Michela Murgia : Chirú

Chirú
Originalausgabe: Chirú Giulio Einaudi editore, Turin 2015 Chirú Übersetzung: Julika Brandestini Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2017 ISBN: 978-3-8031-3287-1, 201 Seiten ISBN: 978-3-8031-4225-2 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die 38-jährige erfolgreiche Theater­schauspielerin Eleonora ist für den 20 Jahre jüngeren Musikstudenten Chirú vorübergehend nicht nur eine Mentorin, sondern auch ein wenig Psycho­therapeutin, Freundin, platonische Geliebte, Mutter, und sie führt ihn in die Welt der Künstler ein. Eleonora wiederum sucht Rat nicht nur bei einer Freundin, sondern auch bei einem älteren Architekten und heiratet schließlich einen ebenfalls älteren Operndirektor ...
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Kritik

Bei der Ich-Erzählerin in "Chirú" handelt es sich um eine selbst­bewusste, eigen­ständige und welt­gewandte Schauspielerin, die den heuchlerischen Betrieb des Kultur­lebens längst durchschaut hat, die Menschen genau beobachtet und viel nachdenkt.
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Eleonoras Schüler

Die erfolgreiche 38-jährige Theaterschauspielerin Eleonora lässt sich von dem 17 Jahre alten Chirú überreden, ihn als Mentorin in die Welt der Künste einzuführen und ihm zu zeigen, wie man sich in diesem Teil der Gesellschaft bewegt. Chirú studiert am Konservatorium in Cagliari und möchte Geiger werden, aber er folgt mehr seiner Begeisterung als einem konkreten Plan.

Ich habe Chirú an dem Geruch von Fäulnis erkannt, der aus seinem Inneren drang, derselbe Geruch wie bei mir.

Chirú ist Eleonoras vierter Schüler. Den ersten, Teo, der mit 15 angefangen hatte, Mandarin zu lernen, unterwies sie vier Jahre lang, bis er nach Peking übersiedelte. Der zweite hieß Alessandro und war 16 Jahre alt, als er sich wegen einer Semesterarbeit über ein Theaterstück von Bertolt Brecht an sie wandte. Nin, den dritten ihrer Schüler, lernte sie bei einem Theaterworkshop an seiner Schule kennen. In diesem Fall ging die Initiative von ihr aus. Der 17-Jährige erhängte sich vor acht Jahren. Eleonora erfuhr es erst einen Monat später. Auf einen Zettel hatte er geschrieben: „Ich schaffe es nicht“. Weil Eleonora ahnte, dass er sich von ihr überfordert gefühlt hatte, wird sie noch immer von Schuldgefühlen geplagt.

Chirú meint über Eleonora: „Du bist unglücklich mit Klasse.“

Eleonora führt Chirú in die Welt der Künstler ein

Eleonora nimmt Chirú mit zu einer Party des Produzenten Ernesto Rampini in Rom. Die Gäste stammen aus der Welt des Theaters, des Kinos und des Fernsehens, aber auch aus der Werbung und der Prostitution. Chirú beobachtet, wie heuchlerisch sich die Leute begrüßen, und Eleonora erklärt ihm, es sei hier normal, jeden zu hassen, aber man dürfe es nicht zeigen.

Ein älterer Herr interessiert sich für Chirú, aber der Junge geht nicht auf ihn ein. Danach weist Eleonora ihren Schützling darauf hin, dass es sich um den Direktor der Oper in Stockholm gehandelt habe, der für ihn nützlich hätte sein können.

Sie lädt Chirú zu einer Probe für eine bevorstehende Theatertournee ein. Er sitzt neben der Regisseurin und deren Assistentin im Zuschauerraum, während Eleonora auf der Bühne eine Einpersonen-Szene spielt, in der sie sich bis auf den Slip entkleidet.

Eltern und Waisen

Widerstrebend kommt Chirú ihrer Forderung nach, ein Treffen mit den Eltern zu arrangieren. Der Vater ist Apotheker, die Mutter arbeitet als Beamtin des Zollamts im Hafen von Cagliari. Vor allem den Vater kann Eleonora nicht ausstehen, nicht zuletzt, weil er sie an ihren eigenen erinnert.

In den ersten acht Jahren ihrer Kindheit war sie glücklich. Dann kauften die Eltern zwar ihrem älteren Bruder Daniele auf dem Patronatsfest in Cagliari die gewünschte Wasserpistole, aber Eleonora, die einen Spielzeug-Eiswagen haben wollte, ging leer aus, nicht nur wegen des Preises, sondern vor allem, weil sie ihr von der Mutter in wochenlanger Arbeit gestricktes weißes Kleid beschmutzt hatte. Zu Hause schlug der Vater sie mit dem Gürtel und hielt ihr vor, dass man sich ihretwegen habe schämen müssen. Er hielt es für geboten, sie früh darauf hinzuweisen, dass es ihr an weiblicher Grazie fehle. Damals meinte die Mutter: „Wenigstens hat sie was im Kopf.“ Aber als Eleonora im Rechnen versagte, sprach der Vater ihr auch das ab.

Auch mein Vater war einer dieser Menschen [die von sich behaupten, immer zu sagen, was sie denken], doch bei ihm manifestierte sich die vorgebliche Aufrichtigkeit umso mehr, je persönlicher er wurde. Sein Verlangen nach Ehrlichkeit war nicht demokratisch, es stieg vielmehr proportional mit dem Grad der Vertrautheit und erreichte seine weißglühende Intensität erst, wenn es den engsten Familienkreis betraf, in dem Brutalität und Intimität zu Synonymen verschmolzen. Schon oft im Leben habe ich beobachtet, wie Menschen der Meinung waren, eine Vertrautheit berechtige sie dazu, die Regeln des Anstands zu verletzten, doch mit sechzehn glaubte ich noch, dieses Verhalten sei eine spezielle Macke meines Vaters, die aus seiner Überzeugung erwuchs, dass man nur das, was man mit Füßen treten konnte, auch wirklich liebte.

Die Begegnung mit Chirús Eltern bestärkt Eleonora in der Ansicht, „dass es viele Arten gab, Waise zu sein, das Sterben der Eltern war nur die am leichtesten zu erklärende Variante.“

Eleonoras Bezugspersonen

Rat sucht Eleonora bei dem Architekten Fabrizio Rossari in Rom. Mit ihm hatte sie vor 16 Jahren eine Liebesbeziehung begonnen. Die ging zwar nach sieben Jahren zu Ende, aber die beiden sind enge Freunde und Vertraute geblieben.

Vor sechs Jahren – drei Monate vor der geplanten Hochzeit – verließ Eleonora den 35-jährigen Diplomkaufmann Stefano Piras. Seither hatte sie keine ernst zu nehmende Liebesbeziehung.

Zum Jahreswechsel besucht sie ihre Freundin Teresa in Turin, eine Lehrerin für Mathematik und Naturwissenschaften, die sich vor einiger Zeit von ihrem gewalttätigen Mann befreite und ihre Unabhängigkeit erkämpfte. Teresa meint, Eleonora sei für Menschen, die in ihre Nähe geraten und nicht genügend Masse aufweisen, ebenso gefährlich wie ein Schwarzes Loch für Himmelskörper.

Eleonora in Stockholm

Die Theatertournee beginnt in Stockholm. Die 22-jährige lesbische Fotografin Casia, die für die Schauspielerin als Stadtführerin engagiert wurde, beklagt sich darüber, dass man es als Künstlerin in Schweden schwer habe, weil man die Menschen in diesem Land nicht mit Tabubrüchen provozieren könne. Wie soll man da als Künstlerin einen Skandal auslösen?

In Stockholm trifft Eleonora den künstlerischen Leiter der Oper wieder und erfährt nun auch seinen Namen. Martin de Lorraine erinnert sich an sie und an den Jungen, der ihn auf der Party des Produzenten Ernesto Rampini in Rom ignorierte.

Er erklärt Eleonora, dass man in Skandinavien das Gesetz von Jante beachten müsse. Es steht im krassen Gegensatz zum Kult der Individualität, denn es verlangt von allen Menschen, sich anzupassen.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Spoiler

In der restlichen Zeit des Aufenthalts in Stockholm schläft Eleonora jeden Tag mit Martin de Lorraine, dessen Ehe vor drei Jahren geschieden wurde.

Zwar hatte sie Chirú versprochen, ihn nachkommen zu lassen, aber sie holt ihn weder nach Stockholm noch nach Prag, der nächsten Station der Tournee. Erst bei der Premiere in Florenz sitzt er im Publikum.

Danach begleitet er sie ins Hotel. Seine Freundin Anna hat ihn wegen eines anderen Jungen verlassen, und seine Freundschaft mit dem Kommilitonen Luca, der von einer Karriere als Bariton träumt, bedeutet ihm kaum noch etwas, weil Luca seinen Ansprüchen nicht mehr genügt. Ohne die Hose auszuziehen, legt Chirú sich zu Eleonora ins Bett und schläft ein.

Nachdem er sie ein einziges Mal geküsst hat, weiß er, dass er abreisen muss und die Beziehung beendet ist.

Eleonora heiratet Martin. Vier Jahre nachdem sie Chirú fortgeschickt hat, ist sie schwanger und unternimmt mit ihrem Ehemann eine Romreise. Als sie in einem Restaurant essen, sieht Eleonora Chirú mit dem etwa 60 Jahre alten Orchester­leiter Jakob Rothstein hereinkommen. Der 22-Jährige scheint sie nicht bemerkt zu haben. Er setzt sich mit dem Rücken zu ihr dem Älteren gegenüber, und Eleonora entgeht nicht, wie geschickt und auf seinen Vorteil bedacht Chirú mit ihm umgeht. Die Lektionen, die sie ihm erteilte, waren nicht umsonst.

Martin wundert sich, als er die Rechnung verlangt und erfährt, dass sie bereits beglichen wurde. Er fragt seine Frau, ob Bekannte von ihr unter den Gästen seien. Sie sagt nein. Draußen meint er, Chirú erkannt zu haben, aber Eleonora erwidert: „Dieser Junge war ein Unbekannter.“

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In ihrem melancholischen Roman „Chirú“ erzählt Michela Murgia eine Lehrerin-Schüler-Geschichte der besonderen Art. Die 38-jährige erfolgreiche Theater­schauspielerin Eleonora ist für den 20 Jahre jüngeren Musikstudenten Chirú vorübergehend nicht nur eine Mentorin, sondern auch ein wenig Psycho­therapeutin, Freundin, platonische Geliebte, Mutter, und sie führt ihn in die Welt der Künstler ein. Eleonora wiederum sucht Rat nicht nur bei einer Freundin, sondern auch bei einem älteren Architekten und heiratet schließlich einen ebenfalls älteren Operndirektor.

Während Michela Murgias wuchtiger Debütroman „Accabadora“ im archaischen Milieu eines sardinischen Dorfes spielt, bewegen wir uns in „Chirú“ in der Welt der Künstler. Auch die Sprache der beiden Bücher ist grundverschieden. Bei der Ich-Erzählerin in „Chirú“ handelt es sich um eine selbstbewusste, eigenständige und weltgewandte Prominente, die den heuchlerischen Betrieb des Kulturlebens längst durchschaut hat, die Menschen genau beobachtet und viel nachdenkt, beispiels­weise über die psychische Prägung. Immer wieder assoziiert Eleonora eigene Erfahrungen aus der Vergangenheit mit gegenwärtigen Erlebnissen. Im Roman werden daraus Rückblenden.

Passenderweise hat Michela Murgia jedes der Kapitel mit „Lektion“ überschrieben, und auf „Lektion 17“ folgt nicht ein vier Jahre nach der Haupthandlung spielender Epilog, sondern eine „Letzte Lektion“.

Das von Martin de Lorraine erwähnte Gesetz von Jante gibt es tatsächlich. Der Begriff geht auf den 1933 von dem dänisch-norwegischen Schriftsteller Aksel Sandemoses (1899 – 1965) veröffentlichten Roman „Ein Flüchtling kreuzt seine Spur“ zurück. Jante ist darin eine (fiktive) dänische Kleinstadt, in der Espen Amakke unter einem enormen Anpassungsdruck aufwächst. Mit dem Gesetz von Jante ist ein skandinavischer Verhaltenskodex gemeint, demzufolge der in anderen Ländern gepflegte Kult der Individualität verpönt ist und es statt auf den Erfolg Einzelner auf den von Kollektiven ankommt. In dieser Gesellschaft möchte niemand auffallen und herausragen. Die einen sehen darin eine wünschenswerte Einschränkung von Egoismus und Egomanie, die anderen beklagen die Unterdrückung der persönlichen Entfaltung und die Einebnung individueller Unterschiede, also der Pluralität in der Gesellschaft.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2017
Textauszüge: © Verlag Klaus Wagenbach

Michela Murgia: Accabadora
Michela Murgia: Murmelbrüder
Michela Murgia: Drei Schalen

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon einen Monat, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte. Aus familiären Gründen reduziere ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik.