Michela Murgia : Accabadora

Accabadora
Originalausgabe: Accabadora Giulio Einaudi editore, Turin 2009 Accabadora Übersetzung: Julika Brandestini Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2010 ISBN: 978-3-8031-3226-0, 176 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Weil ihre verwitwete Mutter nicht weiß, wie sie vier Töchter ernähren soll, überlässt sie Maria, die Jüngste, der kinderlosen Schneiderin Bonaria Urrai, die im selben sardischen Dorf lebt. Maria merkt, dass Bonaria hin und wieder nachts fortgerufen wird, aber erst als ihr Freund Andría Bastíu behauptet, Bonaria habe seinen älteren Bruder umgebracht, ahnt sie, was es mit den nächtlichen Ausgängen ihrer Pflegemutter auf sich hat ...
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Kritik

Michela Murgia räsoniert nicht, sondern inszeniert in einer wortkargen, vitalen Sprache eine packende Geschichte, die in einer archaischen Umgebung spielt. "Accabadora" ist eine Perle anspruchsvoller Literatur.
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„Kind des Herzens“

Im Dorfladen von Soreni auf Sardinien hört Bonaria Urrai, wie die Witwe Anna Teresa Listru sich darüber beklagt, dass sie vor sechs Jahren noch ungewollt ein viertes Kind bekam. Sie wisse kaum, wie sie ihre vier Töchter ernähren solle, denn ihr bei einem Unfall ums Leben gekommener Ehemann Sisinnio habe ihr nichts hinterlassen. Eine Woche später einigt Bonaria sich mit Anna Teresa darauf, Maria als „Kind des Herzens“ zu sich zu nehmen.

Fillus de anima, Kinder des Herzens.
So nennt man die Kinder, die zweimal geboren werden, aus der Armut einer Frau und der Unfruchtbarkeit einer anderen. (Seite 7)

In Soreni verstand man nur zu gut, warum Anna Teresa Listru ihre jüngste Tochter zu der Alten gegeben hatte. Sie hatte die Ratschläge der Ihren ignoriert, den falschen Mann geheiratet und die darauffolgenden fünfzehn Jahre damit verbracht, über diesen Mann zu jammern, der bewiesen hatte, dass er nur für eine einzige Sache gut war. Bei den Nachbarinnen beklagte sich Anna Teresa Listru oft, dass ihr Ehemann es nicht einmal geschafft hatte, ihr im Tod nützlich zu sein, indem er beispielsweise im Krieg gestorben wäre und ihr eine Pension hinterlassen hätte. Ausgemustert wegen Untauglichkeit, war Sisinnio Listru auf ebenso dumme Weise gestorben, wie er gelebt hatte, zerquetscht wie eine Weintraube in der Presse vom Traktor Boreddu Arresis, bei dem er zeitweilig Halbpächter war. (Seite 9)

Bonaria, die ihren Lebensunterhalt als Schneiderin verdient, hatte die Schule nur bis zur dritten Klasse besucht. Im Alter von zwanzig Jahren verliebte sie sich in Raffaele Zincu, aber der kam aus dem Ersten Weltkrieg nicht zurück.

Der Krieg hatte ihr das Brautkleid geraubt, auch wenn einige im Dorf munkelten, dass Raffaele Zincu gar nicht wirklich in der Schlacht an der Piave gefallen sei: Eher glaubte man, er habe dort eine Frau gefunden und sich, schlau wie er war, Heimreise und lästige Erklärungen erspart. Vielleicht war das der Grund, warum Bonaria Urrai schon seit ihrer Jugend eine alte Frau war, und keine Nacht schien Maria so schwarz wie ihre Röcke. Das Dorf war voll von Witwen, deren Ehemänner in Wahrheit lebten, das wussten die Klatschweiber und das wusste auch Bonaria Urrai, und darum trug sie den Kopf stets hoch erhoben, wenn sie morgens frisches Brot kaufen ging. (Seite 10f)

Für Maria Listru ist es ungewohnt, in einem großen Haus mit offenen Türen zu wohnen und jemandem wichtig zu sein. Rasch fasst sie Vertrauen zu ihrer weisen und gerechten Pflegemutter.

Als sie zwei Jahre bei ihr lebt, wacht sie nachts durch ein Klopfen an der Haustüre auf. Ein Mann flüstert mit Bonaria, die daraufhin das Haus verlässt und mit ihm weggeht. Maria wundert sich, was die alte Frau mitten in der Nacht zu tun hat. Am nächsten Tag sucht Bonaria mit ihr Rachela Litorra auf, um ihr ebenso wie die anderen Dorfbewohner zum Tod ihres Ehemanns Giacomo zu kondolieren. Die Hinterbliebenen haben bereits ein Klageweib engagiert.

Hin und wieder muss Maria ihrer leiblichen Mutter bei der Arbeit helfen oder sich mit ihren Schwestern an der Weinernte beteiligen. Anna Teresa versteht nicht, warum Maria gern zur Schule geht.

„Die Schule ist vollkommen unnötig […] Es reicht aus, im Laden das Wechselgeld zählen und etwas unterschreiben zu können, mehr braucht es nicht, denn man muss ja schließlich kein Doktor werden. Schaut mich an, ich bin nur bis zur dritten Klasse in die Schule gegangen, und trotzdem hat mich noch niemand übers Ohr gehauen, auch kein Studierter!
[…] Was willst du denn werden, Maria? Mandeldoktorin? Professorin für Säume und Knopflöcher wie Tzia Bonaria Urrai?“ (Seite 49)

Das Hochzeitsbrot

Nachdem Bonacatta, Marias älteste Schwester, acht Jahre lang als Dienstmädchen bei Giuanni Asteri gearbeitet und ihre Aussteuer zusammengespart hat, verlobt sie sich mit Antonio Luigi Cau. Am Hochzeitstag schaut Maria sich heimlich das kunstvoll verzierte Hochzeitsbrot an, das bei einer sardinischen Trauung wichtiger ist als die Eheringe. Es wird beim Offertorium dargeboten und später – mit Holzpolitur gegen Schimmel und Käfer besprüht – von den frischgebackenen Eheleuten in einem Glasrahmen an die Wand gehängt.

Ein Kunstwerk aus Mehl und Wasser, so filigran, dass nur wenige Frauen die Kunst seiner Herstellung beherrschten. (Seite 53)

Maria weiß, dass sie ein Verbot übertritt, indem sie das Hochzeitsbrot heimlich anschaut. Das erregt sie ebenso wie der Gedanke an die Eheschließung ihrer Schwester und der Duft des Backwerks. Wie es wohl wäre, wenn ein Mann sie betrachten würde?

Und doch war das Mädchen im Spiegel noch keine Braut: Die kleinen Brüste drückten so sanft gegen die ausgebleichte geblümte Bluse, dass sie sich sogar unter dem dünnen Stoff kaum abzeichneten. (Seite 54)

Auf der Suche nach einer vielversprechenderen Weiblichkeit öffnet Maria ihre Bluse und setzt sich das Hochzeitsbrot wie eine Krone vorsichtig auf den Kopf. Da hört sie Schritte. Ihr erster Impuls ist es, die Brüste zu verhüllen. Dabei rutscht ihr das Hochzeitsbrot herunter und zerbricht auf dem Fußboden.

Accabadora (1)

Als Maria nach diesem Vorfall heimkommt, ist Bonaria nicht da.

Bonaria wurde zu dem seit zwei Jahren kranken und seit acht Monaten bettlägerigen Greis Jusepi Vargiu gerufen. Seine Tochter ließ sie holen und entfernte bereits alle christlichen Symbole aus dem Zimmer, die ihn im Diesseits zurückhalten könnten. Angeblich redet er seit Wochen kein Wort mehr. Bonaria besteht zunächst darauf, mit Jusepi allein gelassen zu werden. Sobald sie die Türe schließt, murmelt der Alte:

„Am Ende haben sie dich also gerufen …“ (Seite 59)

Wie alle anderen Dorfbewohner weiß Jusepi Vargiu, dass Bonaria Urrai als Accabadora tätig ist, also Sterbehilfe leistet. Als die Accabadora jedoch merkt, dass die Tochter des Kranken log und es noch nicht Zeit für Jusepis Tod ist, rät sie den Angehörigen, den alten Mann nicht verhungern zu lassen und verlässt grußlos das Haus.

Nicola

Bei der Weinernte hat Maria sich mit Andría, dem jüngeren Sohn des Landwirts Salvatore Bastíu und dessen Ehefrau Giannina, angefreundet.

Die Ländereien der Bastíu waren ein wenig größer als die umliegenden, weil Gott es so gefügt hatte, dass es über die Jahre mehr Testamentsvollstreckungen als Erben gegeben hatte. (Seite 32)

Wann mit der Weinernte begonnen werden soll, bestimmt jedes Jahr der blinde Greis Chicchinu Bastíu. Er wird dazu in die Weingärten geführt, denn er erkennt den richtigen Zeitpunkt am Geruch.

Die Jahre vergehen. Nicola neckt seinen Bruder Andría, weil er merkt, dass dieser sich in Maria verliebt hat, es aber nicht wagt, darüber mit ihr zu reden.

Eines Tages hören Salvatore, Nicola und Andría Bastíu eine Art Wimmern aus einer Trockenmauer, die die Grenze des Besitzes bildet. Sie finden das unheimlich. Als sie nachsehen, entdecken sie einen eingemauerten Hundewelpen und stellen fest, dass die Steine um etwa zweihundert Meter versetzt wurden. Das Tieropfer sollte ein nochmaliges Verrücken der Mauer verhindern. Die Männer bringen das gerettete Tier zu Bonaria, und Maria gibt dem Welpen den Namen Mosè.

Dass sein Vater nichts gegen die Grenzverschiebung durch Manuele Porrescu unternimmt, erträgt Nicola nach vier Jahren nicht länger. Beim Anblick des reifen Korns auf dem geraubten Land beschließt er, anstelle seines Vaters zu handeln und legt Feuer. Das bleibt nicht unbemerkt: Nicola wird von einer Gewehrkugel ins rechte Bein getroffen. Der Carabiniere, der den Fall untersucht, weiß genau, dass die acht Zeugen lügen, die beteuern, es habe sich um einen Jagdunfall gehandelt, aber er kann nichts gegen die Dorfgemeinschaft unternehmen.

Es gibt Orte, an denen die Wahrheit gleichbedeutend ist mit der Meinung der Mehrheit. (Seite 68)

Weil sich die Wunde infiziert, öffnet Doktor Mastinu sie noch zweimal, aber er kann nicht verhindern, dass sich Nicolas Zustand weiter verschlechtert. Im Krankenhaus Mont’e Sali wird ihm das Bein amputiert.

Danach redet Nicola kaum noch ein Wort, und er reagiert auf nichts. Nur wenn Bonaria nach ihm schaut, beleben sich seine Augen. Er möchte, dass ihm die Accabadora beim Sterben hilft. Bonaria tut so, als verstehe sie ihn nicht, aber Nicola gibt nicht auf:

„Und ob Ihr versteht.“ Nicola senkte seine Stimme zu einem Flüstern, in seiner Verzweiflung war er erbarmungslos. „Santino Litorra hat mir erzählt, was Ihr mit seinem Vater gemacht habt. Ich verlange nichts anderes.“ (Seite 72)

Bonaria sträubt sich:

„Nicht einmal, wenn ich wollte, könnte ich tun, was du von mir verlangst. Es ginge nicht ohne die Zustimmung deiner Familie.“ (Seite 87f)

Doch da weiß Nicola einen Ausweg: In der Nacht von Allerheiligen, wenn alle Türen für die Seelen offenstehen, soll die Accabadora sich einschleichen und unbemerkt Sterbehilfe leisten. Bonaria ist entsetzt:

„Du verlangst von mir, dass ich mich schuldig mache, vor Gott und vor den Menschen. Du bist außer dir, Nicola.“ (Seite 88)

Der verzweifelte Zwanzigjährige droht damit, sich auch ohne ihre Hilfe das Leben zu nehmen. Für seine Eltern würde das viel schlimmer sein, als wenn sie glauben könnten, er sei im Schlaf eines natürlichen Todes gestorben.

Schon im letzten Jahr wollte Andría an Allerheiligen unbedingt wach bleiben und den Seelen beim nächtlichen Mahl zuschauen, aber er schlief ein. Diesmal soll ihm das nicht passieren. Tatsächlich ist er wach, als eine geheimnisvolle Gestalt das Haus betritt und zu Nicola ins Zimmer geht. Erst nachdem Nicola der Accabadora noch einmal versichert hat, dass er sterben will, öffnet sie einen Terrakotta-Behälter und lässt ihn betäubende Dämpfe einatmen. Sobald er das Bewusstsein verloren hat, erstickt sie ihn mit dem Kopfkissen. Weinend verlässt sie das Haus und bemerkt Andría nicht, der alles beobachtet hat und verstört zurückbleibt.

Doktor Mastinu vermutet, dass Nicola an einem Infarkt starb.

Accabadora (2)

Unter den wehklagenden Dorfbewohnern, die sich um den Toten scharen, befinden sich auch Bonaria und Maria. Andría hält es im Sterbezimmer nicht aus. Er geht hinaus und übergibt sich draußen. Maria folgt ihm besorgt. Als er der Neunzehnjährigen unvermittelt einen Heiratsantrag macht, meint sie, das sei nicht der richtige Augenblick dafür und erklärt ihm unumwunden, dass sie ihn nicht liebe, sondern in ihm eine Art Bruder sehe. In seinem Schmerz und seiner Verwirrung behauptet Andría, Bonaria habe Nicola umgebracht. Bestürzt fragt Maria nach, und der Junge berichtet stammelnd, was er sah.

Statt sich wieder zu den anderen zu gesellen, geht Maria nach Hause und wartet auf Bonaria. Jetzt beginnt sie zu begreifen, was es mit den geheimnisvollen nächtlichen Ausflügen ihrer Pflegemutter auf sich hat: Bonaria ist eine Accabadora!

Bonaria leugnet es nicht; sie weist nur darauf hin, dass Nicola ausdrücklich um Sterbehilfe gebeten habe. Aber das ändert nichts an Marias Fassungslosigkeit.

Als Bonaria vierzehn Jahre alt war, half sie mit den anderen Frauen einer Cousine ihres Vaters, die ein Kind bekam. Der Säugling war gesund, aber die junge Mutter erholte sich nicht mehr von der schweren Geburt.

Als die Frau selbst um den Gnadenakt bat, war es für die anderen selbstverständlich zu handeln, und es wäre ihnen unrecht vorgekommen, es nicht zu tun. Niemand hatte Bonaria in dieser Situation etwas erklärt, aber das war auch nicht nötig gewesen, denn sie verstand, dass dem Leiden der Mutter mit derselben Natürlichkeit ein Ende bereitet wurde, wie die Nabelschnur des Kindes durchschnitten worden war. (Seite 99)

Neuanfang

Maria will fort von Bonaria, aber auch nicht zurück zu ihrer Mutter. Deshalb wendet sie sich an Maestra Luciana, ihre frühere aus dem Piemont stammende, seit vier Jahrzehnten mit dem Großgrundbesitzer Giuseppe Meli in Soreni verheiratere Lehrerin. Luciana vermittelt sie an Attilio und Marta Gentili in Turin, die für ihre fünfzehn bzw. zehn Jahre alten Kinder Piergiorgio und Anna Gloria ein Kindermädchen suchen.

Während der Überfahrt nach Genua versucht Maria, zur Accabadora ihrer Erinnerungen zu werden, denn sie will in Turin ein neues Leben anfangen.

Während Anna Gloria rasch Vertrauen zu dem neuen Kindermädchen fasst, bleibt ihr Bruder distanziert.

Zweiundzwanzig Monate vergehen. Eines Tages, als Attilio und Marta Gentili verreist sind, schlägt Anna Gloria vor, in den Park zu gehen. Dabei weiß sie genau, dass sie und ihr Bruder nur mit den Eltern ins Freie dürfen. Piergiorgio weist seine Schwester denn auch zurecht. Kurz darauf ist Anna Gloria verschwunden. Verzweifelt suchen Maria und Piergiorgio nach der Elfjährigen. Als sie erfolglos zurückkommen, sitzt Anna Gloria vor der Türe.

An diesem Abend hört Maria, die in einer Art begehbarem Schrank zwischen den Kinderzimmern schläft, Piergiorgio schluchzen. Sie öffnet seine Tür und geht zu dem Jungen. Zuerst fordert er sie auf, sein Zimmer zu verlassen, dann lässt er zu, dass Maria sich auf die Bettkante setzt, und schließlich erzählt er ihr, warum er und Anna Gloria nicht ohne die Eltern ins Freie dürfen. Vor fast zwei Jahren spielten sie mit anderen Kindern zusammen am Flussufer Verstecken. Keines der miteinander schwatzenden Kindermädchen bemerkte, dass Piergiorgio im Gebüsch von einem Mann missbraucht wurde. Die Eltern erklärten sich seine Verhaltensänderung mit einem Sturz, entließen das Kindermädchen und verboten Piergiorgio und Anna Gloria, ohne sie aus dem Haus zu gehen. Vom Trauma ihres Sohnes ahnen sie bis heute nichts. Maria ist die Einzige, der er sein Geheimnis anvertraut. In ihren Armen schläft er ein.

Von diesem Tag an verhält Piergiorgio sich aufmerksam und hilfsbereit gegenüber Maria. Den Eltern gefällt seine Galanterie, denn sie sehen darin ein Zeichen seiner zunehmenden Reife, aber Marta Gentili belauert die beiden eifersüchtig.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Rückkehr

Maria weiß, dass Piergiorgio sie begehrt, aber sie achtet darauf, dass es zu keinen sexuellen Körperkontakten kommt.

Als sie durch einen Brief ihrer Schwester Regina nach Soreni zurückgerufen wird, weil Bonaria nach einem Schlaganfall halbseitig gelähmt ist, fällt es ihr schwer, mit Piergiorgio darüber zu sprechen. Erst in der dritten Nacht geht sie zu ihm und kündigt ihr Fortgehen an. Der Junge will, dass sie bei ihm bleibt und umklammert sie mit den Armen. Marta Gentili, die das Quietschen der Türe gehört hat, alarmiert ihre Eltern, die Maria mit Piergiorgio eng aneinandergeschmiegt auf dem Bett sitzend überraschen und das Kindermädchen auf der Stelle entlassen.

Eineinhalb Jahre lang siecht Bonaria dahin. Maria pflegt sie aufopferungsvoll. Don Frantziscu Pisu, der langjährige Pfarrer von Soreni, fragt, ob er Bonaria die letzte Ölung geben solle, aber die Alte lässt ihn nicht in ihre Nähe. Als Maria die Hoffnung auf eine Genesung ihrer Pflegemutter aufgeben muss, räumt sie alle christlichen Symbole fort, aber statt zu sterben, verfällt Bonaria in Agonie. Die Dorfbewohner nehmen deshalb an, sie habe noch eine Schuld zu büßen.

Dass Andría die Accabadora, die seinen Bruder tötete, noch einmal sehen möchte, wundert Maria. Ihr Jugendfreund hält ihr vor, der Aufenthalt auf dem Festland habe sie arrogant gemacht und gibt ihr zu bedenken, dass es vielleicht gar nichts gebe, was er Bonaria verzeihen müsste.

Endlich ringt Maria sich durch, ein Kissen hochzuheben, doch bevor sie es der Accabadora aufs Gesicht hätte drücken können, stellt sie fest, dass die alte Frau tot ist.

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Die Sardinierin Michela Murgia erzählt in ihrem Debütroman eine erschütternde Geschichte über eine Accabadora und ein „Kind des Herzens“.

Unter einer femmina accabadora oder Accabadora versteht man in Sardinien eine Sterbehilfe leistende Frau.

Anthropologen sind sich nicht einig, ob sie tatsächlich existiert hat oder ob es sich um eine mythologische Figur handelt. Einigen Quellen zufolge wirkte die letzte Accabadora 1952 in Orgosolo. Sie ist Gegenstand vieler sardischer Legenden, in denen sie häufig zugleich auch die Funktion der Hebamme bekleidet. (Seite 172)

Bei der fillus de anima bzw. fill’e anima handelt es sich um …

… eine in Sardinien seit langem praktizierte Form der Adoption, die mit dem Einverständnis der beteiligten Familien – und ganz ohne behördliche Formalitäten – geschieht. Sie beruht allein auf Zuneigung. Eine kinderreiche Familie gibt eines ihrer Kinder an ein Paar, das keine Kinder hat. Das Kind bleibt aber in engem Kontakt zu seiner ursprünglichen Familie. – Wörtlich übersetzt „Kind der Seele“, im Unterschied zum leiblichen Kind. Wir haben die Bezeichnung „Kind des Herzens“ gewählt, weil sie den Sinn dieser Tradition im Deutschen besser wiedergibt. (Seite 172f)

Eine weise alte Frau, die in ihrem Dorf als Accabadora fungiert, und das ihr anvertraute Mädchen stehen im Mittelpunkt des Romans. Mit wenigen Worten gelingt es Michela Murgia, die beiden Figuren einprägsam zu charakterisieren. Stringent und wuchtig veranschaulicht die katholische Theologin, wie Maria von ihrer Pflegemutter lernt, dass die Unterscheidung zwischen Gut und Böse nicht immer einfach ist. So kann Sterbehilfe ein Akt der Barmherzigkeit sein.

Die Dinge passieren eben nicht mit göttlicher Fügung, sondern erfordern menschliches Handeln; Schicksalsergebenheit ist eine Sache von feigen Männern in Soutanen. (Jutta Person in ihrer Rezension von „Accabadora“, Süddeutsche Zeitung, 15. Mai 2010)

Dabei räsoniert Michela Murgia nicht über ihr Thema, sondern setzt sich in einer packend inszenierten Handlung damit auseinander. Abwechselnd erzählt sie aus verschiedenen Perspektiven, vor allem aus den Blickwinkeln Marias und der Accabadora. In einer Schlüsselszene (Seite 92ff) wechselt sie gleich mehrmals zwischen den Perspektiven Andrías, Nicolas, der Accabadora und eines neutralen Beobachters.

Das archaische Milieu in einem sardinischen Dorf trägt zu der dichten, düsteren, manchmal unheimlichen Atmosphäre des Romans bei. Entscheidend ist dabei allerdings die ebenso wortkarge wie harte und vitale Sprache der sardischen Schriftstellerin. Dieser besondere „Sound“ und der ernste Inhalt machen „Accabadora“ zu einer Perle anspruchsvoller Literatur.

In diesem bäuerlichen Kosmos ist wenig Platz für sentimentale Wallungen, aber jenseits des kargen Taglebens blühen Zaubersprüche und magische Kräfte. Ganz ähnlich klingt auch de Sprache, die Michela Murgia für diese ebenso verschwiegene wie anspielungsreiche Welt erfunden hat: Nüchtern und zugleich poetisch sind – auch in der gelungenen Übersetzung von Julika Brandestini – ihre Sätze, die einen Metaphernfächer aufklappen und sich im nächsten Moment doch wieder hinter eine ironische Andeutung zurückziehen […] (Jutta Person a. a. O.)

Dass es im Deutschen nicht „ein neues Paar Hosen“ (Seite 15) heißt, sondern „eine neue Hose“, sei nur kurz angemerkt. Und: Gab es Anfang der Sechzigerjahre in einem sardischen Dorf bereits Jeans und Fernsehgeräte?

Michela Murgia wurde am 3. Juni 1972 in Cabras auf Sardinien geboren. Nach dem Theologiestudium erteilte sie einige Zeit Religionsunterricht. Ihre eigenen Erfahrungen mit Telemarketing in einem Callcenter verarbeitete sie in dem 2006 veröffentlichten tragikomischen Tagebuch „Il mondo deve sapere“, das Paolo Virzì zu dem Film „Tutta la vita davanti“ anregte. „Accabadora“ ist ihr erster Roman.

Originaltitel: Tutta la vita davanti – Regie: Paolo Virzì – Drehbuch: Francesco Bruni, Paolo Virzì, nach dem Buch „Il mondo deve sapere“ von Michela Murgia – Kamera: Nicola Pecorini – Schnitt: Esmeralda Calabria – Musik: Franco Piersanti – Darsteller: Isabella Ragonese, Sabrina Ferilli, Elio Germano, Valerio Mastandrea, Massimo Ghini, Micaela Ramazzotti, Giulia Salerno, Sabrina Ferilli u.a. – 2008; 115 Minuten

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2010
Textauszüge: © Verlag Klaus Wagenbach

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Marco Balzano verknüpft in seinem Roman "Ich bleibe hier" historische Tatsachen mit einer fiktiven Handlung, konkretisiert auf diese Weise die tragischen Entwicklungen und macht daraus eine zeitlose, eindringliche – und keineswegs deprimierende – Geschichte über politische und unternehmerische Rücksichtslosigkeit, kulturelle Identität, Widerstand und Entwurzelung.
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