Haruki Murakami : Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki
Originalausgabe: Shikisai wo motanai Tazaki Tsukuru to,kare no junrei no toshi, Tokio 2013 Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki Übersetzung: Ursula Gräfe DuMont Buchverlag, Köln 2014 ISBN: 978-3-8321-9748-3, 318 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der 36 Jahre alte, in Tokio lebende japanische Ingenieur Tsukuru Tazaki leidet noch immer darunter, dass ihn seine vier engsten Schulfreunde vor 16 Jahren verstießen, ohne ihm dafür eine Begründung zu geben. Seine neue, zwei Jahre ältere Freundin Sara Kimoto meint, er müsse das Trauma bewältigen, damit es nicht zwischen ihnen stehe. Also macht Tsukuru Tazaki sich auf, um mit den früheren Freunden zu reden – und erfährt von einem unerklärlichen Verrat ...
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Kritik

Haruki Murakami wirft mehr Fragen auf als er beantwortet. Die Figuren bleiben farblos. Die Handlung gleitet ruhig dahin, die Atmosphäre wirkt melancholisch. "Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki" ist auf Dialogen und Reflexionen aufgebaut.
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Tsukuru Tazaki ist 36 Jahre alt. Der in Tokio lebende japanische Ingenieur arbeitet seit 14 Jahren für eine Bahngesellschaft. Eigentlich wollte er Bahnhöfe bauen, doch weil dafür selten Bedarf ist, besteht seine Aufgabe in der Optimierung bestehender Bahnhöfe.

Vor kurzem lernte er eine zwei Jahre ältere Frau kennen, die in einem Reisebüro arbeitet: Sara Kimoto. Als sie zum dritten Mal miteinander ausgingen, kam sie mit zu ihm und ging mit ihm ins Bett.

Er vertraut ihr an, dass er als 20-Jähriger während des Studiums ein halbes Jahr lang an nichts anderes als den Tod dachte, weil er von seinen Freunden verstoßen worden war.

Tsukuru Tazaki hatte in einem Vorort seiner Heimatstadt Nagoya eine staatliche Oberschule besucht und sich in der zehnten Klasse mit zwei Mädchen und zwei anderen Jungen angefreundet, die ebenfalls aus Mittelschichtfamilien stammten. Bis zum Abitur bildeten sie eine enge Gemeinschaft. Um die Harmonie nicht zu zerstören, versuchte Tsukuru Tazaki die Körper der Freundinnen zu ignorieren, und die anderen unterdrückten ihre sexuellen Begierden vermutlich ebenso wie er. In den Namen der Freunde kamen Farben vor: Sie hießen Kei Akamatsu (Rotkiefer), Yoshio Oumi (blaues Meer), Yuzuki Shirane (weiße Wurzel), Eri Kurono (schwarzes Feld) und riefen sich nach den Bezeichnungen der Farben Aka (rot), Ao (blau), Shiro (weiß), Kuro (schwarz). Nur für Tsukuru Tazaki hatten sie keinen Spitznamen, denn weder sein Vor- noch sein Nachname hat etwas mit Farben zu tun. Er glaubt noch heute, dass das kein Zufall ist, denn er hält sich für farblos.

Tsukuru hatte jedenfalls keine besondere Begabung, auf die er stolz sein oder mit der er sich vor anderen hervortun konnte. Zumindest fand er das. Er war in allem mittelmäßig. Oder farblos.

Ich glaube, ich bin ein nutzloser, langweiliger Typ geworden. Für andere und auch für mich selbst.

Der farblose Herr Tazaki, sagte er laut.

Ich habe mich immer für einen farblosen, hohlen Typen ohne besondere Kennzeichen gehalten. Und das war vermutlich auch meine Rolle in der Gruppe: leer zu sein.

Ich komme mir vor wie ein leeres Gefäß. Vielleicht habe ich eine gewisse Form, aber von Inhalt kann keine Rede sein.

Als Einziger aus dem Freundeskreis verließ Tsukuru Tazaki die Heimatstadt und immatrikulierte sich an der technischen Hochschule in Tokio. Die anderen blieben in Nagoya. Aka und Ao studierten Wirtschaftswissenschaften, Kuro Anglistik und Shiro besuchte die Musikhochschule. Wenn Tsukuru Tazaki in den Ferien nach Hause kam, trafen sich die fünf Freunde wieder. Im zweiten Jahr änderte sich das unvermittelt: Zunächst ließen sich die vier Freunde am Telefon verleugnen, dann rief Ao zurück und forderte ihn im Namen auch von Aka, Shiro und Kuro auf, sie in Ruhe zu lassen. Sie wollten nichts mehr mit ihm zu tun haben. Eine Begründung erhielt Tsukuru Tazaki nicht, und er weiß bis heute nicht, warum ihn die anderen damals verstießen.

Ein Jahr später freundete er sich mit dem zwei Jahre jüngeren Physikstudenten Fumiaki Haida (graues Feld) an, dem Sohn eines Philosophieprofessors, den er beim Schwimmen kennengelernt hatte. Aber die Freundschaft hielt nur acht Monate lang; dann meldete sich Fumiaki Haida von der Universität ab und verschwand, ohne sich von Tsukuru Tazaki zu verabschieden.

Der erzählt nun Sara alles – bis auf einen häufig wiederkehrenden Traum von Shiro und Kuro. Sie sind 16 oder 17 Jahre alt, nackt und erregen sich gegenseitig, indem sie sich streicheln. Tsukuru Tazaki penetriert dann Shiro – immer nur sie, niemals Kuro –, aber als er zum Orgasmus kommt, ist unvermittelt Fumiaki Haida da und schluckt das Ejakulat.

Sara meint, dass er herausfinden müsse, was vor 16 Jahren vorfiel. Sie werde erst wieder mit ihm schlafen und eine ernsthafte Beziehung mit ihm in Erwägung ziehen, wenn er mit den vier ehemaligen Freunden gesprochen habe, sagt sie. Andernfalls stehe das Trauma zwischen ihnen. Sie lässt sich die vier Namen von ihm geben und forscht im Internet nach den Adressen.

Rasch findet sie die der beiden Männer in Nagoya heraus. Kuro lebt allerdings in Helsinki, und Shiro ist seit sechs Jahren tot.

Tsukuru Tazaki fährt über ein langes Wochenende nach Nagoya und sucht zunächst Yoshio Oumi auf, der als Abteilungsleiter in einem Autohaus arbeitet. Der frühere Schulfreund ist seit sechs Jahren verheiratet, hat einen Sohn, und seine Frau ist erneut schwanger. Warum sich die Freunde damals von Tsukuru Tazaki trennten? Weil Shiro behauptet hatte, sie sei nach Tokio gereist, um ein Konzert zu besuchen und habe bei dem gemeinsamen Freund übernachtet. Dabei sei sie von ihm vergewaltigt und defloriert worden. Tsukuru Tazaki beteuert, dass Shiro ihn kein einziges Mal in Tokio besucht habe und er ihr auch an keinem anderen Ort zu nah gekommen sei. Shiro gab nach dem Abschluss der Musikhochschule Klavierunterricht und zog schließlich aus unbekannten Gründen nach Hamamatsu, wo sie zwei Jahre später, am 12. Mai vor sechs Jahren, in ihrer Wohnung mit einem Schal erdrosselt wurde. Es handelte sich nicht um einen Raubmord, und es gab auch weder Spuren eines Einbruchs noch einer tätlichen Auseinandersetzung. Shiros Leiche lag drei Tage lang in der Wohnung, bis ihre Mutter sie entdeckte. Der Mordfall blieb unaufgeklärt.

Zwei Tage nachdem Tsukuru Tazaki bei Yoshio Oumi war, sucht er ebenfalls unangemeldet Kei Akamatsu in dessen Büro auf. Aka hatte mit 27 geheiratet, aber die Ehe war nach eineinhalb Jahren geschieden worden. Er vertraut seinem früheren Freund an, dass er sich mehr zu Männern als zu Frauen hingezogen fühle. Nach dem Wirtschaftsstudium fing er in einer Bank zu arbeiten an, aber das langweilte ihn und er wechselte nach drei Jahren zu einem anderen Kreditinstitut. Dort blieb er zwei Jahre, dann kündigte er und baute ein Unternehmen auf, das Management-Seminare anbietet, zum Beispiel Selbsterfahrungskurse. Anfangs führte Kei Akamatsu die Veranstaltungen selbst durch. Inzwischen machen das Angestellte für ihn. Er leitet das Unternehmen und bildet die Kursleiter aus. Als Tsukuru Tazaki sagt, er habe Shiro nicht vergewaltigt, zweifelt Kei Akamatsu ebenso wenig wie Yoshio Oumi an seiner Unschuld.

Zurück in Tokio, berichtet Tsukuru Tazaki seiner Freundin Sara von den Treffen mit den beiden ehemaligen Freunden. Sie geht daraufhin wieder mit ihm ins Bett, doch obwohl er sie begehrt, reicht seine Erektion nicht aus, um in sie einzudringen.

Manchmal hält er es für möglich, dass er Shiro nicht nur vergewaltigte, sondern später auch erdrosselte und dies verdrängte.

In der Stadt sieht er Sara einmal Hand in Hand mit einem älteren Mann, aber er wagt nicht, sie darauf anzusprechen.

Obwohl er damit rechnen muss, dass Eri Kurono mit ihrer Familie verreist ist, fliegt Tsukuru Tazaki ohne Ankündigung nach Finnland. Sara bucht ihm die Flüge und das Hotel. Erst vom Hotel aus ruft er Eri an. Ein Anrufbeantworter meldet sich mit einer von einem Mann gesprochenen Ansage, die Tsukuru Tazaki nicht versteht. Deshalb setzt er sich mit Saras finnischer Kollegin in Helsinki in Verbindung. Olga kommt zu ihm ins Hotel. Nachdem sie sich die Bandansage angehört hat, erklärt sie Tsukuru Tazaki, die Familie Haatainen halte sich im Sommerhaus auf. Olga ruft die angegebene Telefonnummer an und findet unter dem Vorwand, ein Paket zustellen zu wollen, die Adresse heraus.

Mit einem Leihwagen fährt Tsukuru Tazaki nach Hämeenlinna und sucht dort das Sommerhaus. Edvard Haatainen empfängt den überraschenden Besucher freundlich. Seine Frau Eri ist nicht da. Sie geht mit den beiden kleinen Töchtern spazieren. Edvard Haatainen arbeitet als Töpfer. Er spricht japanisch, denn er lebte fünf Jahre lang in Japan und besuchte die Kunsthochschule in Aichi. Dort lernte er Eri Kurono kennen, die nach dem Sprachstudium Töpfern gelernt hatte. Vor acht Jahren heirateten sie in Nagoya. Dann zogen sie nach Finnland.

Als Eri zurückkommt, wundert sie sich über den Besucher, den sie zunächst gar nicht erkennt. Ihr Mann fährt mit den Kindern zum Einkaufen, damit seine Frau und ihr früherer Schulfreund ungestört miteinander reden können.

Wieder beteuert Tsukuru Tazaki seine Unschuld. Eri Kurono-Haatainen weiß, dass er Shiro nichts antat. Shiro war damals tatsächlich vergewaltigt worden, aber die Geschichte mit dem Besuch bei Tsukuru Tazaki hatte sie erfunden. Warum sie ihn zum Sündenbock machte? Vielleicht, weil sie in ihn verliebt war und nicht darüber hinwegkam, dass sie sich nicht von ihm begehrt fühlte. Tsukuru Tazaki kann sich nicht vorstellen, dass eine der beiden Freundinnen in ihn verliebt war, doch Eri klärt ihn darüber auf, dass zumindest sie an ihm auch als Sexualpartner interessiert gewesen sei.

Shiro wurde durch die Vergewaltigung schwanger und erlitt später eine Fehlgeburt. Das Trauma machte ihr schwer zu schaffen. Sie litt aber auch darunter, dass ihr Talent als Pianistin ihren Ansprüchen nicht genügte. Vermutlich erkrankte sie psychisch, jedenfalls wurde sie magersüchtig. Eri kümmerte sich um sie, bis Edvard Haatainen mit ihr nach Finnland zog. Als Shiro ermordet wurde, war Eri schwanger und flog deshalb nicht zur Trauerfeier. Ihrer ersten Tochter gab sie den Vornamen der toten Freundin: Yuzu.

In diesem Moment erkannte Tsukuru Tazaki es. Er begriff endlich in den Tiefen seiner Seele, dass es nicht nur die Harmonie war, die die Herzen der Menschen verband. Viel tiefer war die Verbindung von Wunde zu Wunde. Von Schmerz zu Schmerz. Von Schwäche zu Schwäche. Es gab keine Stille ohne den Schrei des Leides, keine Vergebung, ohne dass Blut floss, und keine Überwindung ohne schmerzhaften Verlust. Sie bildeten das Fundament der wahren Harmonie.

Als er wieder in Tokio ist, telefoniert er mit Sara und bittet sie um ein Treffen, damit er ihr über die Reise berichten kann. Außerdem sagt er, er habe das Gefühl, dass es in ihrem Leben noch einen anderen Mann gebe. Sara verabredet sich mit ihm in drei Tagen. Dann werde sie sich seinen Bericht anhören und offen mit ihm reden. Bis dahin soll er sich gedulden.

Mitten in der Nacht ruft Tsukuru Tazaki sie an und klingelt sie aus dem Schlaf, um ihr eine Liebeserklärung zu machen. Noch einmal vertröstet Sara ihn auf das vereinbarte Treffen.

Am Abend vor dem Tag, an dem sie verabredet sind, wählt er ihre Nummer, legt jedoch gleich wieder auf. Vermutlich steht sein Name auf dem Display ihres Telefons. Jedenfalls ruft sie zweimal zurück. Tsukuru Tazaki hebt nicht ab.

Sara, dachte Tsukuru. Ich möchte deine Stimme hören. Mehr als alles andere. Aber ich kann jetzt nicht mit dir sprechen.

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In dem Roman „Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki“ geht es um Selbstfindung und Vergangenheitsbewältigung. Haruki Murakami erzählt von einem 36-jährigen Japaner, der noch immer darunter leidet, dass ihn seine vier engen Freunde vor 16 Jahren verstießen, ohne ihm dafür eine Begründung zu geben. Seine neue, zwei Jahre ältere Freundin Sara Kimoto meint, er müsse das Trauma bewältigen, damit es nicht zwischen ihnen stehe. Also macht Tsukuru Tazaki sich auf, um mit den früheren Freunden zu reden und erfährt von einem unerklärlichen Verrat.

Haruki Murakami wirft mehr Fragen auf als er beantwortet. Warum Tsukuru Tazaki zu Unrecht beschuldigt wurde, eine der beiden Freundinnen vergewaltigt zu haben, bleibt ebenso im Dunkeln wie deren spätere Ermordung. Und der Roman bricht ab, bevor sich Tsukuru Tazaki und Sara Kimoto zur entscheidenden Aussprache treffen. Ob die Liebesbeziehung der beiden eine Zukunft hat oder nicht, lässt Haruki Murakami offen.

Obwohl selbst banale Alltagsverrichtungen wie das Anziehen eines Schlafanzugs minutiös geschildert werden, bleiben die Charaktere farblos. Das gilt besonders für Sara Kimoto. Sie ist kaum mehr als eine Stichwortgeberin für den Protagonisten. Immerhin bringt sie ihn dazu, sich mit seinem traumatischen Erlebnis vor 16 Jahren auseinanderzusetzen.

Äußerlich geschieht in „Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki“ wenig. Die Handlung gleitet ruhig dahin. Der Roman ist auf Dialogen und Reflexionen aufgebaut. Die Atmosphäre ist verhalten melancholisch. Emotionale Ausbrüche gibt es keine. Wie ein Leitmotiv erwähnt Haruki Murakami immer wieder das Charakterstück „Le mal du pays“ (Heimweh) aus dem Zyklus „Années de pèlerinage“ (Pilgerjahre) für Klavier von Franz Liszt.

Die Meinungen der Kritiker über „Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki“ sind recht unterschiedlich. Burkhard Müller schreibt von einem spannenden Buch „trotz der großen Ruhe seines Tons“ (Süddeutsche Zeitung, 11. Januar 2014). Karl-Markus Gauss hält den Roman dagegen für „umständlich erzählt, verschwenderisch mit philosophischen Plattitüden durchwirkt“ (Neue Zürcher Zeitung, 25. Februar 2014) und Frank Schäfer spricht von „gravitätischem Pipifax“ (Die Tageszeitung, 3. Februar 2014).

Den Roman „Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki“ von Haruki Murakami gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Wanja Mues (Regie: Margrit Osterwold, Hamburg 2014, 535 Minuten, ISBN: 9783844909821).

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2014
Textauszüge: © DuMont Buchverlag

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon einen Monat, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte. Aus familiären Gründen reduziere ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik.