aus.
„Sprechen Sie mit niemandem darüber. Gehen Sie zum Schirrmeister und lassen Sie sich ein Fahrzeug und Betriebsstoff für drei Tage aushändigen. […] Danach will ich Sie in Abda wiedersehen, wohin wir uns vorläufig umquartieren. Das liegt südwestlich von Györ an der Raab.“
Bevor Walter sich auf den Weg macht, möchte er sich von Fiete verabschieden, aber im Palmenhaus liegen nur noch Tote. Alle transportfähigen Verwundeten wurden am frühen Morgen nach Györ gebracht.
Walters Suche nach dem Grab seines Vaters bleibt ebenfalls vergeblich. Als er nach drei Tagen wieder zu seiner Einheit stößt, berichten ihm Kameraden, dass Fiete vor seinem erneuten Fronteinsatz zu desertieren versuchte und jetzt im Rübenkeller eingesperrt ist. Er wurde standrechtlich zum Tod verurteilt. Die Wachen lassen Walter nicht zu ihm.
„Hinter diesen Türen sitzen keine Freunde, von niemandem.“
Nach einer Weile findet Walter das richtige Kellerfenster. Fiete erzählt ihm, dass Ortrud schwanger sei und auf dem Standesamt in Schleswig eine Ferntrauung beantragt habe. Weil der Häftling friert, zieht Walter seinen Mantel aus und stopft ihn durch das Fenstergitter.
Seine Hoffnungen setzt er auf Greiff, aber der Hauptsturmführer kam am Vortag bei der Explosion einer Brücke ums Leben. Sturmbannführer Domberg hat jetzt das Kommando. Ihn bittet Walter für seinen Freund um Gnade.
„Bitte, Sturmbannführer – Fiete wollte nicht desertieren, ganz sicher. […]
Er ist eben achtzehn geworden, Sturmbannführer. Die Eltern sind in Hamburg verbrannt, bei den Angriffen, und seine Liebste hat die Fernheirat beantragt, sie kriegt ein Kind.“
Aber nachdem Domberg sich zunächst viel Zeit genommen hat, Walter wegen eines Grammatikfehlers zu belehren, verliert er die Geduld:
„Und jetzt setzen Sie Ihre Eselsfotze auf und machen die Tür von außen zu! Meine Geduld hat Grenzen! Sie und Ihre Stubenkameraden werden ihn morgen früh wie angeordnet füsilieren, und falls Sie sich weigern oder sich einfallen lassen, krank zu sein, können Sie sich gleich mit an die Wand stellen. Ist das klar?!“
Immerhin stempelt er für Walter eine Besuchserlaubnis. Zehn Minuten werden den Freunden für den Abschied gewährt. Walter bringt Fiete nicht nur Weinbrand, Schokolade, Brot, Dauerwurst und Zigaretten mit, sondern auch Schwefelsalbe gegen die Läuse. Die hat er Fiete noch kaum in die Kopfhaut eingerieben, als der Adjutant des Sturmbannführers in den Keller kommt, Walter hinausschickt und Fiete erklärt:
„Ausnahmsweise erhalten Sie die Genehmigung, engste Angehörige zu benachrichtigen. Maximal vierundzwanzig Zeilen, leserlich. Keine Ortsangabe, keine Namen von Kameraden oder Vorgesetzten, keine Äußerungen zum Standrecht.“
Domberg riet Walter noch zynisch, gut zu zielen, um seinem Freund unnötiges Leid zu ersparen. Als Walter gegenüber seinen Kameraden verzweifelt die Absicht äußert, daneben zu schießen, erwidert einer von ihnen:
„Sei kein Idiot, Mann, der stirbt eh. Die zählen die Einschüsse, und wenn einer fehlt, schicken sie uns alle noch vor dem Mittagessen an die Front.“
Am nächsten Morgen führen zwei Fallschirmjäger den zum Tod Verurteilten auf einen Platz und binden ihn an einen Pfahl. Das Peloton, dem auch Walter angehört, erhält den Befehl, zu schießen. Während der Arzt bereits die Einschüsse zählt, weht noch in raschen Stößen Atem aus Fietes Mund und Nase.
Walter bricht zusammen und wird mit unbeherrschbaren Gesichtszuckungen ins Lazarett gebracht.
Bald darauf gerät er mit einigen Kameraden zusammen in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Vorübergehend wird er zunächst in Wagrain, dann in Salzburg und schließlich in einem ehemaligen Konzentrationslager bei München eingesperrt. Bei einer Filmvorführung für die Kriegsgefangenen sitzt auch Hermann Göring unter ihnen, allerdings von 20 Militärpolizisten abgeschirmt.
Walter fährt nach seiner Freilassung nach Essen-Borbeck. Vom Elternhaus ist nur noch Schutt übrig. Die Privat- und Geschäftsräume des Beerdigungsunternehmers Herbert Hess befinden sich im Torhaus des Friedhofs. Er feiert gerade mit einigen Gästen seinen Geburtstag. Sie trinken Bowle. Helene öffnet ihrem Bruder, aber die Mutter stellt erst noch eine Platte ab, bevor sie ihren Sohn anschaut und fragt, warum er sich nicht angekündigt habe.
„Mann, Mann, Mann, wo bringen wir den jetzt unter? Schon wieder ein Esser mehr “
Walter dreht sich um, läuft davon und springt auf die Plattform der Straßenbahn, die soeben angehalten hat.
Er fährt nach Holstein. Klaas Thamling kann ihn jedoch nicht wieder einstellen.
„Ich weiß, was ich euch versprochen hatte, Walter, und ich würde dich auch sofort wieder nehmen. Keiner war so verlässlich. Aber ich hab hier nichts mehr zu entscheiden. Wir produzieren fast nur noch für die Alliierten, wie du siehst, und die stellen alles auf Maschinen um. Bei dreihundertfünfzig Kühen, die wir bis zum nächsten Frühjahr haben sollen, ist das nicht mal unvernünftig. Du bräuchtest unzählige Fachkräfte, und wir würden uns dumm und dämlich an Löhnen zahlen Lieber einmal kräftig investieren.“
[…] Walter trank einen Schluck Wasser und sagte: „Dreihundertfünfzig Kühe? Und dazu die ganzen Kälber jedes Jahr? Aber wo sollen die denn hier weiden, Herr Thamling? Die fressen das Gras ja schneller, als es wachsen kann.“
Der Alte nickte melancholisch. „Das hab ich auch gedacht. Aber sie stehen einfach das ganze Jahr im Stall und kriegen zugekaufte Silage aus Südafrika, so läuft das demnächst. Gekalbt wird nur noch mit Flaschenzug oder per Kaiserschnitt, und diese modernen Melkmaschinen kann jeder Vollidiot anstöpseln. Die haben so raffinierte Unterdruck-Ventile, mein lieber Mann Kein Preismelker kommt mit denen mit.“
Immerhin gibt es noch ein paar kleine landwirtschaftliche Betriebe, die sich die neuen Maschinen nicht leisten können. Klaas Thamling schreibt Walter die Adresse eines Pferdezüchters auf, der für seine 35 Milchkühe einen Melker sucht, allerdings nur ein Ehepaar einstellen will. Elisabeth arbeite inzwischen als Kellnerin in Kiel, sagt Thamling und rät Walter, sie zu heiraten und sich mit ihr um die Stelle zu bewerben. Der Verwalter stellt dem Jungen sein Auto zur Verfügung.
Weil die Fähre, mit der Walter den Kanal überqueren will, von der schwangeren Ortrud und ihrem Vater bedient wird, bleibt Walter unerkannt am Ufer und fährt weiter zur nächsten Fähranlegestelle. In der von Thamling genannten Kieler Gaststätte meint Elisabeth bei Walters Anblick:
„Ich glaub’s nicht! Diese Bauern Der Mann zieht in ’n Krieg und bringt mir nicht mal ’ne Bluse mit.“
Aber dann zeigt sie ihm ihre Dachkammer und schläft mit ihm. Auf Walters Heiratsantrag antwortet sie:
„Wer heiratet denn mit siebzehn, wenn er nicht muss?“
Am nächsten Morgen sagt sie dann doch noch „ja“.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Ralf Rothmann veranschaulicht in seinem Roman „Im Frühling sterben“ das Absurde und Barbarische jedes Kriegs anhand einer tragischen Geschichte aus den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs. Dabei schildert er keine Schlachten. Die Handlung spielt nicht einmal an der Front. Dennoch sind die Erlebnisse des 17-jährigen Protagonisten Walter Urban kaum zu ertragen, weil Ralf Rothmann das Geschehen auf ein auswegloses Dilemma und ebenso markante wie bestürzende Szenen verdichtet. Weder erläutert er die ausgesprochen realistisch dargestellten Ereignisse, noch kommentiert er sie. Vieles wird in Dialogen wiedergegeben. Auffallend ist die Detailkenntnis des erst sieben Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg geborenen Autors.
Die eigentliche, 1945 spielende Handlung ist in eine Rahmenhandlung eingebettet, durch die der Eindruck entsteht, dass der Sohn des Protagonisten den Text, den wir lesen, Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg geschrieben hat.
Im Unterschied zum Hauptteil tritt in der Rahmenhandlung ein Ich-Erzähler auf. Der schildert zu Beginn, wie sein schweigsamer Vater, der nach dem Krieg fast 30 Jahre lang als Hauer im Ruhrpott gearbeitet hatte, aus gesundheitlichen Gründen in Frührente gehen musste, darüber alkoholkrank wurde und 1987 im Alter von 60 Jahren starb.
Im Epilog fährt der Ich-Erzähler, der in Belgien zu tun hat, mit dem Zug von Berlin nach Oberhausen, um das Grab seiner Eltern im Ortsteil Tackenberg zu suchen, das seine Tante Leni nicht länger pflegen kann. Er muss entscheiden, ob es eingeebnet oder die Pacht verlängern werden soll. Nachdem er den Taxifahrer gebeten hat, auf ihn zu warten, kauft er in der Friedhofsgärtnerei einen der fertigen Sträuße, aber er findet das Grab seiner Eltern nicht mehr.
Mehrere Male arbeitet Ralf Rothmann in „Im Frühling sterben“ mit Spiegelungen, etwa wenn Walter Urban während des Kriegs in Stuhlweißenburg / Székesfehérvár vergeblich nach dem Grab seines vermutlich dort gefallenen Vaters Alfred sucht und Walters Sohn Jahrzehnte später das Grab seiner Eltern auf dem Friedhof in Oberhausen-Tackenberg nicht mehr findet.
Ob Ralf Rothmann in „Im Frühling sterben“ wenigstens ansatzweise von sich und seinem Vater erzählt, wissen wir nicht. Bemerkenswert ist jedenfalls, dass er nicht dem Schema der Abrechnung der Nachkriegsgeneration mit den Vätern folgt.
Walter Urban ist 17 Jahre alt, als er einem Offizier mit dem Aufdruck „Frundsberg“ am Ärmelstreifen auffällt und gezwungen wird, sich zur Waffen-SS zu melden. Er fügt sich in das Unausweichliche, wird unschuldig schuldig und leidet ein Leben lang unter der Traumatisierung.
17 Jahre alt war auch Günter Grass, als er zur 10. SS-Panzer-Division „Frundsberg“ kam.
Den Roman „Im Frühling sterben“ von Ralf Rothmann gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Thomas Sarbacher (Regie: Anna Hartwich, ISBN 978-3-95713-020-4).
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2015
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag
Ralf Rothmann: Hitze
Ralf Rothmann: Die Nacht unterm Schnee