Lara Andriessen : Das selbst gewählte Exil
Inhaltsangabe
Kritik
Die Protagonistin Lara Andriessen und ihr Ehemann Carl haben zwei Töchter: die fünfjährige Mera und die zweijährige Jada. Ihr drittes Kind zeugt Carl durch eine Vergewaltiung in der Ehe. Während der Schwangerschaft wundert Lara sich darüber, dass sie oft tagelang keine Bewegungen des Fetus spürt. Bei der ambulanten Entbindung im Städtischen Krankenhaus Ludwigshafen wird das Kind durch die um den Hals gewickelte Nabelschnur beinahe erdrosselt. Es ist ein Junge. Lara nennt ihn Valentin. Erst nach Stunden schreit er, und in der Annahme, er habe Hunger, will Lara ihn stillen. Doch er strampelt und lässt sich nicht an ihre Brust legen.
Nach vielen Stunden vergeblichen Kampfes, Valentin zu füttern, gebe ich auf, und Valentin verstummt. Ich kann nicht sagen, wer vor Erschöpfung zuerst eingeschlafen ist. (Seite 27)
Die Saugflasche lehnt er ebenso ab, und mit einem Löffel lässt er sich auch nicht füttern. Als Lara am dritten Tag mit ihm zum Hausarzt geht, hat er bereits 200 Gramm abgenommen. „Wenn das Baby nicht endlich isst“, meint er Arzt, „muss es stationär behandelt werden.“
Fest entschlossen, Valentin weiterhin gegen seinen Willen zu füttern, kaufe ich Zusatznahrung, pumpe meine Muttermilch ab, erwärme zu Hause beides, ergreife einen kleinen Plastiklöffel, und der Kampf ums Überleben beginnt! (Seite 30)
Irgendwann sträubt Valentin sich nicht mehr gegen das Füttern, sondern lässt es apathisch mit sich geschehen.
Weil Lara nach einiger Zeit befürchtet, dass er nicht richtig hört, sucht sie mit ihm einen Hals-Nasen-Ohren-Facharzt auf. Verdacht auf frühkindlichen Autismus, lautet dessen Diagnose. Auch in der entwicklungsneurologischen Abteilung der Universitäts-Kinderklinik Heidelberg wird bei dem acht Monate alten Kind eine „autistische Verhaltenskomponente“ festgestellt.
Valentins erster Geburtstag wird im engsten Familienkreis gefeiert: nur Laras Eltern Horst und Helga sind zu Besuch gekommen. Die Stimmung ist niedergedrückt, denn das Geburtstagskind beachtet weder die Menschen noch die Geschenke: Schokolade und Blauklötze.
Alle Friseure im weiten Umkreis weigern sich, Valentin die Haare zu schneiden, denn er neigt zu immer heftigeren Aggressionsausbrüchen, schreit, schlägt wild um sich und wirft alles kaputt, was er in die Finger kriegt. Auch eine Ergotherapeutin gibt nach zehn Stunden entnervt auf.
Valentin ist unfähig, zu seinen Eltern und Geschwistern ein normales Verhältnis aufzubauen.
Valentin spielt nicht.
Valentin versteht keine Geste, kein Lächeln, kein Wort.
Er hat Probleme mit dem Essen.
Er zieht sich zurück, kapselt sich ab.
Alles, was für ihn ungewohnt ist, stiftet bei ihm Verwirrung.
Er vermeidet Blickkontakt.
Manchmal wirkt er wie taub. (Seite 49)
Während Jada ihren kleinen Bruder nicht ausstehen kann und sich eifersüchtig über seine angebliche Bevorzugung bei der Mutter beschwert, beginnt Mera eines Tages, mit ihm zu spielen, d. h. sie setzt sich einfach zu ihm auf den Fußboden und beschäftigt sich vor seiner Nase mit ihren Spielsachen. Anders als ihre Mutter tut sie das augenscheinlich nicht, um bei Valentin eine Reaktion auszulösen. Und Lara hat den Eindruck, dass der Kleine sich neben seiner Schwester wohl fühlt.
