Dumitru Tsepeneag : Hotel Europa

Hotel Europa
Manuskript: 1992/1993 Originalausgabe: Hotel Europa Verlag Editura Albatros, Bukarest 1996 Hotel Europa Übersetzung: Ernest Wichner Alexander Fest Verlag, Berlin 1998
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der Roman "Hotel Europa" spielt in der Zeit der Umwälzungen nach dem Zusammenbruch des Ostblocks 1989/90. Ein rumänischer Student reist auf der Suche nach seiner vermissten Freundin von Bukarest in die Bretagne und gerät dabei an Landsleute, die die neuen Freiheiten missbrauchen, um mit Diebstahl, Betrug, Prostitution oder Drogenhandel ihr Geld zu machen.
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Kritik

Witziger noch als die burleske, mitunter surreale Odyssee des Protagonisten finde ich, wie Dumitru Tsepeneag zwischen verschiedenen Erzählebenen hin- und herspringt und dabei den namenlosen Autor des Romans und dessen Ehefrau Marianne als Figuren einbezieht.
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Mitte Dezember 1989 kommt es in Temesvar und anderen rumänischen Städten zu blutigen Zusammenstößen zwischen der Polizei und Demonstranten. Am 22. Dezember versammeln sich Hunderttausende vor dem Präsidentenpalast in Bukarest. Sicherheitskräfte stellen sich ihnen in den Weg und schießen in die Menschenmenge. Nicolae und Elena Ceausescu zeigen sich auf dem Balkon, aber die Sprechchöre lassen den Diktator nicht zu Wort kommen. Drei Tage später werden Nicolae und Elena Ceausescu in Tîrgoviste hingerichtet.

Rumänische Studenten diskutieren darüber, ob es sich bei dem Umsturz um eine Revolution handelte, oder ob die Aufständischen von Seilschaften des alten Regimes missbraucht wurden, die Ceausescus Sturz angestrebt hatten, um selbst die Macht an sich reißen zu können. Die rumänische Ärztin Smaranda, die Ministerialdirektorin war und jetzt Asyl in Frankreich beantragt hat, äußert sich im Gespräch mit ihrer französischen Freundin Marianne skeptisch:

– Glauben Sie, dass es eine Revolution war? konterte Smaranda schließlich.
– Was war es denn sonst?
– Ein Komplott, das die Securitate auf Anordnung Gorbatschows vorbereitet hatte. Und zwar um den Kommunismus zu retten, der unter Ceausescu den Bach runterging.
– Also war Ceausescu ein Opfer?
– Selbstverständlich. Er war das Opfer einer Verschwörung. (Seite 88)

Bei Mariannes Ehemann handelt es sich um einen vor Jahren von Rumänien nach Paris emigrierten Schriftsteller, der einen Roman über Europa nach dem Zusammenbruch des Ostblocks schreiben will. Mit einem LKW-Konvoi der Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ fährt er nach Bukarest und trifft dort einige Tage nach Ceausescus Hinrichtung ein. In Bukarest fragen sie einen Studenten nach dem Weg ins Zentrum. Dr. Gachet, der neben dem Autor und dem Fahrer Roger im Führerhaus sitzt, steigt in einen der nachfolgenden Wagen um, damit der junge Rumäne sie lotsen kann. Mihai spricht Englisch, denn es ist sein Studienfach. Während der Fahrt erzählt er von seinem Freund Ion Valea, einem von Paris träumenden Französisch-Studenten.

Der Exilschriftsteller folgt Mihais Einladung, ihn einmal zu besuchen und trifft in dessen Wohnung mehrere junge Leute an – darunter auch Ion, dessen Freundin Maria und Mihaus Geliebte Ana Pânzaru, eine Krankenschwester, die ihn zu verführen versucht. Er entzieht sich ihr zwar und bricht auf, aber einige Zeit später kann er der Verlockung nicht widerstehen und geht zu ihrer Wohnung. Maria hat bei Ana übernachtet. Die beiden nehmen ihren Besucher aus Paris mit ins Bett.

Im Roman sollte ich mich nun in beide verlieben: in Maria und in Ana. Marianne findet dies geradezu empörend.
– Wieso in beide!? Das ist geschmacklos. Und in deinem Alter unglaubwürdig … Sind nicht einmal Zwillingsschwestern. (Seite 80)

Obwohl Marianne nichts von den Romanen ihres Mannes hält, bespricht er sich mit ihr und erläutert ihr auch, dass er nicht den Schöpfer nachäfft und so tut, als sei er allwissend. Er wolle sich auch nicht unsichtbar machen. Sein Vorbild sind Romanciers aus dem 18. Jahrhundert, die mit ihren Lesern sprechen und in ihren Büchern zu finden sind, „und sei es in scheinbar naiver Gestalt“ (Seite 30).

Um ungestört arbeiten zu können, will er sich allein – ohne seine Frau und den siamesischen Kater – in ein Sommerhaus in der Bretagne zurückziehen, das ihm ein Freund zur Verfügung stellt. Einen Koffer hat er längst gepackt und versteckt, aber einige Male verschiebt er die Abreise, weil er sich zu lange mit der Morgentoilette aufgehalten hat. Dann schafft er es endlich, aus dem Haus zu kommen, während Marianne noch schläft. Er nimmt die Metro zum Bahnhof. Von dort ruft er seine Frau an, damit sie sich keine Sorgen macht. Sie fordert ihn auf, zurückzukommen: seine Analyseergebnisse seien gerade vom Labor eingetroffen und er müsse wegen seiner beinahe verdoppelten Cholesterinwerte vor seiner Abreise noch zum Arzt. Nachdem er Dr. Gachet konsultiert hat, fährt der Schriftsteller endlich in die Bretagne und richtet sich in dem Sommerhaus ein. Allerdings hat er den Plan für den Roman in Paris liegenlassen und von den drei Mappen Material nur die gelbe mitgenommen. Er muss gleich mit Marianne telefonieren, damit sie ihm die rote mit der Aufschrift „Rumänien“ und die blaue mit dem Titel „Europa“ nachschickt. Immer wieder von Telefonanrufen belästigt, beginnt er zu schreiben. Nach drei Wochen hat er allerdings noch kaum etwas zu Papier gebracht.

Als Hauptfigur wählt er den rumänischen Studenten Ion Valea. Maria, dessen Freundin, verschwindet in den Wirren des Bergarbeiteraufstands in Bukarest. Ion besorgt sich im Februar 1990 einen Pass und bricht einige Monate später auf, um Maria zu suchen. Zuerst fährt er nach Temesvar zu seinem früheren Kommilitonen Tiberius Ludosan, der allein in der Wohnung seiner Eltern lebt, weil seine Mutter seit dem Tod ihres Mannes die Sommermonate bei ihrer Tochter auf dem Land verbringt.

Ghiuri Farkas und dessen Vater bringen Ion von Temisvar nach Budapest. Dort wohnt Ion bei Dr. Farkas‘ Schwester Szusza. Sie stammt aus Siebenbürgen, heiratete in den Siebzigerjahren einen wesentlich älteren Professor, der sich wegen ihr hatte scheiden lassen, und zog mit ihm nach Budapest. Er starb allerdings wenige Jahre später an Lungenkrebs. Während sie Ion ins Bett zerrt, fragt sie ihn über Maria aus, will wissen, ob er sich vor ihrem Verschwinden mit ihr gestritten hat. Am anderen Morgen steigt Ion vorsichtig aus dem Bett, um Szusza nicht zu wecken. Teilweise wortwörtlich wiederholt sich eine Szene, die der Autor selbst erlebte, als er vor seiner Abreise in die Bretagne aufstand, während Marianne weiterschlief.

