Marieluise Fleißer
Marieluise Fleißer ahnte zunächst nicht, welche Sprengladung Bertolt Brecht bei seiner Inszenierung ihrer Komödie »Pioniere in Ingolstadt« zünden würde. Die Aufführung 1929 in Berlin löste einen Theaterskandal aus: Die Autorin wurde dadurch zwar berühmt, aber von den Militaristen angefeindet, von den Konservativen im »Ur- und Affenwald« verortet und in ihrer Heimatstadt als Nestbeschmutzerin verfemt.
Tabellarische Biografie: Marieluise Fleißer
Marieluise Fleißer:
»Die Liebe haben wir ausgelassen«
Leseprobe aus
Dieter Wunderlich: AußerOrdentliche Frauen. 18 Porträts
Piper Verlag, München 2009 (3. Auflage: 2011)
Als im Theater am Schiffbauerdamm in Berlin die Satire »Giftgas über Berlin« von Martin Lampel sofort nach der Premiere am 5. März 1929 verboten wurde, weil es dabei um Putschpläne der Reichswehr ging, empfahl Bertolt Brecht die »Pioniere in Ingolstadt« als Ersatz. Brecht, der die Fäden zog, auch wenn es offiziell hieß, sein Freund Jacob Geis führe Regie, bestand auf Änderungen. Marieluise Fleißer, die kurz vor der Uraufführung nach Berlin kam, musste während der Proben hektisch Passagen umschreiben und Dialoge zuspitzen. Als sie unter der Belastung zusammenbrach, machte Brecht ohne sie weiter, fügte eine Sexszene auf einem Friedhof hinzu und inszenierte die Defloration Bertas, die man in Dresden hinter den Kulissen angedeutet hatte, in einer auf der Bühne hin- und hergestoßenen Kiste.
Bei der Premiere der Neufassung der »Pioniere in Ingolstadt« im Theater am Schiffbauerdamm am 30. März 1929 – einem Ostersamstag – reagierten einige Zuschauer auf die provozierenden Szenen mit Pfiffen und Buh-Rufen. Am Ende klatschten viele gegen die Protestierenden im Publikum an, und die Autorin verbeugte sich unsicher mit den Darstellern auf der Bühne. Der Berliner Polizeipräsident Bernhard Weiß drohte mit einem Aufführungsverbot und verlangte Streichungen.
Die »Berliner Illustrierte Nachtausgabe« druckte den offenen Brief eines Kritikers an den Bürgermeister von Ingolstadt: »Ein junges Mädchen Ihrer Stadt, der die Kochschule nichts Interessantes bot, hat zu dichten begonnen […] Porno-
dramatisches zwischen Kulissen […] Verspottung der Provinz; Ingolstadt als idiotisches Nest; Soldaten als Schweinehunde […] Rufen Sie doch die Dichterin zurück! Verheiraten Sie das Mädel, vielleicht gibt sie dann das Stückeschreiben, das eine Folge ungelöster Komplexe zu sein scheint, auf!« Darauf antwortete Bürgermeister Friedrich Gruber: »Gegen das gemeine Machwerk der Schriftstellerin Marieluise Fleißer Pioniere in Ingolstadt, wodurch Ingolstadt und seine Einwohnerschaft und die ehemalige Pioniergarnison aufs schwerste beleidigt und verhöhnt wird, erheben wir feierlichst Protest. Ebenso protestieren wir gegen die weitere Aufführung dieses Schmähstückes.« Gegen diese Verunglimpfung wehrte sich Marieluise im »Berliner Tageblatt«: »Sie haben gegen mein Stück Pioniere in Ingolstadt protestiert und es ein gemeines Machwerk, ein Schmähstück, ein Schandstück genannt. Warum denn gleich so hitzig? Sie haben ja die Aufführung nicht einmal gesehen, auch das Stück nicht gelesen, da es niemand zugänglich war.« Die Dramatikerin strengte einen Beleidigungsprozess gegen den Bürgermeister an, der daraufhin 1931 in zweiter Instanz zu einer Geldstrafe verurteilt wurde.
Wie von Brecht beabsichtigt, löste seine Inszenierung der »Pioniere in Ingolstadt« einen Theaterskandal aus. Gerade deshalb fand die Komödie große Beachtung und wurde in einer entschärften Version bis zum 8. Mai 1929 gespielt. Marieluise Fleißer, die nicht hatte ahnen können, welcher Sprengstoff in ihrem Stück steckte, wurde damit berühmt, in ihrer Heimatstadt jedoch als Nestbeschmutzerin verfemt, von den Militaristen angefeindet und von den Konservativen im »dicksten sexuellen Ur- und Affenwald« verortet. »Nur weiter so«, drohte die »Deutsche Zeitung«. »Im Theater geht es jetzt los. Das Konzert hat angefangen. Auf der Straße wird es weitergehn. Bald kann die Treibjagd beginnen.«
Aufgeschreckt und verstört durch die Hetze gegen sie, überwarf Marieluise sich mit Bertolt Brecht, dem sie die Schuld zuschob und der sie mit den Folgen des Skandals »wie mit einem Besenkammer-Balg« allein ließ. »Nicht nur wegen dem Skandal« habe sie mit Brecht gebrochen, erklärte Marieluise Fleißer in einem Interview, »sondern weil ich das einfach nicht mehr ausgehalten hab‘, die vielen Frauen um ihn, die Weigel, die Elisabeth Hauptmann, die Carola Neher«.
Lediglich Bepp Haindl hielt zu ihr und verteidigte sie »mit der Bravour des sinnlos Verliebten« , wenn die Kameraden in seinem Schwimmverein über sie herzogen. Trotzdem beabsichtigte Marieluise. sich von ihm zu trennen und lud ihn deshalb – einem Rat Lion Feuchtwangers folgend – nach Berlin ein. Als Bepp Haindl erfuhr, warum sie mit ihm reden wollte, soll er sie mit einem Messer bedroht haben.
Quelle: Dieter Wunderlich, AußerOrdentliche Frauen. 18 Porträts
© Piper Verlag, München 2009
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Fußnoten wurden in der Leseprobe weggelassen. Zitate:
Hiltrud Häntzschel: Marieluise Fleißer, 2007, S. 182f
Günther Rühle (Hg.): Materialien zum Leben und Schreiben der Marieluise Fleißer, 1973, S. 113
„Theater heute“, 8/2001
Marieluise Fleißer (tabellarische Biografie)