Sie liest Bücher über verschiedene Therapien und probiert einige von ihnen aus. Ihre Freundin Renate, eine erfahrene Psychotherapeutin, rät ihr, es mit einem Erbsenbad zu versuchen. In einem Supermarkt nimmt sie alle fünfundzwanzig Beutel Erbsen aus dem Regal. Die füllt sie zu Hause in die Babywanne, setzt Valentin vorsichtig hinein und lässt dann vor seinen Augen die Erbsen durch ihre Finger rieseln. Behutsam legt sie ihm zwei, drei Erbsen in eines seiner Händchen und zeigt ihm, wie er sie wieder herausfallen lassen kann. Ihr Mann kommt nach Hause. Als Lara sich wieder umdreht, sieht sie, wie Valentin Erbsen aus der Wanne auf den Teppich wirft. Da weint sie vor Freude.
Einmal sucht sie Valentin und erfährt von Mera, er sei im Schrank, habe dort sein Versteck. Als Lara die Schranktür öffnet, beginnt der Junge lauthalt zu plärren und hört nicht wieder auf. In ihrer Verzweiflung ruft sie Renate an. Die eilt herbei und fragt als erstes, ob irgendetwas im Raum oder an den Personen für Valentin ungewohnt sei. Lara beteuert, nein, das sei nicht der Fall, aber Mera weist darauf hin, dass ihre Mutter eine neue Bluse trägt. Auf Renates Rat hin wechselt Lara das Kleidungsstück – und Valentin hört zu schreien auf. Es sei wohl zu viel für ihn gewesen, erklärt Renate, zuerst die Entdeckung seines Verstecks und dann auch noch eine neue Bluse.
Um mit Valentin einkaufen zu gehen, zieht Lara ihn an, setzt ihm seine Kappe auf und schlüpft selbst in eine Jacke. Da wundert sie sich, denn er trägt die Kappe plötzlich mit dem Schirm nach hinten! Nach ihrer Rückkehr zeigt sie ihm das rote Feuerwehr-Spielzeugauto, das sie für ihn gekauft hat, aber er reagiert überhaupt nicht darauf. Als sie wieder ins Zimmer kommt, kann sie es kaum glauben: Valentin schiebt es mit der großen Zehe auf dem Teppich vor und zurück.
Weil Valentin an hypophysärem Kleinwuchs leidet, verordnen die Ärzte dem Viereinhalbjährigen eine Hormontherapie. Ein halbes Jahr später gelingt es Lara, ihn trotz seiner Wutausbrüche in einem Kindergarten unterzubringen. Wochenlang wehrt er sich, aber weder Lara noch die beiden Kindergärtnerinnen geben nach. Da hört er unvermittelt zu schreien auf: Er hat ein blaues Sandförmchen entdeckt, füllt es und lässt den Inhalt wieder herausrieseln. Damit spielt er nun jedes Mal, sobald er in den Kindergarten kommt.
„Mamm.“
Ich stoppe. „Ä?“, denke ich irritiert. „Kann doch gar nicht sein!“ Und gehe weiter. Da höre ich es wieder:
„Maham.“
Wie angewurzelt bleibe ich wieder stehen […]
„Maham.“
Es klingt roboterhaft, mechanisch. Aber einen Roboter haben wir nicht. Wir haben hier zu Hause überhaupt kein Spielzeug, das spricht. Fragend drehe ich mich um und sehe meinen Sohn an. Der sitzt mitten auf seinem Bett. Seine Arme sind in meine Richtung gestreckt. Seine Augen sehen mich klar und deutlich an, halten meinen Blick.
„Valentin, hast du eben etwas gesagt?“ Ich glaube es immer noch nicht und starre gebannt auf die kleinen, vollen Kinderlippen.
„Mamm.“ (Seite 110)
Mit sechs kann Valentin zwar einige Wörter, doch über die Phase der Einwortsätze ist er noch nicht hinausgekommen. Die Schulärztin stellt ihn zweimal zurück. Im März 1990 wird Lara Andriessen aufgefordert, sich mit ihrem Sohn in der Sonderschule Frankensal zu melden. Carl meint, damit müsse sie sich abfinden, aber sie verlangt in der Grundschule Wachenheim den Rektor und setzt in einer ebenso heftigen wie lautstarken Auseinandersetzung durch, dass Valentin dort eingeschult wird.
Die Klasse leidet unter seinen Wutausbrüchen, und für die Lehrerin bedeutet das eine Kind so viel Stress wie alle anderen Kinder zusammen.
Er soll schreiben – er schreibt nicht. Er soll malen – er malt nicht. Er soll rechnen – er rechnet nicht. (Seite 140)
Trotz aller Schwierigkeiten wechselt Valentin schließlich zur Realschule und erreicht die mittlere Reife. Mit neunzehn sagt er im Gespräch mit seiner Mutter:
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[…] ich habe mir in die ‚andere Welt‘ ein Fenster gemacht. Anders hätte ich niemals in deine, die ganz andere Welt, sehen können.“
„Kannst du nicht auch eine Tür einbauen, Valentin?“
„Ich brauche keine Tür, Mama, denn verlassen kann ich die ‚andere Welt‘, das selbst gewählte Exil, nie – niemals wirklich.
[…] das selbst gewählte Exil ist für mich eine Welt, in der ich vor der anderen Welt, vor eurer Welt, die ich nicht verstehe, geschützt bin. Manchmal ist es dort für mich unerträglich, aber eure Welt ertrage ich noch viel weniger.“ (Seite 155f)
Der Begriff „frühkindlicher Autismus“ wurde 1934 von dem amerikanischen Kinderpsychiater Leo Kanner geprägt.
Das autistische Syndrom ist im Wesentlichen durch folgende Symptome gekennzeichnet:
– Stereotypien, d. h. zwanghaft sich wiederholende Verhaltensweisen (z. B. Bewegungen, Tagesablauf, Anordnung von Möbeln)
– Kommunikationsstörungen (z. B. kein Blickkontakt, Ablehnung von Zärtlichkeiten, Hinwendung zu Gegenständen)
– Störungen im Wahrnehmungsbereich (Unter- bzw. Übersensibilität gegenüber Sinneseindrücken, Bevorzugen der Nahsinne, z. B. Belecken und Beriechen von Gegenständen)
– Sprachstörungen (Mutismus, Beibehalten von Ein- oder Zweiwortsätzen, Verwechslung von „du“ und „ich“, verzögerte Echolalie, d. h. Nachsprechen von irgendwann Gehörtem)
– Plötzliche (unmotivierte) Affektausbrüche (Ängste, Schrei- oder Wutanfälle, z. T. mit Fremd- oder Selbstbeschädigung)
– Unvermögen, sich in andere Menschen hineinzuversetzen
– Mängel im Abstraktionsvermögen
(Hilfe für das autistische Kind, Hg.: Therapiezentrum Hilden, hier: Seite 191f)Autismus ist nicht etwas, was eine Person hat, oder eine Hülle, in der eine Person gefangen ist. Es gibt kein anormales Kind, das sich hinter dem Autismus verbirgt. Autismus ist eine Form des Seins. Er ist tief greifend; er färbt jede Erfahrung, jede Empfindung, jede Wahrnehmung, jeden Gedanken, jedes Gefühl und jede Begegnung, jeden Aspekt der Existenz.
[…] Autismus ist eine Art des Seins. Es ist nicht möglich, den Autismus von der Person zu trennen.
(Thorsten Gabriel: Autismus & Chancen, hier: Seite 166)
In ihrem bewegenden Roman „Das selbst gewählte Exil“ verarbeitet Lara Andriessen ihre Erfahrungen als Mutter eines autistischen Kindes. Sie tut das nicht abstrakt, sondern veranschaulicht die Erlebnisse mit rund sechzig Szenen, die zum Teil aus Dialogen bestehen und sehr lebendig wirken. Durch ihr eigenes Vorbild will sie anderen betroffenen Eltern Mut machen, ihre autistischen Kinder anzunehmen, und sie zeigt, dass sich mit sehr viel Geduld und Energie Erfolge erzielen lassen.
Ein 52 Seiten dicker Anhang enthält Fachaufsätze über Autismus, Checklisten, Literaturhinweise und Adressen sowohl von Therapiezentren als auch von Selbsthilfegruppen.
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004
Textauszüge: © Verlag Hartmut Becker
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