Ich löse mein Knie von ihrem Oberschenkel, drehe mich mit einem leisen Stöhnen um […] Der linke Arm stützt sich auf den Nachttisch, der andere dient als Schwungfeder. Das eine Bein überwindet die Bettkante, woraufhin das andere unmittelbar nachfolgt. Da sitze ich nun, etwas schlaftrunken, auf dem Bett, die Hände auf den Knien. Atme tief ein und aus. Ich wende den Kopf, um die Frau zu betrachten, die ruhig weiterschläft. Sie schnarcht leise.
Ich stehe auf und gehe ins Bad. Ich kippe den Schalter und empfinde das Licht als Angriff […] (Seite 5ff)

Er löste sein Knie von ihrem Schenkel […] die Frau an seiner Seite schlief tief und fest, regte sich nicht […] Langsam und vorsichtig richtete er sich auf, stützte den rechen Arm auf das Holz des Nachttisches, der linke löste sich und diente als Schwungfeder, ein Bein überwand die Bettkante, woraufhin das andere unmittelbar nachfolgte. Da saß er nun, die Hände auf den Knien und ein wenig schlaftrunken. Er sah sich um, die Frau regte sich immer noch nicht, sie schien nicht einmal zu atmen.
Dann stand er auf und ging ins Bad. Kippte den Lichtschalter […] (Seite 188ff)

Am nächsten Morgen fragt Ion im Hotel Europa nach Tomita, der ihm einen Job besorgen wollte. Tomita ist nicht zum Dienst erschienen, aber der Liftboy Ferenc sagt Ion, ein Herr Gagarin erwarte ihn. Dessen Zimmer ist leer. Eine andere Tür öffnet sich, und „ein dicker, dunkelhäutiger und verschwitzter Mann in Unterhemd und Pyjamahose […] mit einem handtellergroßen Rotweinfleck auf dem Unterhemd“ teilt Ion mit, Gagarin sei zusammengeschlagen und abgeholt worden.

Ghiuri erzählt Ion von der Geologie- oder Geographiestudentin Silvia, einer Freundin Anas. Sie wurde beim Bergarbeiteraufstand in Bukarest so brutal zu Bogen geschlagen, dass die Sanitäter, die sie einige Stunden später auflasen, ins Leichenschauhaus brachten. Dort schob ein Angestellter namens Ionel die Toten in die Kühlkammern. Der nackte Körper Silvias erregte ihn. Er verging sich an der vermeintlichen Leiche – bis er den Eindruck hatte, die junge Frau komme wieder zu sich und mit heruntergelassener Hose davonrannte. Silvia fiel erneut ins Koma, bis Ionels Kollege Vasile sie an der Scham streichelte und dabei merkte, dass sie noch lebte. Ein eilig herbeigerufener Arzt sorgte mit einer Injektion dafür, dass sie zu sich kam. Danach reiste sie mit Dr. Iroseanu nach Cluj und lernte dort den aus Beirut stammenden Studenten Georges kennen, von dem Ghirui die Geschichte gehört hat, bei der es sich vielleicht nur um eine Erfindung Iroseanus handelt.

Weil Ion sich einbildet, bei Silvia handele es sich um Maria, trifft er sich mit Georges in einer Hotelhalle. Der Libanese hat zwei Prostituierte bei sich – Bojena aus Sarajevo und Hanka aus Krakau –; später kommt noch Natascha aus Kiew dazu. Offenbar führt er einen Prostituiertenring. Silvia sei bei Karim in Wien, heißt es. Also fährt Ion nach Wien und sucht Karim auf. In der Wohnungstür nebenan taucht der Dicke auf, der ihn bereits im Hotel Europa in Budapest angesprochen hatte. Karim erhielt offenbar bereits Anweisungen von Georges und lädt seinen Besucher ein, bei ihm zu wohnen, aber weder Silvia noch Maria trifft Ion bei ihm, sondern die frühere Kunststudentin Sonia. Mehrere Wochen bleibt Ion in Karims Wohnung und schläft fast jede Nacht mit Sonia.

Laute Nächte, mit Gekeuche und Schreien. (Seite 240)

Dann kommt die blonde, muslimische Kroatin Nemira zu Karim, und Georges beauftragt ihn telefonisch, Nemira und Sonia nach Budapest zu schicken. Am Abend nach der Abreise der beiden Mädchen schlägt Karim vor, in ein Spielkasino zu gehen. Ion hält sich zunächst ängstlich zurück, aber am Roulettetisch sitzt ein schnauzbärtiger Mann, der ihm auf Kartonkarten Zahlen zeigt, auf die er setzen soll. Er gewinnt eine halbe Million Schilling. Die Spielbank will ihm einen Scheck geben, aber Ion besteht auf Bargeld, weil er kein Konto hat. Als Ion und Karim nach Hause kommen und der dicke Nachbar seine Tür öffnet, zieht Karim ein Springmesser aus der Tasche und droht ihm damit.

Erschrocken über das Messer, flieht Ion noch am selben Abend mit zwei Tüten Geld aus Karims Wohnung und nimmt sich ein Taxi zum Bahnhof. Bei dem Fahrer handelt es sich ausgerechnet um den Fremden, der ihm beim Roulette die Zahlen gezeigt hatte. Haiducu – so heißt er – zwingt Ion in der Bahnhofstoilette, ihm die vollere der beiden Tüten zu überlassen.

Auf der Fahrt nach München sitzt Ion mit einem Jäger aus Tirol und zwei Weichsellikör trinkenden Mädchen in schneeweißen Pullovern im Abteil. Als der Schaffner kommt, stellt sich heraus, dass die Mädchen keine Fahrkarten haben, aber sie überwältigen ihn und flößen ihm gegen seinen Willen den Rest Likör aus der Flasche ein.

Ion schloss die Augen, er wollte das Weitere nicht mehr mit ansehen müssen. (Seite 263)

In München sucht Ion nach Herrn Fuhrmann, einem früheren Arbeitskollegen seines Vaters Dinu. Haiducu ruft ihn bei Fuhrmann an und verlangt ein Treffen auf der Trabrennbahn Daglfing. Dort stößt Ion auf einen anderen Bekannten, Fane Ghisoiu, der ihm mitteilt, dass Haiducu erst später kommen werde. Statt Fanes Renntipps zu befolgen, setzt Ion in einem anderen Rennen – und gewinnt. Als Haiducu erscheint und das gerade gewonnene Geld von ihm verlangt, stellt Ion klar, dass es ihm gehört, weil er es nicht Fanes Renntipps verdankt. Er springt in ein Taxi. Der Fahrer rast mit ihm in eine menschenleere Gegend und zwingt ihn mit einem Revolver zur Herausgabe des Geldes.

Als Ion kurz darauf in einer Kneipe einen Kaffee bestellt, kommt eine junge Deutsche – sie heißt Hilde – aufgeregt hereingerannt, steckt ihm ein Päckchen Kokain zu und läuft zur Toilette. Gleich darauf folgen Polizisten, nehmen sie fest und durchsuchen die Toilette, finden jedoch nichts. Einige Tage später wartet Hilde an einer Straßenecke auf Ion und verlangt ihr Päckchen zurück. Sie begleitet ihn zu Fuhrmanns Wohnung, geht dort mit ihm ins Bett und steckt danach ihre Drogen ein. Bei einem weiteren Treffen erzählt Ion ihr von seinem Kommilitonen Petrisor Horhoianu, der einen Gelähmten namens Gica, der gerade im Rollstuhl von Temesvar nach Paris unterwegs ist, bis Wien begleitete.

Der Schriftsteller bringt seine Europakarte auf den neuesten Stand: Ion und Fuhrmann halten sich in München auf. Ana und Mihai, die einige Zeit bei der rumänischen Botschaft in Paris angestellt waren, arbeiten inzwischen bei Radio Free Europe in München. Szusza ist nach einer monatelangen Reise wieder in Budapest. In Temesvar sprach sie mit Tiberius Ludosan und Ghiuri Farkas über Ion. Dinu Valea verlässt seine Wohnung in Bukarest kaum noch, seit Marioara ihn verließ. Dr. Gachet nimmt an einer Expedition nach Afghanistan teil. Der LKW-Fahrer Roger ist mal hier, mal dort. Sonia reist ständig zwischen Budapest, Prag und Wien hin und her, mal mit Karim, dann wieder mit Georges, der jedoch zur Zeit mit der Polin Hanska einen Besuch in Beirut macht. Bojena und Nemira haben sich davongemacht. Smaranda lebt in Paris und trifft sich häufiger mit Marianne. Während einer Moskaureise werden die beiden im August 1991 Zeugen des Staatsstreichs gegen den sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow, der durch den russischen Präsidenten Boris Jelzin zum Scheitern gebracht wird. Wo Maria abgeblieben ist, weiß auch der Autor nicht.

Ion fährt nach Heidelberg, wo die Eltern seines früheren Kommilitonen Sandu Economu leben, aber er trifft niemand an. (Später erfahren wir, dass Sandu sich inzwischen Alexandru Hurst nennt und in San Diego lebt, wo er eine amerikanische Millionärin namens Patricia geheiratet hat.)

Enttäuscht kehrt Ion nach München zurück und bricht von dort nach Straßburg auf. Weil er kaum noch Geld hat, übernachtet er im Bettler-Asyl „Europa Hotel“. Dort zwingt ihn ein Zigeuner mit einem Messer, sich auszuziehen und nimmt ihm das in einem Gürtel versteckte Geld ab. Jetzt hat Ion nur noch ein paar in seinen Schuhen versteckte Scheine.

Mit Gica macht er sich auf den Weg nach Paris und schiebt den Rollstuhl des Gelähmten über die Landstraßen. Auf einem abschüssigen Stück, wo Ion etwas zurückbleibt, hält plötzlich ein Auto mit quietschenden Reifen neben Gica. Drei Männer reißen den Brüllenden aus seinem Rollstuhl, zerren ihn auf den Rücksitz ihres Wagens und rasen davon, bevor Ion reagieren kann. In einem der Männer glaubt er Petrisor erkannt zu haben.

Von Metz fährt er mit dem Zug nach Paris und sucht dort nach dem rumänischen Schriftsteller, der ihm jetzt wohl noch als Einziger helfen kann, Maria zu finden.

Georges und Sonia – oder ist es Silvia? – sitzen in einem Pariser Straßencafé. Dr. Gachet kommt zufällig dazu und erzählt ihnen von Afghanistan, aber auch von Maria. Sie war in Bosnien in eine Straßensperre geraten, wurde vergewaltigt und gebar noch während ihrer Gefangenschaft ein Kind.

Schließlich besuchen Georges, Silvia und Dr. Gachet, Ion, Ana, Mihai und Petrisor, Smaranda und Marianne den Schriftsteller in der Bretagne. Der versucht verzweifelt, die letzten Seiten seines Romans zu schreiben, und weist Ana zurück, die ihn verführen möchte: „Und wer schreibt dann?“

Ich halte einen Augenblick lang inne, versichere mich, dass Ana immer noch am Fenster steht, der Kater an ihrer Seite, und bewege dann meine rechte Hand, so schnell ich kann, über das Papier, dabei schüttele ich den Kopf, nein, hier bin ich mir überhaupt nicht sicher, ob das gut ist, irgendwie anders muss ich es machen, also streiche ich aus, schreibe ein Wort an die Stelle eines anderen, darüber, bin immer noch nicht zufrieden, streiche auch das durch, ich schreibe viel zu langsam, sehr viel langsamer, als Ions Rederhythmus dies vorgibt. Die Wörter überschlagen sich in seinem Mund, nicht aber unter meinem Stift … Noch eine Streichung. (Seite 447)

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Der Roman „Hotel Europa“ spielt in der Zeit der Umwälzungen nach dem Zusammenbruch des Ostblocks 1989/90. Der rumänische Französischstudent Ion Valea reist auf der Suche nach seiner vermissten Freundin Maria von Bukarest über Temesvar, Budapest, Wien, München, Heidelberg, Straßburg nach Paris und in die Bretagne. Dabei gerät er an Landsleute, die die neuen Freiheiten missbrauchen, um mit Diebstahl, Betrug, Prostitution oder Drogenhandel ihr Geld in Westeuropa zu machen.

Witziger noch als die burleske, mitunter surreale Odyssee des Protagonisten durch Europa finde ich, wie Dumitru Tsepeneag zwischen verschiedenen Erzählebenen hin- und herspringt und dabei den namenlosen Autor des Romans und dessen Ehefrau Marianne als Figuren einbezieht.

Die weibliche Figur kehrt vom Telefon zurück, und die andere Figur, gleichzeitig Erzähler, fragt mit dem Blick. Und da die Frau sich, ohne zu antworten, eine Tasse Kaffee einschenkt, warte ich noch einige Sekunden […] (Seite 35)

Dumitru Tsepeneag spielt mit den Beziehungen zwischen dem Romanautor und seinen Figuren.

Da sie [Marianne] aber weiß, dass ich das letzte Wort behalten werde, weil ich später doch alles zu Papier bringen will, biegt sie das Gespräch so hin, dass sie in der Offensive bleibt. Eine weibliche Taktik, die ich noch nie zu konterkarieren verstand. (Seite 81)

Im Prinzip ertrage ich alles, was du willst, sagt sie versöhnlich. Obwohl sie weiß, dass mich dieser scheinbar konziliante Ton, mit dem sie so gerne Diskussionen beendet, um das letzte Wort zu behalten, wahnsinnig macht.
Aber ich sage nichts mehr, überlasse sie der Gnade des Herrn. Im Roman, nicht wahr, im Roman schreibe ich, was ich schreiben will. Was ich nicht schreiben will, schreibe ich nicht … (Seite 85)

Ich glaube, ich habe so ziemlich den Faden verloren und dresche nun leeres Stroh, riskiere, den Leser zu langweilen. Also ziehe ich es vor, noch einmal in die Kneipe zu gehen, in der Mihai, Ana und Valentin mit gesundem Appetit Würstchen und eingelegte Paprikaschoten verschlingen, dazu Muskateller trinken und wie richtige Verschwörer tuscheln und lachen. […] Ich […] ziehe den anderen Brief aus der Tasche, den von Ion, und wedele damit einige Sekunden lang Marianne vor der Nase herum, damit sie vor Neugierde platzt.
[…] Marianne aber beherrscht sich, bleibt gelassen und zeigt keine besondere Neugierde […]
– Du langweilst mich, sagt Marianne, steht auf und verlässt die Küche.
[…] Ich habe den Bogen überspannt, nun ist die Sehne gerissen. Das ist jedoch kein Drama, nun werde ich eben auf den Dialog verzichten (den Dialog mit Marianne) und Ions Brief trocken und ohne billige Effekte zusammenfassen […] (Seite 97f)

Einmal fügt er in ein Gespräch zwischen Ion, Fuhrmann und Petrisor zum Spaß einen englischen Satz ein. Die Romanfiguren wundern sich.

Wer hat da gesprochen?
– Haben Sie es gehört? stammelte Ion. Er wirkte erschrocken, spottete nicht […]
Ich lege den Kugelschreiber hin und gönne mir ein kleines Lächeln. Und frage mich, wie Marianne wohl reagieren wird, denn sie kann ich, was auch immer ich tun mag, nicht täuschen: Sie erkennt meine Stimme. (Seite 308f)

Hin und wieder überlegt der Schriftsteller, ob er auf Kosten des Protagonisten zu viel über sich selbst schreibt.

Ion könnte mir vorwerfen, dass ich in diesem Roman, in dem er immerhin die Hauptperson ist, mehr über mich spreche als über ihn. Gewiss, es wäre mir ein leichtes, ihm zu antworten, dass nicht er entscheide, wer die Hauptperson ist … Doch wäre diese Antwort, das gebe ich zu, eines Autors nicht würdig, der seinen Lesern nicht wie ein Gott und seinen Figuren nicht wie ein Vater gegenübertreten möchte. Zumal Ion (oder jemand anderes) mich sehr wohl in gespielter Unschuld fragen könnte:
– Gut, aber wer entscheidet es dann? Und wann?
Und schon hätte er mich überführt. Also müsste ich mich anders wehren. Vielleicht sollte ich ihm etwas über die Funktion des Erzählers sagen, über jenen rätselhaften Vermittler zwischen mir und ihm, zwischen ihm und dem Leser. Über jene Stimme, die den Klangraum des Romans ausfüllt (immerhin ist dies ihre Pflicht) und ohne die man nicht glaubt, dass überhaupt etwas existiert. Nein, sie ist nicht die Stimme des Autors. Der Autor ist wie der Heilige Geist: voller Ideen, aber unsichtbar, unhörbar. er zieht alle Fäden, das stimmt, aber wem gehören sie? Will sagen, dass er Figuren braucht, und seien es noch so armselige Marionetten. Umgekehrt brauchen all diese Kreaturen, die keine menschlichen Wesen sind – deshalb nennt man sie ja auch Figuren! –, eine Stimme, um existieren, um sich ausdrücken zu können  […]
Vielleicht sollte man gar nicht von einem Erzähler sprechen … Sind es nicht sogar mehrere? Sind nicht auch die Leser so etwas wie Erzähler? Denn schließlich lesen wir doch nicht alle den gleichen Text, auch wenn er sich in demselben Buch befindet … Nun ja … Ich will nicht insistieren […] (Seite 175f)

Auf jeden Fall werde ich fast alle Szenen streichen (weshalb nicht alle?), in denen von mir die Rede ist. Es ist lächerlich, immer wieder mit dem Finger auf mich selbst zu zeigen: Seht her, ich bin der Autor, der Text hat sich nicht von allein geschrieben, ich bin derjenige, der hinter den Kulissen die Fäden zieht […]
Nun ist es […] an der Zeit, mich aus all den Szenen wieder herauszuziehen, in denen ich mich, in Wahrheit, auf der Suche nach Figuren befunden habe […]
Gut, sagen wir, ich bringe es über mich, und es gelingt mir sogar, mich aus dem Text zu entfernen. Aber was fange ich dann mit Marianne an? Wenn ich verschwinde, verflüchtigt auch sie sich (und mit ihr der Kater!) […]
Und wie soll ich das tun? Mich etwa scheiden lassen? (Seite 105f)

Dumitru Tsepeneag wurde 1937 in Rumänien geboren. 1971 emigrierte er nach Paris, und vier Jahre später wurde ihm die rumänische Staatsbürgerschaft entzogen.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004
Textauszüge: © Alexander Fest Verlag

Drogenmissbrauch, Drogensucht

Petra Roek - Fragt nicht warum. Hildegard Knef
"Fragt nicht warum. Hildegard Knef" ist mehr eine Chronik als eine Biografie, denn Petra Roek erwähnt zwar eine Fülle von Ereignissen, beschäftigt sich jedoch kaum mit den Charakteren der Hauptpersonen. Positiv hervorzuheben sind die z. T. erstmals veröffentlichten Fotos.
Fragt nicht warum. Hildegard Knef

 

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon einen Monat, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte. Aus familiären Gründen reduziere ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik.