Pierre Lemaitre : Wir sehen uns dort oben
Inhaltsangabe
Kritik
Im Oktober 1918 hört der französische Soldat Albert Maillard an der Front das Gerücht von einem möglichen Kriegsende durch einen Waffenstillstand.
Die meisten aus der Einheit begannen auf Zeit zu spielen, und schnell zeigte sich eine klare Trennlinie zwischen denen, die wie Albert das Ende des Krieges am liebsten einfach abgewartet hätten, auf ihrem Marschgepäck sitzend, rauchend und Briefe schreibend, und denen, die darauf brannten, alles aus den letzten Tagen herauszuholen und sich noch ein bisschen mit den Deutschen zu schlagen.
Diese Trennlinie entsprach genau jener Kluft, die sich zwischen den Offizieren und den Soldaten auftat.
Leutnant Jean d’Aulnay-Pradelle sieht die Chance schwinden, vor dem Kriegsende durch eine Heldentat zum Hauptmann zu avancieren. Seine bisherigen Versuche blieben vergeblich.
Vor zwei Monaten hat er ein Dutzend Deutsche, die sich ergeben hatten, zusammengetrieben und im Kreis Aufstellung nehmen lassen. Die Gefangenen sahen sich fragend an, keiner verstand. Aus der Hand warf er eine Granate in die Mitte des Kreises, zwei Sekunden später explodierte sie.
Aber der ehrgeizige Offiier gibt nicht auf. Am 2. November befiehlt er den Soldaten Louis Thérieux und Gaston Grisonnier, feindliche Stellungen zu erkunden. Wenige Minuten, nachdem die beiden den Schützengraben verlassen haben, sind Schüsse zu hören, und sie stürzen tot zu Boden. Da befiehlt Leutnant d’Aulnay-Pradelle einen Sturmangriff auf die Boches am Frontabschnitt 113.
Albert Maillard stolpert beim Stürmen über seinen von einer Kugel am Bein getroffenen Kameraden Édouard Péricourt und stürzt auf Gaston Grisonniers Leiche. Gleich daneben liegt Louis Thérieux. Als Albert Maillard aufsteht und die beiden Toten anschaut, fällt ihm auf, dass die Einschüsse am Rücken sind, und er begreift, dass Leutnant d’Aulnay-Pradelle die beiden Männer erschoss, um den Hass der Soldaten auf die Deutschen zu schüren und sie trotz des bevorstehenden Waffenstillstands zu einer Attacke zu motivieren.
Dem Offizier, der zurückgeblieben ist, um die beiden Leichen zu beseitigen, entgeht nicht, dass einer der Soldaten Verdacht geschöpft hat. Wild entschlossen rennt er auf den Mann zu und stößt ihn in einen Granattrichter. Der ist zwar nicht tief, aber es gelingt Albert Maillard nicht, an den glitschigen Lehmwänden hochzuklettern.
Gleich darauf explodiert in unmittelbarer Nähe eine Handgranate, und die dabei aufgeworfene Erde verschüttet Albert. Sein Körper ist wie festgenagelt, aber er kann seine Hände bewegen und fängt an, damit so viel Erde wie möglich vor seinem Gesicht wegzuschaufeln – bis er auf einen halb verwesten Pferdekopf mit riesigen gelben Zähnen direkt vor sich starrt.
Albert geht die Luft aus. Seine Lungen schmerzen, Krämpfe durchzucken ihn. Er muss nachdenken. Es hilft nichts, Verzweiflung gewinnt die Oberhand, eine schreckliche Todesangst erfasst ihn.
Die Handgranate stammte von Leutnant Pradelle. Er zog sie ab und legte sie zwischen die Leichen der beiden von ihm hinterrücks ermordeten Soldaten, um die Spuren zu beseitigen.
Zwei Tote weniger im Großen Krieg.
Und zwei Vermisste mehr.
Weil die Detonation nicht nur die beiden Toten zerfetzt, sondern auch den Zeugen im Granattrichter bei lebendigem Leib begräbt, braucht Leutnant d’Aulnay-Pradelle keine weitere Handgranate zu zünden.
Der Soldat Édouard Péricourt stürzte mitten im Lauf, als sein Bein von einer Kugel zerfleischt wurde. Am Boden liegend, beobachtet er, wie der Leutnant die Handgranate abzieht und davonläuft. Nach der Explosion robbt er sich näher heran, sieht die Spitze eines Bajonetts aus der Erde ragen und fängt trotz unerträglicher Schmerzen mit den Händen zu wühlen an. Nachdem er das Bajonett freigelegt hat, gräbt er damit weiter. Der verschüttete Kamerad scheint tot zu sein. Édouard Péricourt erhebt sich so weit wie möglich und lässt sich dann mit seinem ganzen Gewicht auf die Brust des anderen Mannes fallen. Daraufhin beginnt Albert zu husten und zu kotzen – während ein Granatsplitter Édouard Péricourt den Unterkiefer wegreißt.
Die Deutschen ergeben sich nach zwar zunächst heftigem, aber kurzem Widerstand am Frontabschnitt 113. Leutnant d’Aulnay-Pradelle meldet von seinen Männern 38 als tot, 27 als verwundet und zwei als vermisst, aber er hat sein Ziel erreicht: Er gilt nun als Kriegsheld und wird zum Hauptmann befördert.
Jean d’Aulnay-Pradelle ist der letzte Spross einer traditionsreichen Adelsfamilie, die sich allerdings durch Fehlspekulationen an der Börse ruiniert hat. Wegen Geldmangels ist der Familiensitz La Sallevière verfallen. Jeans Vater jagte sich in einem Provinzhotel aus Verzweiflung eine Kugel ins Herz, und seine Mutter starb ein Jahr später. Jean d’Aulnay-Pradelle hat sich jedoch vorgenommen, den verlorenen Platz in der Gesellschaft zurückzuerobern und La Sallevière zu renovieren.
Édouard Péricourt gehört zwar keiner ehrwürdigen Aristokratenfamilie an, aber im Gegensatz zu d’Aulnay-Pradelles Vater ist seiner zu viel Geld gekommen, und zwar durch die Heirat mit Léopoldine Margis, die aus einer erfolgreichen Spinnereidynastie stammte. Marcel Péricourt vermehrte das Vermögen durch erfolgreiche Geschäfte als Bankier und Industrieller. Er hat Bürgermeister und sogar Minister in der Hand. Allerdings musste er es hinnehmen, dass seine Frau zuerst statt eines Sohnes die Tochter Madeleine gebar und dann einen Jungen, der seinen Vorstellungen überhaupt nicht entsprach. Zum Verdruss des harten Geschäftsmanns zeichnete Édouard schon als Kind unentwegt. Weil Léopoldine bald nach der Geburt gestorben war, versuchte Madeleine, zwischen dem teutonisch strengen Vater und ihrem verspielten, oberflächlichen, hektischen und vor Charme übersprudelnden Bruder zu vermitteln, aber es war vergeblich, vor allem, als sich dann auch noch Édouards Homosexualität ahnen ließ.
Im Gegensatz zu Jean d’Aulnay-Pradelle und Édouard Péricourt stammt Albert Maillard weder aus einer aristokratischen noch einer wohlhabenden Familie. Der Vater war Aufseher im Louvre gewesen und früh gestorben. Madame Maillard zog ihr einziges Kind allein auf.
Ein schmaler Junge, leicht phlegmatisch, zurückhaltend. Er sprach wenig und konnte gut mit Zahlen umgehen. Vor dem Krieg war er Kassierer in einer Filiale der Pariser Union Bank gewesen.
Im Lazarett wird Édouard Péricourt mehrmals notdürftig operiert, sowohl am Bein als auch am Kopf. Albert Maillard, der sich um seinen Lebensretter kümmert, drängt darauf, dass dieser gegen die unerträglichen Schmerzen Morphium bekommt. Dem 23-Jährigen fehlen die Zunge und der gesamte Unterkiefer, er kann nicht mehr sprechen. Getränke und Nahrungsbrei nimmt er durch die oben offene Speiseröhre auf, und wenn er rauchen will, steckt er sich die Zigarette in ein Nasenloch. Albert bringt ihn dazu, den Rauch auch durch die Nase statt durch den offenen Rachen auszublasen, damit es nicht wie bei einem qualmenden Vulkan aussieht. Als Édouard sich aus einem Fenster zu stürzen versucht, kann ihn sein Freund gerade noch zurückhalten.
Unerwartet wird Albert zu General Morieux gerufen. Vor dessen Schreibtisch steht bereits Hauptmann d’Aulnay-Pradelle. Der hat gemeldet, dass der Soldat Maillard während einer Operation seiner Einheit am 2. November 1918 in einen Granattrichter geflüchtet sei und sich auf diese Weise seiner Pflicht entzogen habe. Um Haaresbreite entgeht Albert dem Erschießungskommando. Beinahe hätte d’Aulnay-Pradelle sein Ziel erreicht: die Beseitigung eines Zeugen des Doppelmordes durch das Kriegsgericht.
Édouard müsste dringend in ein besser ausgerüstetes Krankenhaus verlegt werden, aber Tag um Tag vergeht ohne Transportbefehl. Schließlich findet Albert heraus, dass der Hauptmann die Verlegung zu verhindern versucht, wohl in der Hoffnung auf den Tod des Mannes, der ihm ebenso wie Albert Maillard gefährlich werden könnte.
Während der Korporal Grosjean Mittagspause macht, bricht Albert in dessen Büro ein und verschafft seinem Freund Papiere auf den Namen des am 30. Oktober 1918 – zwei Tage vor seinem 25. Geburtstag – gefallenen Soldaten Eugène Larivière, der offenbar keine Familie hat, weil das Sozialamt benachrichtigt werden soll. (Das Foto im Wehrpass ist kein Problem, denn von Édouards Gesicht sind nur Stirn, Augen und Nase übrig.) Édouard Péricourt wird von Albert in das Gefallenenregister eingetragen.
Édouard Péricourt ist soeben für Frankreich gestorben.
Und Eugène Larivière, auferstanden von den Toten, hat noch ein langes Leben vor sich, um seiner zu gedenken.
Bei der Gelegenheit nimmt Albert auch noch den Wehrpass eines am 13. Juni 1892 geborenen Louis Évrard mit. Der könnte ihm noch nützlich sein.
Albert kommt in ein Demobilisierungslager, und Édouard wird noch mehrmals operiert. Professor Maudret, der Chirurg, drängt darauf, Albert ein künstliches Unterkiefer einzusetzen, aber der schreibt beharrlich „nein“ in sein Konversationsbuch und verweigert die Prothese.
Aus Mitleid schreibt Albert heimlich einen Brief an den Vater seines Freundes. Darin behauptet er, Édouard sei bei einem heldenhaften Angriff auf feindliche Stellungen durch einen Schuss ins Herz gefallen und habe nicht leiden müssen.
Im Frühjahr 1919 wird Albert von Hauptmann d’Aulnay-Pradelle abgepasst: Édouard Péricourts Schwester Madeleine wandte sich an ihn, nachdem sie den Brief gelesen hatte. Nun möchte sie vom Absender erfahren, wo ihr Bruder begraben ist, angeblich nur, um dort zu trauern, tatsächlich jedoch, um die Leiche heimlich zu exhumieren und in der Familiengruft neu zu bestatten. Albert bleibt nichts anderes übrig, als ihr zu versprechen, dass er sie am nächsten Tag hinbringen werde.
Sobald Madeleine Péricourt fort ist, meint d’Aulnay-Pradelle:
„Es gibt nur zwei Möglichkeiten, Soldat Maillard. Entweder wir erklären, was wirklich passiert ist, oder wir einigen uns anders. Wenn die Wahrheit ans Licht kommt, sitzen Sie in der Klemme: Widerrechtliche Aneignung einer falschen Identität, ich habe keine Ahnung, wie Sie das angestellt haben, aber eines steht fest, dafür gehen Sie in den Knast. Fünfzehn Jahre Minimum, das garantiere ich Ihnen. Doch wie ich Sie kenne, kommen Sie dann bestimmt wieder mit der Sache am Frontabschnitt 113 an. Kurz und gut: Sowohl für Sie als auch für mich wäre das die denkbar schlechteste Lösung. Daher machen wir es anders: Sie wollen einen toten Soldaten, also verschaffen wir ihnen einen. Punkt. Nun, was halten Sie davon?“
Am nächsten Tag erkundigt Albert sich nach dem nächstgelegenen Friedhof. Der befindet sich in Pierreval, sechs Kilometer vom Lager entfernt. Albert sucht dort ein namenloses Grab aus und nagelt die Hälfte von Édouard Péricourts Erkennungsmarke mit einem Stein an das Holzkreuz. Am Abend lässt Madeleine den Toten ausgraben, in einen mitgebrachten Sarg legen und mit einem Lastwagen wegbringen. Nur ein paar Knochen, die abgefallen sind, verbleiben in dem Grab, das dann wieder zugeschaufelt wird.
Madeleine Péricourt verliebt sich in Henri d’Aulnay-Pradelle und heiratet ihn gegen den erklärten Willen ihres Vaters im Juli 1919. Allerdings setzt Maurice Péricourt durch, dass der Bräutigam einen Ehevertrag unterschreiben muss, der ihm jeglichen Zugriff auf den Besitz seiner Frau verwehrt.
Kurz nach der Vermählung wird Henri d’Aulnay-Pradelle in den exklusiven Jockey Club aufgenommen. Der Vorsitzende hält zwar nicht viel von ihm, spricht sich aber dennoch für ihn aus, nicht nur in Anbetracht des einflussreichen Schwiegervaters Marcel Péricourt, sondern auch wegen der Freunde des ehemaligen Offiziers, zu denen Léon Jardin-Beaulieu, der Sohn eines Abgeordneten, und Ferdinand Morieux, der Enkel des hochverehrten Generals Morieux, gehören.
Darüber hinaus verfügt Henri d’Aulnay-Pradelle über viel Geld. Unmittelbar nach seiner Ausmusterung kaufte er überflüssiges Kriegsgerät auf und verhökerte es mit beträchtlichem Gewinn. Aber das ist nichts im Vergleich zu dem gewaltigen Vermögen, das d’Aulnay-Pradelle in den kommenden Monaten verdienen wird. Die Behörden haben nämlich beschlossen, die an der Front notdürftig begrabenen Soldaten zu exhumieren, damit der Boden wieder landwirtschaftlich genutzt werden kann. Für die sterblichen Überreste der gefallenen Soldaten werden Militärfriedhöfe angelegt. Mit Hilfe seines Netzwerks von „Freunden“ erhält d’Aulnay-Pradelle den Zuschlag für das lukrative Großprojekt.
Um den Gewinn zu maximieren, beschäftigt d’Aulnay-Pradelle ausländische Handlanger mit den Erdarbeiten, und für die vielen tausend Särge presst er Gaston Lavallée, dem Besitzer eines Säge- und Schreinerwerks, einen Einheitspreis von 28 Francs pro Stück ab. Dass die Särge alle nur 1,30 Meter lang werden, nimmt er in Kauf. Um die toten Soldaten hineinzuzwängen, wird man ihnen eben die Beine ein wenig anwinkeln, das Genick brechen und den Kopf auf die Brust drücken müssen. Bei noch größeren Männern wird es erforderlich sein, die Unterschenkel zu zertrümmern. Aber sie sind ohnehin tot. Und 50 Zentimeter längere Särge wären deutlich teurer.
Albert Maillard und Édouard Péricourt geht es sehr viel schlechter als Henri d’Aulnay-Pradelle. Nachdem Édouard sich nicht zu einer Unterkiefer-Prothese überreden lässt, wird er Anfang Juni 1919 aus dem Krankenhaus entlassen. Die beiden Freunde richten sich zusammen in einer Dachkammer ein. Die Vermieterin, Madame Belmont, verlor 1916 ihren Mann im Krieg, ein Jahr später dann auch ihren Bruder. Ihre elfjährige Tochter Louise erschrickt zunächst über Édouards Aussehen, fasst dann aber Vertrauen zu ihm und bastelt mit ihm zusammen Masken, die den unteren Teil seines Gesichts verdecken.
Zunächst hofft Albert noch auf eine staatliche Versorgungsleistung für seinen kriegsversehrten Freund, aber dann begreift er, dass Édouard Péricourt offiziell tot ist und Eugène Larivière keine Kriegsverletzung nachweisen kann. Die Bank, bei der Albert vor dem Krieg beschäftigt war, verweigert ihm die Wiedereinstellung, aber der neue Lebensgefährte seiner Mutter, der als Abteilungsleiter im Kaufhaus Samaritaine tätig ist, vermittelt ihm wenigstens die Stelle eines Fahrstuhlführers. Das Geld, das Albert verdient, reicht vorne und hinten nicht für die Miete und den Lebensunterhalt, geschweige denn für das Morphium, ohne das Édouard nicht mehr auskommt.
Albert besorgt es von einem Kleinganoven namens Basile, der sich auf Einbrüche in Apotheken, Krankenhäuser und Sanitätsstationen spezialisiert hat. Als Basile jedoch mit Taschen voller Drogen verhaftet wird, muss Albert nach neuen Lieferanten suchen. Dabei stößt er auf den Griechen Antonapoulos. Der trifft sich mit ihm in einem Pissoir. Nachdem sie sich über Menge und Preis verständigt haben, geht Antonapoulos los, um die Ware zu holen. Albert folgt ihm unbemerkt in einen Keller. Dort überfällt er den Griechen. Der wehrt sich mit einem Klappmesser und verletzt Albert an der Hand, bricht dann aber unter den Schlägen mit einer herausgerissenen Holztür zusammen, und Albert erbeutet einen mit Ampullen gefüllten Schuhkarton.
Vor dem Krieg hatte sich Albert mit einem Mädchen namens Cécile verlobt. Während er an der Front war, wurden ihre Briefe immer seltener, und nach seiner Rückkehr bestätigte sich seine Befürchtung, dass sie für ihn verloren sei. Eines Tages betritt sie den von Albert bedienten Aufzug im Kaufhaus Samaritaine in Begleitung eines breitschultrigen jungen Mannes. Sie blickt zu Boden und tut so, als sehe sie ihn nicht. Nach dieser beschämenden Begegnung reißt Albert sich die Uniform vom Leib und läuft davon, ohne seinen Lohn abzuholen. Ein paar Tage später schickt Cécile ihm den Verlobungsring, und er versetzt ihn im Pfandhaus. Eine Anstellung findet Albert nur noch als Plakatträger.
Er leidet allerdings weniger unter der Armut als unter der erzwungenen Einsamkeit.
Selbst wenn er eine junge Frau gefunden hätte, die nicht zu sehr abgestoßen war von seiner Bettlerkluft – welche Zukunft hätte er ihr bieten können? Hätte er ihr sagen sollen: „Komm, lass uns zusammen leben, ich wohne bei einem verkrüppelten Soldaten ohne Unterkiefer, der Karnevalsmasken trägt, aber keine Sorge, wir haben drei Francs pro Tag zum Leben und einen zerrissenen Paravent, hinter dem du ganz ungestört bist.“
Im November 1919, am vermeintlichen Todestag seines Sohnes, lässt sich Marcel Péricourt von seiner Tochter zum Friedhof fahren. Der 57-Jährige trauert um Édouard und bedauert inzwischen zutiefst, wie er ihn behandelte. Nach dem Besuch der Familiengruft lässt er Bürgermeister Labourdin kommen und beauftragt ihn mit der Errichtung eines Mahnmals für die Gefallenen.
„Ich möchte ein Zeichen setzen“, sagte Péricourt kurz. „Ich werde euer Mahnmal finanzieren. Vollständig. […] Gründen Sie eine Wohltätigkeitsorganisation, einen Verein oder was weiß ich. Ich werde ihn mit den nötigen Mitteln ausstatten. Sie haben ein Jahr Zeit. Am 11. November nächsten Jahres will ich die Einweihung. Die Namen aller Toten, die in diesem Arrondissement geboren wurden, sollen eingraviert sein.“
Außerdem schickt Marcel Péricourt seine Tochter los, um nach Albert Maillard zu suchen. Er nimmt zwar an, dass es sich bei dem Inhalt des Briefes, den der Soldat vor einem Jahr schickte, um wohlgemeinte Lügen zum Trost von Angehörigen handelte, möchte jedoch mehr über Édouard erfahren.
Als Madeleine Péricourt das Mietshaus betritt, kommt ihr Albert Maillard auf der Treppe entgegen. „Mein Vater würde sie gern kennenlernen“, sagt sie und lädt ihn zum Essen ins Stadtpalais der Familie ein. Dort fällt Albert sofort das Hochzeitsfoto von Édouards Schwester auf, denn im Bräutigam erkennt er Hauptmann Jean d’Aulnay-Pradelle. Dem will er auf keinen Fall begegnen, aber zum Glück ist Madeleines Ehemann nicht anwesend, und so kann Albert erfundene Geschichten über Édouard erzählen. Schließlich fragt Marcel Péricourt nach seiner beruflichen Tätigkeit, und er antwortet:
„Um genau zu sein, habe ich nicht direkt etwas mit der Werbung zu tun. Ich arbeite nur in einer Firma, die Werbung macht. Eigentlich bin ich Buchhalter.“
Der Banker weist ihn darauf hin, dass er gerade auf der Suche nach einem Buchhalter sei, aber Albert behauptet, eine hervorragende Anstellung zu haben und keinen Wechsel anzustreben.
Édouard setzt keinen Schritt vor die Tür. Die meiste Zeit verbringt er in einem Dämmerzustand, und die Abstände zwischen den Morphium-Injektionen werden immer kürzer. Umso überraschter ist Albert, als sein Freund ihm einen Packen Zeichnungen zeigt. Es handelt sich um Entwürfe für Statuen und ganze Denkmäler. Édouard bereitet einen Katalog vor.
„Du willst Denkmäler für die Toten verkaufen?“
Ja. So ist es. Édouard ist zufrieden mit seiner Geschäftsidee.
Édouard rechnet vor: 30 000 Denkmäler x 10 000 Francs = 300 Millionen Francs. Doch Albert weist darauf hin, dass es nicht genüge, Denkmäler zu zeichnen. Man müsse sie herstellen, transportieren und aufstellen. Dafür benötige man Geld, Personal, Rohmaterial, Transportmittel und vieles mehr. Der Einwand beeindruckt Édouard nicht; er schreibt:
„Wir verkaufen sie nur! Wir bauen sie nicht! Wir streichen das Geld ein, das ist alles!“
Aber bereits das Drucken des Katalogs würde Geld kosten, das sie nicht haben. Édouard, dem es weniger um die Einnahmen als um die Lust an einer ungeheuren Provokation geht, hält die Bedenken für die eines „kleinlichen, engstirnigen, unambitionierten, ziellosen Menschen ohne jede Vision“. Es kommt zum Streit. Der eskaliert in einer Prügelei.
Alberts geballte Faust füllte den klaffenden Trichter seines Gesichts vollständig aus. Fast bis zum Handgelenk.
Entsetzt betrachtete Albert die im Gesicht seines Kameraden versunkene Faust.
Am nächsten Morgen geht Albert wortlos zur Arbeit, und als er abends vom Plakattragen nach Hause kommt, ist Édouard nicht mehr da. Erst einige Zeit später entdeckt Albert seinen früheren Kriegskameraden in Madame Belmonts Wohnung. Édouard schläft dort neben Louises Bett auf dem Fußboden. Die beiden Männer versöhnen sich, und Albert lässt sich die Idee mit den Denkmälern genauer erklären. Um das Geld für den Katalog zu beschaffen, kommt Albert auf Marcel Péricourts Angebot zurück, und der Banker stellt ihn tatsächlich als Buchhalter ein. Das bescheidene Gehalt würde nicht für die Druckkosten reichen, aber die Stelle ermöglicht es Albert, größere Summen zu veruntreuen.
Er stahl Geld, um die Grundlage dafür zu haben, noch mehr Geld zu stehlen.
In dem Katalog gibt Édouard sich als Bildhauer, Akademiemitglied und ehemaligen Frontkämpfer Jules d’Épremont aus. Geschickt weist er darauf hin, dass am 11. November 1920 in Paris ein Mahnmal des unbekannten Soldaten aufgestellt werden soll und appelliert an den Patriotismus der zahlreichen Gemeinden, an die der Katalog verschickt wird. Die Auslieferung der bestellten Denkmäler werde bis spätestens 27. Oktober erfolgen, heißt es. Das gebe den Auftraggebern genügend Zeit, sie rechtzeitig bis zum 11. November aufzustellen. Um die Frist einhalten zu können, so der angebliche Künstler weiter, müssten die Bestellungen spätestens am 14. Juli eingehen. Schließlich lockt er noch mit einem Rabatt von 32 Prozent, bevor er erwähnt, dass er bei Auftragserteilung eine Anzahlung von 50 Prozent erwarte.
Jean d’Aulnay-Pradelles Geschäfte laufen gut. Die Gelder sprudeln, und um die Projektarbeiten braucht er sich nicht weiter zu kümmern, das überlässt er einem Mann namens Lucien Dupré. Die Einnahmen ermöglichen es ihm, auch die Restaurierung des Familiensitzes La Sallevière mit bis zu 40 Arbeitern zügig voranzubringen. Aber als die ersten 115 Soldaten exhumiert und auf dem Friedhof von Dampierre neu bestattet sind, beschwert sich der Präfekt im Beisein des Bürgermeisters darüber, dass die Toten durcheinander geraten sind.
„Das machen Ihre Chinesen“, fügte der Präfekt noch hinzu. „Sie suchen nämlich leider gar nicht erst nach der richtigen Stelle. Sie packen die Särge in das erstbeste Grab, das ihnen vor die Füße kommt.“
Henri wandte sich an Dupré.
„Warum machen die Chinesen das?“
Der Präfekt wartete die Antwort nicht ab, sondern gab sie gleich selbst: „Die können nicht lesen, Monsieur d’Aulnay-Pradelle. Für solche Arbeiten nimmt man Leute, die nicht lesen können.“
Einen Augenblick lang ist d’Aulnay-Pradelle verunsichert, aber von einer Leiche im falschen Sarg lässt er sich nicht aus der Bahn werfen.
Auf dem Friedhof von Chazières-Malmont beschäftigt Jean d’Aulnay-Pradelle keine Chinesen, sondern Nordafrikaner. Mit kurzer Voranmeldung trifft dort ein Mann vom Pensionsministerium ein. Er heißt Joseph Merlin. Obwohl er seit fast 40 Jahren im öffentlichen Dienst tätig ist, lässt man ihn nun kurz vor der Pensionierung Inspektionen von Friedhöfen durchführen. Das ist entwürdigend, hält Joseph Merlin aber nicht davon ab, gründliche Arbeit zu leisten. In seinem Bericht bemängelt er vor allem die viel zu kleinen Särge. Bei der Behörde kommt man zu dem Schluss, dass von dem Inhalt des Berichts nichts an die Öffentlichkeit durchsickern darf, denn die Zeitungen würden dem öffentlichen Dienst vorwerfen, das Projekt nicht von Anfang an ausreichend überwacht zu haben, und es käme zu einem Skandal. Mit seiner langjährigen Erfahrung begreift Joseph Merlin, dass sein Bericht trotz der Beteuerung, man werde unverzüglich die erforderlichen Schritte einleiten, in der Ablage verschwunden ist. Weil er das nicht akzeptiert, fährt er zu einer unangemeldeten Inspektion nach Pontaville-sur-Meuse, wo die Firma Pradelle & Co ebenfalls gefallene Soldaten umbettet. Darüber schreibt er einen weiteren Bericht.
Bald darauf wird General Morieux von einem Bekannten gewarnt:
„Ihr Enkel Ferdinand ist Teilhaber des Unternehmens Pradelle & Co. Er streicht zwar nur die Dividende ein, aber wenn es einen Skandal gibt, in den diese Firma verwickelt ist, wird auch Ihr Name fallen. Ihr Enkel wird in Bedrängnis geraten, Ihr Ansehen wird in Mitleidenschaft gezogen.“
General Morieux setzt sich telefonisch mit d’Aulnay-Pradelles Schwiegervater in Verbindung, und Marcel Péricourt unterrichtet seine inzwischen schwangere Tochter über die Vorwürfe gegen ihren Ehemann.
Labourdin, der Bürgermeister, bringt Marcel Péricourt einige Entwürfe für das geplante Denkmal, die er aus den eingesandten Arbeiten ausgewählt hat. Der Finanzier hängt die Blätter in seinem Arbeitszimmer auf, entscheidet sich für den Entwurf von Jules d’Épremont, stellt Labourdin einen Scheck für die Anzahlung aus und fordert ihn auf, den Künstler herkommen zu lassen. Auf sein entsprechendes Schreiben erhält der Bürgermeister allerdings die Antwort, Jules d’Épremont halte sich gerade in den USA auf.
Bei seinem Besuch in Marcel Péricourts Stadtpalais fiel Albert ein reizendes Dienstmädchen auf, und als er im Auftrag des Bankdirektors dort noch einmal etwas abgeben muss, öffnet ihm Pauline die Tür. Das Dienstmädchen lässt sich von ihm zu Essen einladen. Zum Glück treffen die ersten Anzahlungen auf Denkmäler ein, denn sonst könnte Albert sich das alles gar nicht leisten. Die ergaunerten Beträge ermöglichen es ihm sogar, ein Zimmer für Schäferstündchen mit Pauline zu suchen.
Zwei Tage später fand er eine reinliche Pension im Viertel Saint-Lazare, die von zwei Schwestern geführt wurde. Die beiden äußerst umgänglichen Witwen vermieteten ihre Wohnungen nur an seriöse Beamte, behielten aber das Zimmerchen im ersten Stock unverheirateten Paaren vor, die sie tagsüber wie auch nachts mit einem komplizenhaften Lächeln empfingen, weil sie in Höhe des Betts zwei Löcher in die Zwischenwand gebohrt hatten, für jede von beiden eins.
Die 25-Jährige gibt sich sittsam, aber es stellt sich heraus, dass sie keine Jungfrau mehr ist. Ihr Verlobter sei 1917 gefallen, sagt sie.
Albert und Édouard haben vereinbart, am 14. Juli mit den bis dahin eingetroffenen Anzahlungen das Land zu verlassen. Ohne Pauline etwas von seinen Plänen zu verraten, besorgt Albert Zugfahrkarten für drei Personen nach Marseille und Schiffskarten nach Tripolis, und zwar für Eugène Larivière und Monsieur und Madame Louis Évrard. Gut, dass er damals den Wehrpass dieses gefallenen Soldaten mitnahm!
Während Albert immer mehr Zeit mit Pauline in der Pension verbringt, nimmt sich Édouard unter dem Namen Eugene Larivière eine Suite im Luxushotel Lutetia. Dort zahlt er jeweils für mehrere Tage bar im Voraus und wirft mit Trinkgeldern um sich. Wenn er etwas haben möchte, legt er ein mit Großbuchstaben beschriebenes Blatt Papier auf die Fußmatte vor seiner Eingangstür.
Jean d’Aulnay-Pradelle passt Joseph Merlin ab und spricht ihn auf die beiden Inspektionsberichte an. Erst jetzt erfährt er, dass der kleine Beamte bereits einen dritten Bericht über den Friedhof in Dargonne-le-Grand vorbereitet. Joseph Merlin hat herausgefunden, dass die nach Stück bezahlten Arbeiter auch leere Särge vergraben. Schlimmer noch: In manchen Särgen liegen keine gefallenen Franzosen, sondern Deutsche. Darüber hinaus werden bei den Toten gefundene Wertsachen unterschlagen. Man sammelt und verkauft sogar Zahnprothesen. Jean d’Aulnay-Pradelle verspricht dem Beamten zunächst eine Belobung durch den Minister:
„Der Minister persönlich wird sich der Sache annehmen […], ja, ich möchte sogar sagen: er wird dankbar sein! Ja, dankbar – für Ihre Kompetenz und für Ihre Diskretion! Denn Ihre Berichte sind zwar unverzichtbar, aber es wäre niemandem geholfen, wenn die Geschichte publik gemacht würde.“
Als Joseph Merlin nicht darauf anspringt, drückt ihm d’Aulnay-Pradelle zwei mit je 50 000 Francs gefüllte Kuverts in die Hand und sagt dazu:
„Sie werden diese Berichte allesamt das Klo runterspülen!“
Kurze Zeit später sucht Lucien Dupré nach Jean d’Aulnay-Pradelle, trifft jedoch nur dessen schwangere Frau an. Madeleine weiß nicht, wo Jean sich gerade aufhält, sagt aber:
„Ich kann Ihnen die Liste seiner Liebschaften zukommen lassen, wenn Sie wollen, es braucht nur etwas Zeit. Wenn Sie ihn nicht bei einer von ihnen antreffen, empfehle ich Ihnen, die Stundenhotels aufzusuchen, die er besucht.“
Als Lucien Dupré seinen Chef gefunden hat, verkündet er grußlos:
„Dargonne ist geschlossen.“ […]
„Wie geschlossen?“
„Und Dampierre auch. Und Pontaville-sur-Meuse. Ich habe überall angerufen, allerdings nicht alle erreicht, trotzdem glaube ich, dass unsere Standorte allesamt dichtgemacht wurden.“
„Aber wer hat das veranlasst?“
„Die Präfektur. Es heißt jedoch, der Befehl kommt von ganz oben.“„Im Ministerium“, fuhr Léon fort, „hat man so etwas noch nicht erlebt: In dem Bericht befinden sich hunderttausend Francs in großen Scheinen, allesamt sorgfältig auf das Papier aufgeklebt. Es gibt sogar einen Anhang, in dem die Seriennummern aufgeführt sind.“
Jean d’Aulnay-Pradelle wendet sich an seinen Teilhaber Léon Jardin-Beaulieu, aber der klärt ihn darüber auf, dass er vor einem Monat seine Anteile an Pradelle & Co verkauft und Ferdinand Morieux das ebenfalls gemacht habe.
Verstört kehrt Jean d’Aulnay-Pradelle ins Stadtpalais seines Schwiegervaters zurück, wo ihm seine Frau allerdings eröffnet, dass er sie nicht länger interessiere.
„Nein, Henri, du verstehst gar nichts. Nicht deine Geschäfte sind mir gleichgültig, sondern du selbst. […] Ich bin sicher, dass du mir ein sehr hübsches Baby gemacht hast. Mehr habe ich nie von dir gewollt.“
Am Samstag, den 10. Juli 1920, verlässt Albert die Bank, die wegen des französischen Nationalfeiertags bis 15. Juli geschlossen bleibt. Er wird nicht mehr zurückkommen. Die Summe der Anzahlungen beträgt inzwischen über eine Million Francs. In den vergangenen Tagen nahm Albert die eingegangenen Beträge in bar aus der Kasse und unterschrieb die Quittungen mit „Eugene Larivière“. (Die zur Vorfinanzierung des Coups unterschlagenen Summen hat er übrigens inzwischen unbemerkt zurückgegeben.) Die Tageseinnahmen trug er zum Bahnhof Saint-Lazare, wo er sich seinen Koffer aus der Gepäckaufbewahrung geben ließ, damit zur Toilette ging, die mitgebrachten Geldbündel hineinlegte und den Koffer wieder abgab.
Albert und Louise besuchen ihren Freund im Hotel Lutetia. An einem Kleiderhaken hängt eine Maske mit dem Gesicht von Édouard Péricourt. Der sitzt mit ausgestreckten Beinen auf dem Fußboden und ist kaum ansprechbar. Auf dem Tisch entdeckt Albert Heroin. Er opfert den Sonntag, um Édouard zu pflegen, der stark schwitzt und von heftigen Krämpfen geschüttelt wird, bis Albert sich überreden lässt, ihm Heroin zu spritzen. Reisevorbereitungen hat Édouard noch keine getroffen. Und wie soll er in seinem Zustand eine Bahnreise nach Marseille und eine mehrtägige Schiffsreise durchstehen?
Bevor Albert sich mit Pauline trifft, füllt er eine schöne Dose mit 40 000 Francs und schickt sie Madame Belmont mit der Post. In einem Begleitbrief schreibt er, dass das Geld für Louise bestimmt sei.
Am 12. Juli kommt Labourdin aufgeregt zu Marcel Péricourt:
„Stellen Sie sich vor, Herr Präsident, diesen Jules d’Épremont, den gibt es gar nicht!“
Der erfolgsgewohnte Unternehmer begreift, dass er sich von kleinen Gaunern betrügen ließ. Er muss diese Männer kriegen. Mit der Begründung, Schurken könne nur jemand aufspüren, der selbst einer sei, schickt er seinen Schwiegersohn los.
„Der Skandal bricht jeden Moment aus“, erklärte Marcel Péricourt. „Wenn die Polizei sie schnappt, bevor sie fliehen können, wird sich alle Welt auf sie stürzen, die Regierung, die Justiz, die Presse, die Vereine, die Opfer, die Kriegsveteranen. Das kann ich nicht zulassen.“
In der Hoffnung, dass sein Schwiegervater sich doch noch beim Minister für ihn einsetzen werde, sucht Jean d’Aulnay-Pradelle nach den Betrügern. Er fährt zu der im Katalog angegebenen Druckerei. Der Auftrag wurde zwar bar bezahlt, und der Kunde hinterließ keine Adresse, aber der Druckereibesitzer erinnert sich an einen einarmigen Spediteur mit einer Handkarre, der die fertigen Kataloge abholte. Also fragt Pradelle überall nach einem einarmigen Spediteur und stößt schließlich auf Coco, der seinen Arm in Verdun verlor. Der nennt ihm die Lieferadresse. Die Wohnung ist allerdings leer. Während Pradelle mit der Vermieterin spricht, rennt deren Tochter aus dem Haus, springt in ein Taxi und fährt los. Pradelle folgt ihr und wundert sich, als er das Schulmädchen in das Hotel Lutetia gehen sieht.
Louise warnt Édouard: Bei ihren Mutter sei ein Mann aufgetaucht und habe sich nach den Mietern der verlassenen Wohnung erkundigt.
Jean d’Aulnay-Pradelle erstattet seinem Schwiegervater Bericht. Er hat herausgefunden, dass der Betrüger unter dem Namen Eugène Larivière im Hotel Lutetia abgestiegen ist.
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.
Seit Tagen hat Albert vor, Pauline in das Geheimnis einzuweihen. Er will sie bitten, ihn bei der Flucht zu begleiten. Immer wieder verschiebt er das Geständnis. Am 14. Juli um 8 Uhr früh erzählt ihm Pauline von einem Zeitungsartikel, den sie gerade gelesen hat:
„Kannst du dir das vorstellen? […] Da haben ein paar Typen Kriegsdenkmäler verkauft.“ Sie hob den Kopf, wollte es nicht glauben. „Falsche Denkmäler!“
Da sagt Albert:
„Ich verreise, Pauline, ich gehe weg.“ […]
Albert hob die Zeitung vom Fußende des Bettes auf. Der Artikel mit dem Denkmalskandal war noch aufgeschlagen. Er hielt ihn ihr hin.
„Ich bin das“, sagte er.
Sie brauchte einige Sekunden, bis sie begriff. Dann biss sie sich in die Hand.
„Mein Gott!“
Albert stand auf, öffnete die Kommodenschublade, nahm die Schiffsfahrkarten von der Reederei heraus und reichte sie ihr.
„Willst du mit mir kommen?“
Als Pauline die Fahrkarten erster Klasse und einen Koffer voller Geld gesehen hat, braucht sie nicht lang zu überlegen. Sie wird mitkommen.
Marcel Péricourt setzt sich selbst hinters Lenkrad, um zum Hotel Lutetia zu fahren. Er weiß allerdings nicht, was er dort soll, denn er hat weder die Absicht, mit dem Betrüger zu reden noch in anzuzeigen oder an der Flucht zu hindern.
Ohne Drogen wäre Édouard nicht zum Aufbruch fähig.
Nur ein klein wenig, sagte er sich. Kein Heroin jetzt, nur ein bisschen Morphium. Er musste einen klaren Kopf behalten, sich beim Personal bedanken, sich vom Pförtner verabschieden, ins Taxi steigen, zum Bahnhof kommen, den Zug finden – und Albert.
Als der abreisende, nicht nur eine Maske, sondern auch Engelsflügel tragende Gast die Hotelhalle durchquert, bilden die großzügig mit Trinkgeldern bedachten Angestellten ein Ehrenspalier. Es ist wie im Karneval. Unvermittelt entreißt der seltsame Mann einer Putzfrau den Besen und stürmt damit aus dem Gebäude – direkt vor ein Auto. Der Fahrer, Marcel Péricourt, starrt in das Maskengesicht des Engels. Es ist das seines Sohnes Édouard. Durch den Aufprall fliegt der beflügelte Mann durch die Luft.
Kurz darauf steigen Albert und Pauline an der Gare de Lyon in den Zug nach Marseille. Albert ahnte schon, dass Édouard nicht kommen würde.
Henri d’Aulnay-Pradelle wird am 16. Juli verhaftet. Im März 1923 findet der Prozess gegen ihn statt, und das Gericht verurteilt ihn zu fünf Jahren Gefängnis. La Sallevière wird gepfändet. Das wenige von seinem Besitz, das von den Rückzahlungen, Bußgeldern und Justizkosten nicht aufgefressen wurde, verliert Pradelle, als er 1926 vergeblich den Staat verklagt.
Madeleine, die sich von ihrem Mann scheiden ließ, brachte am 1. Oktober 1920 einen gesunden Sohn zur Welt. Der bezahlt später seinem aus dem Gefängnis entlassenen, verarmten und vereinsamten Vater eine kleine Rente. Bei seinem jährlichen Besuch 1961 findet er die Leiche des 71-Jährigen vor, der bereits zwei Wochen zuvor starb. La Sallevière wird noch bis 1973 als Waisenhaus genutzt.
Marcel Péricourt bleibt wegen des Verkehrsunfalls vor dem Hotel Lutetia unbehelligt, denn Zeugen sagen aus, dass der Autofahrer keine Möglichkeit gehabt habe, dem auf die Straße springenden Verrückten auszuweichen. Der Unternehmer entschädigt die von seinem Sohn betrogenen Menschen.
Doch es war seltsam, obgleich sich die Gesamtsumme des Betrugs auf eine Million zweihunderttausend Francs belief, ergaben die Zahlungsbelege am Ende eine Million vierhundertdreißigtausend. Es gab eben überall kleine Gauner. M. Péricourt schloss die Augen und zahlte.
1927 stirbt Marcel Péricourt.
Albert und Pauline erreichten 1920 wie vorgesehen Tripolis und begannen dann im Libanon ein neues Leben. Nach Albert Maillard wird zwar mit einem internationalen Haftbefehl gefahndet, aber gegen Louis Évrard liegt nichts vor.
Pierre Lemaitre (* 1951) veranschaulicht in seinem 1918 bis 1920 spielenden Roman „Wir sehen uns dort oben“, wie verlogen Patriotismus sein kann und prangert eine Gesellschaft an, die nicht zuletzt durch den Ersten Weltkrieg ihre Moral eingebüßt hat. Sowohl Kriegsgewinnler als auch -verlierer sind raffgierig und korrupt. Dabei hat Pierre Lemaitre einen Teil der Handlung gar nicht frei erfunden, sondern die kriminellen Machenschaften der Romanfigur Henri d’Aulnay-Pradelle basieren auf der Dissertation der Historikerin Béatrix Pau-Heyriès mit dem Titel „La violation des sépultures militaires, 1919 – 1920“ aus dem Jahr 2010.
„Wir sehen uns dort oben“ ist eine ebenso zynische wie tragikomische Mischung aus Antikriegs- und Schelmen-, Abenteuer- und Kriminalroman. Formal bemerkenswert sind wechselnde Perspektiven und fortwährende Sprünge zwischen den Handlungssträngen. Von seiner großen Fabulierlust hat sich Pierre Lemaitre zu Ausschweifungen hinreißen lassen. Die Lektüre ist recht unterhaltsam, auch wenn einem das Lachen zumeist im Halse stecken bleibt. Zu bedauern ist, dass Pierre Lemaitre immer wieder Charakterzüge beschreibt, statt sie durch Dialoge oder Handlungen der Personen aufzuzeigen.
Mit dem Titel knüpft Pierre Lemaitre an die eingangs zitierten letzten Worte des am 4. Dezember 1914 füsilierten und am 29. Januar 1921 rehabilitierten Soldaten Jean Blanchard an: „Wir sehen uns im Himmel, wo uns Gott hoffentlich wieder vereinen wird. Leb wohl, meine liebe Frau …“
„Wir sehen uns dort oben“ wurde 2013 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet.
Den Roman „Wir sehen uns dort oben“ von Pierre Lemaitre gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Markus Hoffmann (Regie: Wolf-Dietrich Fruck, Berlin 2014).
Albert Dupontel verfilmte den Roman:
Wir sehen uns dort oben – Originaltitel: Au revoir là-haut – Regie: Albert Dupontel – Drehbuch: Albert Dupontel nach dem Roman „Wir sehen uns dort oben“ von Pierre Lemaitre – Kamera: Vincent Mathias – Schnitt: Christophe Pinel – Musik: Christophe Julien – Darsteller: Albert Dupontel, Nahuel Pérez Biscayart. Laurent Lafitte, Niels Arestrup, Émilie Dequenne, Mélanie Thierry, Héloïse Balster, Philippe Uchan, André Marcon, Michel Vuillermoz, Kyan Khojandi, Carole Franck u.a. – 2017; 115 Minuten
Unter dem Titel „Die Farben des Feuers“ schrieb Pierre Lemaitre eine Fortsetzung.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2015
Textauszüge: © J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH
Pierre Lemaitre: Drei Tage und ein Leben
Pierre Lemaitre: Die Farben des Feuers