George Forestier / Karl Emerich Krämer


Am 2. März 1952 wandte sich Dr. Karl Friedrich Leucht aus Aschaffenburg an den Eugen Diederichs Verlag in Düsseldorf. Er gab sich als Bundeschorleiter des Maintalsängerbundes aus und legte seinem Brief „auf Anraten von Herrn Dr. Gottfried Benn“ deutschsprachige Gedichte seines jungen im Indochina-Krieg verschollenen elsässischen Freundes George Forestier bei. Bereits am 21. März zeigte sich der Verlag interessiert, und Karl Friedrich Leucht teilte am 6. April mit, inzwischen könne er weitere 18 Gedichte anbieten, die er von der Frau eines Kameraden des Legionärs George Forestier erhalten habe. Gefunden habe man sie in einer Kladde des Vermissten mit Gedichten Gottfried Benns.

Im September 1952 publizierte der Eugen Diederichs Verlag in Düsseldorf unter dem Titel „Ich schreibe mein Herz in den Staub der Straße“ einen 48 Seiten dicken Band mit Gedichten von George Forestier und fügte eine vom Herausgeber Karl Friedrich Leucht verfasste Biografie bei:

George Forestier wurde am 3. Januar 1921 in der elsässischen Gemeinde Rouffach geboren. Nach schwieriger Kindheit studierte er in Strassburg und Paris. 1941 meldete er sich freiwillig zur Waffen-SS und kam an der deutschen Ostfront zum Einsatz. Deshalb wurde George Forestier 1945 in Frankreich als Kollaborateur verurteilt. Drei Jahre später meldete er sich in Marseille zur Fremdenlegion und kämpfte im Indochina-Krieg. Seit dem Kampf um den Song-Woi im November 1951 galt George Forestier als vermisst.

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung druckte zwei der Gedichte nach. Auch Literaturkritiker äußerten sich begeistert über George Forestier. Stefan Andres meinte: „Wir Deutschen hatten noch keinen Rimbaud, mit Forestier haben wir ihn.“ Und Gottfried Benn, der es allerdings abgelehnt hatte, ein Geleitwort für das Buch zu schreiben, lobte die „wunderbar zarte[n], gedämpfte[n], melancholische[n] Verse“.

Aufgrund des Erfolgs – acht Auflagen, 21 000 Exemplare – schoben der Eugen Diederichs Verlag und der Herausgeber Karl Friedrich Leucht 1954 einen zweiten Gedichtband von George Forestier nach: „Stark wie der Tod ist die Nacht ist die Liebe“.

Dabei wusste der Verleger Dr. Peter Diederichs bereits seit dem Vorjahr, dass es George Forestier gar nicht gab. Die dem angeblichen SS-Mann und Fremdenlegionär zugeschriebenen Gedichte stammten von Karl Emerich Krämer, dem Herstellungsleiter und einem der Lektoren des Eugen Diederichs Verlags. Bei dem 1952 in der Verlagszeitschrift „Der Diederichs Löwe“ präsentierten Bild des Autors George Forestier handelte es sich um das Foto einer Büste des Bildhauers Erich Sperling von Karl Emerich Krämer aus dem Jahr 1939, die sich allerdings beim Brennen verzogen hatte.

Karl Emerich Krämer wurde am 31. Januar 1918 in Düsseldorf geboren. 1932 wurde er Hitlerjunge. 1934/35 war er als Volontär bei der Kölner Zeitung und der Rheinischen Landeszeitung. Als Externer holte er 1937 das Abitur nach, um Germanistik und Staatswissenschaft an den Universitäten in Bonn und Frankfurt/M studieren zu können. Parallel dazu veröffentlichte Karl Emerich Krämer linientreue Texte, für die ihn die Reichsschrifttumskammer auszeichnete. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde er zur Wehrmacht einberufen. Nachdem er sich von einer 1943 vor Charkow erlittenen Verwundung erholt hatte, übernahm er Partei- bzw. Wehrmachts-Aufgaben in Franken. Bei Kriegsende internierten ihn die Amerikaner und hielten ihn bis Mai 1946 in einem Lager bei Hersbruck gefangen. 1949 promovierte Karl Emerich Krämer in Bonn. Im Jahr darauf stellte ihn der Eugen Diederichs Verlag in Düsseldorf ein.

1953, also noch bevor der Lyrikband „Stark wie der Tod ist die Nacht ist die Liebe“ von George Forestier erschien, wechselte Karl Emerich Krämer zum Rauch-Verlag in Düsseldorf.

Anfang 1955 bot er dem Eugen Diederichs Verlag Feldbriefe zur Veröffentlichung an, die George Forestier 1940 bis 1943 an eine Unbekannte geschrieben haben soll. Peter Diederichs machte davon keinen Gebrauch. „Briefe an eine Unbekannte, herausgegeben und eingeleitet von Karl Friedrich Leucht“ erschien noch im selben Jahr im Georg Büchner Verlag in Darmstadt und Zürich, den Karl Emerich Krämer nach seinem Ausscheiden beim Rauch-Verlag übernehmen wollte. Mit der Bemerkung „unleserlich“ ausgelassene Textstellen und ein im Faksimile wiedergegebenes Gedicht mit Korrekturen verstärkten den Eindruck der Echtheit. Aber die Vorlage für das Faksimile stammte von dem Grafiker Walter Geppel aus Darmstadt.

Peter Diederichs ging im Juni 1955 mit seinem Wissen an die Öffentlichkeit und teilte in einem Rundschreiben an Buchhandlungen mit, dass es den dichtenden Fremdenlegionär George Forestier nie gegeben habe. Damit löste er einen Literaturskandal aus.

Übrigens verbarg sich Karl Emerich Krämer auch hinter dem angeblichen Bundeschorleiter Dr. Karl Friedrich Leucht aus Aschaffenburg.

Er veröffentlichte weiterhin Gedichte unter dem Namen George Forestier, ohne allerdings an die ersten Erfolge anknüpfen zu können. Karl Emerich Krämer starb am 28. Februar 1987 in Düsseldorf.


Michael Zeller baute den Literaturskandal um Karl Emerich Krämer bzw. George Forestier in seinen Roman „Falschspieler“ ein.

© Dieter Wunderlich 2015

Michael Zeller: Falschspieler

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Der Roman "Rückvergütung" lässt sich als Satire oder Wirtschafts-Thril­ler lesen, denn Jürgen Theobaldy balanciert zwischen Ernst und Tragi­komik. Gerade, weil er jede Effekthascherei vermeidet, gewinnt man beim Lesen den Eindruck, dass es sich bei dem Betrug nicht um einen Einzelfall handelt.
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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon einen Monat, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte. Aus familiären Gründen reduziere ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik.