Dieter Wellershoff : Der Liebeswunsch

Der Liebeswunsch
Der Liebeswunsch Kiepenheuer & Witsch, Köln 2000 ISBN 978-3-462-02939-0, 396 Seiten ISBN 978-3-462-30027-7 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Eine Frau und zwei Männer bilden einen Freundeskreis, der sich durch eine jüngere Frau erweitert – und grundlegend verändert. Es kommt zu einer Rochade, die alles zerstört. Bei der Tragödie "Der Liebeswunsch" von Dieter Wellershoff handelt es sich um eine ins Köln der Neunzigerjahre verlegte Version des Romans "Die Wahlverwandtschaften" von Johann Wolfgang von Goethe.
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Kritik

Dieter Wellershoff entwickelt die Tragödie im Wechsel zwischen den Perspektiven der vier Romanfiguren. Dabei erweist er sich als tiefschürfender, beinahe schon grüblerischer Autor, der die Motive seiner Figuren gründlich ausleuchtet und ihr Verhalten, die psychologischen Zusammenhänge und Entwicklungen ebenso präzise wie anschaulich darstellt.
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Der Freundeskreis

Bevor das Ärzte-Ehepaar Paul und Marlene Gruner zu einer mehrwöchigen Asienreise aufbricht, beauftragt es die 29-jährige Studentin Anja, auf ihre Villa in Köln-Marienburg aufzupassen. Der Ferienjob kommt Anja gerade recht, denn sie will die Zeit nutzen, um im 14. Semester ihres Literatur- und Sprachen-Studiums endlich an ihrer Magisterarbeit zu schreiben.

Als Paul und Marlene zurückkommen, erfahren sie, dass sich ihr langjähriger Freund Dr. Leonhard Veith mit der sehr viel jüngeren Studentin verlobt hat, die er bei ihnen kennenlernte, als sie sich für den Ferienjob bewarb.

Marlene wundert sich zwar über die beiden, sieht aber auch das Gute der Entwicklung, denn die geplante Eheschließung wird das unausgewogene Verhältnis von Paul, Marlene und Leonhard entkrampfen.

Leonhard war nun nicht mehr unser Anhängsel, ein lieber alter Freund im Schatten unserer Ehe, sondern ein gleichrangiger Partner. Er hatte Symmetrie hergestellt und damit ganz neue Möglichkeiten des freundschaftlichen Umgangs geschaffen.

Marlene war zunächst nicht mit Paul, sondern mit dessen Freund Leonhard zusammen. Sie und Paul arbeiteten im selben Krankenhaus, er als Oberarzt in der Chirurgie, sie als Stationsärztin der Inneren Medizin. Der steife Jurist Leonhard hatte es bereits zum Vorsitzenden Richter am Landgericht gebracht. Als Marlene merkte, dass Leonhard nicht der passende Lebensgefährte für sie war, beschloss sie, sich von ihm zu trennen – zu einem Zeitpunkt, als sie ihn bereits mit Paul betrog. Den stellte sie entschlossen vor die Wahl, sich für sie oder seine Ehefrau und die beiden Kinder zu entscheiden. Notgedrungen verließ er seine Familie, um Marlene heiraten zu können.

Seither leben sie kinderlos in einer Villa, die Marlene gehört. Und Leonhard ist ihr gemeinsamer enger Freund geblieben. Nun erweitert sich der Kreis also um Anja.

Während Paul und Marlene in Asien waren, trafen sich Anja und Leonhard einige Male, und bevor er sie auch nur geküsst hatte, machte er ihr einen Heiratsantrag.

„Können Sie sich vorstellen, meine Frau zu werden?“, fragte er. Und ich sagte: „Ja.“

Einen Monat später findet die Hochzeit statt, und die Flitterwochen verbringt das Paar in Italien, wo Leonhard erstmals – und unbeholfen – mit seiner Frau schläft. Wenn er ihr tagsüber Sehenswürdigkeiten zeigt, fühlt er sich sicherer.

Vor allem seine Sprechweise und seine Stimme strengten sie an, der dozierende Ton, mit dem er sich zwischen sie und die besichtigten Kunstwerke und Szenerien schob. […] Ihm war es selbstverständlich, dass er mehr wusste als sie, und wahrscheinlich gewann er daraus seine Sicherheit.

Er ging selbstverständlich davon aus, dass er nicht nur für sich, sondern auch für ihr Leben zuständig war.

Ein halbes Jahr nach der Geburt des Sohnes Daniel mietet Leonhard ein Reihenhaus in Köln-Bayenthal. Anja übernimmt eine Nebentätigkeit und erstellt für die Redaktion eines Fernsehsenders Lektoratsgutachten über Buchneuerscheinungen.

Sie war vier Jahre alt, als ihr Vater zu einer anderen Frau zog. Die Mutter heiratete kein zweites Mal. Sie betreibt ein kleines Modegeschäft und findet, dass Anja das große Los gezogen habe.

„Du hast das große Los gezogen, Anja.“
Immer wieder sagte sie es mir. Leonhard, ein guter Hausvater und Ehemann, bei dem Daniel und ich gut aufgehoben sind, ein zuverlässiger, ordentlicher, allgemein geachteter Mann, so viel reifer, so viel erwachsener als ich.

Der Unfall

Als die 33-Jährige für ihren dreieinhalb Jahre alten Sohn Daniel Kakao zubereiten will und Milch auf einer Herdplatte erhitzt, klingelt das Telefon. Der Redakteur Frank mahnt ein fälliges Gutachten von ihr an. Plötzlich schreit Daniel in der Küche. Der Junge versuchte, die kochende Milch vom Herd zu nehmen. Dabei riss er den Topf herunter und verbrühte sich so schwer, dass er drei Wochen lang im Krankenhaus behandelt werden muss.

Leonhard betrachtet den Unfall als Folge von Anjas Unzuverlässigkeit und Schlamperei. Während sie noch nie ein klares Ziel vor Augen hatte, hält ihr deutlich älterer Ehemann das Leben für eine zu planende Organisationsaufgabe.

Der Vorfall setzt Anja zu. Sie beginnt zu trinken.

Die Affäre

Zur selben Zeit erfährt Anja, dass Marlene Leonhard wegen Paul verlassen hatte. Und sie beginnt eine Affäre mit Paul – der seinen Freund zum zweiten Mal hintergeht.

In der Ehe von Paul und Marlene kriselt es.

Aber an manchen Tagen glitten wir in unserem Haus aneinander vorbei wie zwei stumme Fische in einem Aquarium.

Marlene argwöhnt, dass Paul und Anja mehr als Freundschaft verbinden könnte, und um die beiden besser beobachten zu können, überredet sie ihren Mann und das befreundete Ehepaar zu einer gemeinsamen Florida-Reise.

Zufällig sieht Marlene dann eines Tages in Köln, wie Anja und kurz darauf Paul ein Haus betreten. Tatsächlich hat Paul nach der Rückkehr aus den USA ein Apartment als Liebesnest für sich und Anja gemietet. Marlene stellt ihn zur Rede – und als Leonhard anruft und fragt, ob Anja bei den Freunden sei, klärt sie auch ihn über die Affäre auf.

Der Jurist beschließt daraufhin, sich von Anja scheiden zu lassen. Er fordert sie auf, erst einmal in eine Pension zu ziehen und sich dann eine Wohnung zu suchen. Mit finanzieller Unterstützung könne sie rechnen, aber Daniel bleibe bei ihm. Tatsächlich erklärt sich seine Schwiegermutter bereit, zu ihm ins Haus zu ziehen und ihren Enkel zu betreuen.

Paul kommt zur Besinnung und möchte seine Ehe retten. Nicht zuletzt deshalb beendet er die Affäre mit Anja. Aber Marlene besteht darauf, dass er sich eine eigene Wohnung nimmt und lässt sich von ihm scheiden.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Ein Jahr später

Es dauert länger als ein Jahr, bis Marlene einen Käufer für die Villa findet. Noch arbeitet sie weiter im Krankenhaus, aber ihr Ziel ist es, eine eigene Arztpraxis aufzumachen.

Paul lebt inzwischen mit der Anästhesistin Sibylle zusammen, mit der er früher schon einmal während eines Ärztekongresses geschlafen hatte. Mit ihm hat Marlene keinen Kontakt mehr. Aber aus der Freundschaft zwischen ihr und Leonhard ist ein enges Vertrauensverhältnis geworden. Und so lädt er sie auch zur Feier seiner Ernennung zum Präsidenten des Oberlandesgerichts im Festsaal der Flora im Botanischen Garten ein.

Dort taucht Anja auf, in einem unpassenden Minikleid. Sie ist bereits angetrunken und lässt sich in der Flora ein Glas Rotwein nach dem anderen bringen, bis Marlene sie drängt, das Fest zu verlassen und sie nach Hause fährt.

Erst jetzt erfährt Marlene, dass Anja von ihrer Wohnung in ein Zimmer in einem leerstehenden Gewerbebau in Köln-Zollstock umziehen musste.

Am nächsten Morgen will sie Anja besuchen, aber niemand öffnet. Marlene ruft die Feuerwehr. Die Männer brechen die Tür auf und finden Anja bewusstlos im Bett liegend vor. Augenscheinlich eine Alkoholvergiftung.

Das Ende

Vom Krankenhaus wird Anja in eine Entzugsklinik verlegt.

Nach einiger Zeit darf sie ebenso wie andere Patientinnen und Patienten an einem aus Therapiegründen organisierten Busausflug zur Insel Grafenwerth teilnehmen. Diese Gelegenheit nutzt sie, um zu fliehen, zunächst mit der Schnellbahn nach Bonn, dann mit einem zur Abfahrt bereitstehenden Zug nach Cuxhaven.

In einem Wohnturm in Cuxhaven-Sahlenburg mietet sie ein Zimmer im 14. Stockwerk. Drei Tage hält sie ohne Alkohol durch, indem sie sich in die Arme schneidet und Schmerzen zufügt. Dann trinkt sie eine Flasche Rum – und ekelt sich, als sie in ihrem Erbrochenen aufwacht.

Ein Zeuge beobachtet zufällig, wie sich in der 14. Etage eine Frau rücklings auf die Balustrade der Loggia setzt. Er denkt noch, dass das leichtsinnig sei. Da reißt Anja die Arme über den Kopf und lässt sich nach hinten fallen.

Das geschah vor sechs Jahren.

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Bei dem Roman „Der Liebeswunsch“ von Dieter Wellershoff handelt es sich um eine ins Köln der Neunzigerjahre verlegte Version des Romans „Die Wahlverwandtschaften“ von Johann Wolfgang von Goethe. Es geht um eine Frau und zwei Männer, die einen Freundeskreis bilden, der sich durch eine jüngere Frau erweitert – und grundlegend verändert. Es kommt zu einer Rochade, die alles zerstört.

Der Chirurg Paul ist ein treuloser Schürzenjäger. Die Internistin Marlene behauptet sich ebenso selbstbewusst wie zielstrebig. Der Richter Leonhard macht zwar erfolgreich Karriere, erweist sich jedoch im Privatleben als sozial inkompetent und scheitert infolgedessen mehrfach. Bei Anja handelt es sich um eine ebenso labile wie ziellose Hysterikerin, deren „Liebeswunsch“ sich nicht mit der Realität vereinbaren lässt.

Dieter Wellershoff entwickelt die Tragödie im Wechsel zwischen den Perspektiven der vier Romanfiguren, davon drei in der Rückschau. Warum er dabei mitunter im Absatz oder sogar innerhalb eines Satzes von der ersten zur dritten Person bzw. zurück wechselt, erschließt sich mir nicht.

Das Haus hat uns zusammengebracht, dachte SIE später. Er kannte sich hier aus und fühlte sich sicher, und MIR gefiel es, in dieser Umgebung mit ihm zu Abend zu essen und MICH nachher mit hochgezogenen Füßen in einen Sessel zu kauern und zuzuhören, wie er von seinem letzten Prozess erzählte. ICH fühlte mich anders als gewohnt, war in einem neuen Film.

Es war, als nehme SIE eine Schuld auf sich, die SIE nicht kannte.
Schuld – erinnerte SIE sich später. ICH dachte wirklich, ICH nähme eine Schuld auf MICH, für die ICH einmal zu büßen hätte.

Etwas befremdet war ER schon, dass ER jetzt um die Mittagszeit niemanden zu Hause vorfand. Später dachte ER, es war das Gefühl einer schlechten Vorahnung, das MICH beschlich, als ICH die Haustür aufschloss und durch die Räume des Erdgeschosses ging, wo alles aufgeräumt war und die Möbel wie in einer Ausstellung herumstanden. Auch oben war niemand zu hören, keine Stimme, keine Schritte, die die Treppe herunterkamen. ER verbot sich, „hallo“ zu rufen.

Dass Anja nicht überlebt, erfahren wir in den allerersten Zeilen des Romans „Der Liebeswunsch“:

Manchmal denke ich, dass ich nicht sie erklären muss, sondern mich, mein Interesse an ihr, das so spät, fast sechs Jahre nach ihrem Tod, wieder in mir erwacht ist.

Weil wir das Ende schon kennen, kann es in „Der Liebeswunsch“ nur um die Rekonstruktion des Geschehens bzw. eine Motiv- und Spurensuche gehen. Dabei erweist sich Dieter Wellershoff als tiefschürfender, beinahe schon grüblerischer Autor. Er leuchtet die Motive seiner Figuren gründlich aus und stellt ihr Verhalten, die psychologischen Zusammenhänge und Entwicklungen ebenso präzise wie anschaulich dar. Im Gegensatz zu anderen Schriftstellerinnen und Schriftstellern erläutert er sogar zu viel, statt das eine oder andere nur anzudeuten und der Leserin bzw. dem Leser die Interpretation zu überlassen.

Torsten C. Fischer verfilmte den Roman von Dieter Wellershoff mit Jessica Schwarz, Ulrich Thomsen, Barbara Auer und Tobias Moretti in den Hauptrollen: „Der Liebeswunsch“.

Den Roman „Der Liebeswunsch“ von Dieter Wellersdorff gibt es auch als Hörbuch, gesprochen von Gudrun Landgrebe, Anne Moll, Ulrich Pleitgen und Udo Schenk (Regie und Produktion: Kerstin Kaiser und Marc Sieper).

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2023
Textauszüge: © Kiepenheuer & Witsch

Torsten C. Fischer: Der Liebeswunsch

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon einen Monat, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte. Aus familiären Gründen reduziere ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik.