Terri Schiavo


Theresa (»Terri«) Schindler wurde am 3. Dezember 1963 in einer Vorstadt von Philadelphia in Pennsylvania geboren und wuchs dort als ältestes von drei Geschwistern auf. In der Highschool galt Terri Schindler mit 90 Kilogramm bei 1,60 Meter Körpergröße als übergewichtig, aber 1981 nahm sie durch eine Diät 25 Kilogramm ab. Am Bucks County Community College in Newtown, Pennsylvania, befreundete sie sich 1982 mit ihrem auf den Tag genau acht Monate älteren Kommilitonen Michael Schiavo. Die beiden heirateten am 10. November 1984 in South Hampton, Pennsylvania, und zogen eineinhalb Jahre später nach St. Petersburg, Florida, in eine Eigentumswohnung von Terris Eltern Robert (»Bob«) und Mary Schindler, die ihnen drei Monate später folgten. Michael Schiavo fand in Florida eine Stelle als Restaurant-Manager, und Terri bearbeitete Schadensfälle bei einer Versicherungsgesellschaft.

Am frühen Morgen des 25. Februar 1990 brach Terri Schiavo vermutlich infolge eines durch Bulimie verursachten Kaliummangels in ihrer Wohnung zusammen. Michael Schiavo alarmierte den Notdienst. Das Herz der Sechsundzwanzigjährigen hatte zu schlagen aufgehört. Terri Schiavo konnte zwar reanimiert werden, doch der Sauerstoffmangel hatte ihre Großhirnrinde (Cortex cerebri) nahezu vollständig zerstört. Das bedeutete nach Meinung der Mediziner, dass Terri Schiavo weder sich noch ihre Umgebung wahrnahm, auch wenn die vegetativen Körperfunktionen durch das Klein- und das Stammhirn aufrechterhalten wurden und sie nach einiger Zeit vom tiefen Koma ins Wachkoma wechselte.

Am 1. September 1990 holte Michael Schiavo seine Frau nach Hause. Spenden ermöglichten es ihm, mit ihr im November nach San Francisco zu fliegen, wo man vergeblich versuchte, ihr Gehirn zu stimulieren. Im Januar 1991 kehrte er mit Terri Schiavo nach Florida zurück. Weil seine Schwiegereltern und er mit der Versorgung der Komapatientin überfordert waren, wurde sie wieder in ein Krankenhaus eingeliefert.

Michael Schiavo fand sich im Lauf der Zeit mit der Diagnose ab, dass seine Frau aufgrund irreversibler Hirnschäden nie mehr zu sich kommen werde. Acht Jahre nach ihrem Zusammenbruch, im Mai 1998, beantragte er als Vormund der Patientin die gerichtliche Genehmigung für die Entfernung der Magensonde und berief sich auf Terris früher ihm und anderen gegenüber mündlich geäußerten – jedoch nicht schriftlich festgehaltenen – Wunsch, im Fall einer unheilbaren Erkrankung nicht künstlich am Leben gehalten zu werden. Dagegen legten seine katholischen Schwiegereltern sogleich Widerspruch ein, denn sie hielten Sterbehilfe für etwas Verwerfliches, klammerten sich an die Hoffnung auf eine Besserung des Zustandes ihrer Tochter und wollten keine Chance vertun.

Robert und Mary Schindler forderten Michael Schiavo auf, sich von ihrer Tochter scheiden zu lassen und ihnen die Vormundschaft für Terri abzutreten, zumal er inzwischen mit Jodi Centonze zusammenlebte. (Das Paar bekam zwei Kinder – im Herbst 2002 und im Frühjahr 2004 – und heiratete am 23. Januar 2006.) Eine Ehescheidung, die zum Verlust der Vormundschaft für seine Frau geführt hätte, lehnte Michael Schiavo ab, und am 24. April 2001 ließ er die künstliche Ernährung der Komapatientin mit Genehmigung des Bezirksrichters George Greer beenden. Wegen einer einstweiligen Verfügung des von Robert und Mary Schindler eingeschalteten Richters Frank Quesada musste die Magensonde am übernächsten Tag jedoch wieder eingesetzt werden.

Nachdem Robert und Mary Schindler damit gescheitert waren, die Vormundschaft ihres Schwiegersohns für Terri Schiavo zu beenden und auch vergeblich versucht hatten, die Behauptung zu widerlegen, ihre Tochter habe im Fall einer unheilbaren Erkrankung nicht künstlich am Leben gehalten werden wollen, argumentierten sie nun mit ihren Zweifeln an der hoffnungslosen medizinischen Diagnose gegen eine Beendigung der künstlichen Ernährung ihrer Tochter. Ein neues EEG zeigte allerdings keine messbaren Gehirnaktivitäten.

Als man die Magensonde am 15. Oktober 2003 erneut entfernte, schritt Jeb Bush, der fünfzigjährige Bruder des amtierenden US-Präsidenten und Gouverneur von Florida, persönlich ein, um durch ein im Eilverfahren erlassenes Gesetz (»Terri’s Law«) die Fortsetzung der künstlichen Ernährung von Terri Schiavo nach sechseinhalb Tagen zu erzwingen. Dieses Gesetz widerspreche der Verfassung, urteilte der Supreme Court von Florida am 23. September 2004, und das von Robert und Mary Schindler angerufene Oberste Gericht der Vereinigten Staaten erklärte sich am 24. Januar 2005 für unzuständig.

Im Lauf der Jahre griffen Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehsender die gerichtliche Auseinandersetzung zwischen Michael Schiavo und seinen Schwiegereltern auf und skandalisierten den Fall. Michael Schiavo wurden monetäre Interessen unterstellt. Hatten er und seine Frau doch im August 1992 bzw. im Februar 1993 aufgrund einer außergerichtlichen Einigung mit einem Arzt und einer Klage gegen einen anderen insgesamt 1,3 Millionen Dollar erhalten, weil es bei der medizinischen Betreuung von Terri Schiavo vor dem Zusammenbruch zu Fehlern gekommen war.

Ob Michael Schiavo durch die Beendigung der künstlichen Ernährung seiner Frau verhindern wolle, dass die Gelder durch die Pflegekosten aufgezehrt wurden, fragten seine Gegner. (Am Ende sollen sie tatsächlich für die Pflege von Terri Schiavo und die gerichtliche Auseinandersetzung ihres Mannes mit seinen Schwiegereltern aufgebraucht worden sein.) Außerdem spekulierte man, ob Michael Schiavo seine Frau misshandelt hatte [Gewalt in der Ehe] und sie deshalb zusammengebrochen war. Eine Krankenschwester sagte 2003 aus, sie habe ihn sagen gehört: »When is that bitch gonna die?« Außerdem wollte sie mehrmals bei Terri Schiavo einen auffällig niedrigen Blutzuckerwert gemessen haben und hielt es deshalb für möglich, dass Michael Schiavo seiner bewusstlosen Frau Insulin injiziert hatte.

Robert und Mary Schindler versprachen sich von dem öffentlichen Interesse eine breite Unterstützung und bedienten sich schließlich bewusst der Medien. Beispielsweise ließen sie im Fernsehen Ausschnitte aus einem Video ausstrahlen, auf denen die Komapatientin die Augen aufriss und gutturale Laute von sich gab. Damit, so Robert und Mary Schindler, sei bewiesen, dass ihre Tochter auf sie reagiere.

Terri Schiavo wurde zur Berühmtheit – ungewollt und ohne sich dagegen wehren zu können. Eine sehr private Angelegenheit löste nicht nur in den USA, sondern auch in Europa eine öffentliche Debatte über Fragen aus, die mit dem Thema Sterbehilfe zusammenhingen. In Deutschland ging es dabei vor allem auch um eine Regelung des Umgangs mit Patientenverfügungen. Die Diskussion darüber, ob Terri Schiavo weiterleben solle oder nicht, wurde von Interessengruppen und religiösen Fanatikern instrumentalisiert, denen es weniger um die Betroffenen als um Aufmerksamkeit für ihre Parolen ging. Politiker griffen ein, um sich in der Öffentlichkeit zu profilieren. Einige von ihnen versuchten sogar, Gerichtsentscheidungen zu unterlaufen.

Der Bezirksrichter George Greer gab am 25. Februar 2005 – auf den Tag genau fünfzehn Jahre, nachdem Terri Schiavo ins Koma gefallen war – einem neuen Antrag des Ehemanns auf die Beendigung der künstlichen Ernährung seiner Frau statt. Die Ärzte warteten zunächst die Beratungen über ein Gesetz ab, mit dem es in Florida verboten werden sollte, Komapatienten die künstliche Ernährung zu verweigern. Es wurde zwar vom Repräsentantenhaus in Florida angenommen, aber vom Senat verworfen. Am 18. März 2005, einen Tag nach der Entscheidung, entfernten die Ärzte die Sonde in Terri Schiavos Magen zum dritten Mal.

Eine Woche zuvor hatte der Medienzar Robert Herring Terri Schiavos Ehemann vergeblich eine Million Dollar für den Verzicht auf die Vormundschaft geboten. Im Internet wurden 250 000 Dollar für die Ermordung von Michael Schiavo ausgelobt, und der Richter George Greer musste wegen Morddrohungen unter Polizeischutz gestellt werden. Mit allen Mitteln versuchten Gegner der Sterbehilfe die Wiederaufnahme der künstlichen Ernährung zu erzwingen. Am 20. März 2005 unterbrach Präsident George W. Bush seine Osterferien auf der »Prairie Chapel Ranch« in Crawford, Texas, und flog nach Washington, um dort in der Nacht auf den 21. März 2005 ein unmittelbar zuvor von beiden Häusern des Kongresses verabschiedetes Eilgesetz zu unterzeichnen, das Terri Schiavos Eltern die Möglichkeit eröffnete, den U. S. Supreme Court erneut anzurufen. Bush hätte das Gesetz auch in Crawford unterzeichnen können, aber er zog es vor, seinen beherzten Einsatz für das Leben einer amerikanischen Mitbürgerin medienwirksam zu inszenieren. Eine klare Mehrheit der Amerikaner war allerdings der Meinung, die Politiker sollten Terri Schiavos Ehemann die Entscheidungen für seine Frau überlassen.

Robert und Mary Schindlers Eilantrag auf Wiederaufnahme der künstlichen Ernährung wurde am 22. März in Tampa, Florida, von Bundesrichter James Whittemore abgelehnt. Dagegen legten Robert und Mary Schindler unverzüglich Berufung beim zuständigen Bundesgericht in Georgia, Atlanta, ein, aber damit hatten sie ebensowenig Erfolg wie beim Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten von Amerika, der ihre Eingabe am 24. März ohne Begründung zurückwies.

»The Los Angeles Times« deckte am 26. März auf, dass Tom DeLay, der achtundfünfzigjährige Fraktionsvorsitzende der Republikaner im Repräsentantenhaus, einer der vehementesten Kämpfer für die Fortsetzung der künstlichen Ernährung Terri Schiavos, 1988 einverstanden gewesen war, das Leben seines bei einem Straßenbahnunfall schwer verletzten Vaters nicht künstlich zu verlängern.

Wochenlang beherrschten die Meldungen über Terri Schiavo die Schlagzeilen. Das »Woodside Hospice« in Pinellas Park, Florida, musste schwer bewacht werden, damit keine Sensationsreporter zu der Patientin vordrangen, die allmählich verhungerte und verdurstete. Laut eines Berichts im »Miami Herald« hinderte die örtliche Polizei auch eine Einheit des dem Gouverneur unterstehenden »Florida Department of Law Enforcement« daran, Terri Schiavo in eine andere Klinik zu bringen, wo sie weiter künstlich ernährt werden sollte. Vor dem Gebäude versammelten sich Demonstranten für und gegen die Einstellung der künstlichen Ernährung mit Plakaten, und Fernsehsender stellten Kameras und Übertragungswagen auf, damit ihnen nichts entging. Michael Schiavo übernachtete seit dem 18. März im Hospiz und saß bis zuletzt am Bett der Sterbenden. Dass er nur seinem Schwager Robert (»Bobby«) Schindler und seiner Schwägerin Suzanne Vitadamo erlaubte, ihre Schwester zu besuchen, aber den Eltern der Sterbenden den Zugang zu ihrer Tochter verweigerte, wurde von vielen als grausam empfunden. Robert und Mary Schindler durften erst von ihr Abschied nehmen, nachdem sie am 31. März an Dehydrierung gestorben war und Michael Schiavo den Raum verlassen hatte.

Bei einer Obduktion am nächsten Tag bestätigte sich die Diagnose, derzufolge auch bei einer Fortsetzung der künstlichen Ernährung keine Aussicht auf eine Verbesserung des Zustandes der Patientin bestanden hätte: Das Gehirn war auf die Hälfte geschrumpft, und Terri Schiavo hatte ihre Umwelt in keiner Weise mehr wahrnehmen können.

Michael Schiavo hatte in diesem Fall den Abbruch einer Maßnahme durchgesetzt, mit der die vegetativen Körperfunktionen seiner Frau aufrechterhalten worden waren. Die öffentliche Debatte, ob Ärzte Sterbehilfe leisten dürfen und sich beispielsweise an eine Patientenverfügung halten müssen, ging jedoch sowohl in den USA als auch in Europa weiter. Eine einfache Antwort gibt es nicht darauf.

Peter Handke - Wunschloses Unglück
Peter Handke wählte in "Wunschloses Unglück" eine realistisch und distanziert erscheinende, nicht besonders anschauliche Darstellungsweise und reflektiert zwischendurch darüber, dass er weder eine individuelle Biografie noch die Geschichte einer Kunstfigur erzählen möchte.
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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.