Arthur Schnitzler : Fräulein Else

Fräulein Else
Fräulein Else Erstveröffentlichung: "Die Neue Rundschau", Oktober 1924 Erstausgabe: Paul Zsolnay Verlag, Berlin, Wien, Leipzig 1924 © S. Fischer Verlag, Frankfurt/M 1961 Leutnant Gustl / Fräulein Else Hamburger Lesehefte Verlag, Husum 2016 ISBN 978-3-87291-210-7, 96 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Arthur Schnitzler gibt die Gedanken wieder, die einer aufgewühlten Neunzehnjährigen durch den Kopf gehen, die sich vor einem angeblichen Familienfreund ausziehen soll, um 30 000 Gulden für ihren überschuldeten Vater zu beschaffen. Einerseits fürchtet sie um ihre Selbstachtung, andererseits hält sie es für ihre Pflicht, das Opfer für die Familie zu bringen.
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Kritik

Arthur Schnitzler versteht es, sich in die Lage der unglücklichen Protagonistin zu versetzen und ihren Zwiespalt in einem ergreifenden inneren Monolog darzustellen. "Fräulein Else" ist nicht nur ein literarisches, sondern auch ein psychologisches Meisterwerk.
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Fräulein Else verbringt die Ferienzeit mit einer Tante und ihrem Cousin Paul, einem Frauenarzt, in dem italienischen Kurort San Martino di Castrozza. Paul und seine Tante sind viel mit Cissy Mohr zusammen, einer verheirateten Frau, die mit ihrer Tochter Fritzi und einem Kindermädchen im selben Hotel wohnt. Else hat Paul und Frau Cissy im Verdacht, ein Verhältnis zu haben. Die Neunzehnjährige, die heimlich für einen allerdings nicht anwesenden jungen Mann namens Fred schwärmt, ist kokett und lebensfroh, sportlich und unternehmungslustig.

Versuchen sollte man alles, – auch Haschisch. Der Marinefähnrich Brandel hat sich aus China, glaub‘ ich, Haschisch mitgebracht. Trinkt man oder raucht man Haschisch? Man soll prachtvolle Visionen haben.

Eigentlich ist Paul schüchtern. Ein Arzt, ein Frauenarzt! Vielleicht gerade deshalb. Vorgestern im Wald, wie wir so weit voraus waren, hätt‘ er schon etwas unternehmender sein dürfen. Aber dann wäre es ihm übel ergangen.

In einer Depesche von ihrer Mutter heißt es, dass der Vater, ein Wiener Rechtsanwalt, ins Gefängnis muss, wenn er dem Gläubiger Dr. Fiala nicht innerhalb von zwei Tagen 30 000 Gulden zurückzahlt. Auch der mit ihm befreundete Staatsanwalt kann ihn davor nicht mehr bewahren, denn um seine Spielschulden und Fehlspekulationen auszugleichen, hat er ihm anvertraute Mündelgelder unterschlagen. Zu oft schon haben Freunde und Verwandte Fräulein Elses Vater ausgeholfen. Der einzige, an den man sich jetzt noch wenden könnte, Onkel Viktor, befindet sich auf einer Reise zum Nordkap oder nach Schottland. An Kollegen kann der Anwalt sich nicht wenden, denn wie stünde er dann da!? Deshalb wird Fräulein Else von ihrer Mutter gedrängt, den mit der Familie befreundeten Kunsthändler von Dorsday, der auch gerade in San Martino di Castrozza Ferien macht, um 30 000 Gulden zu bitten.

Ausgerechnet Herr von Dorsday, dieser widerlicher Kerl, der ihr bei jeder Gelegenheit in den Ausschnitt gafft! Soll sie nicht lieber Paul um das Geld bitten?

Paul, wenn du mir die dreißigtausend verschafft, kannst du von mir haben, was du willst. Das ist ja schon wieder aus einem Roman. Die edle Tochter verkauft sich für den geliebten Vater, und hat am End‘ noch ein Vergnügen davon. Pfui Teufel!

Vor dem Diner trifft sie in der Hotelhalle auf Herrn von Dorsday. Wie bei jeder Begegnung, versucht er, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Fräulein Else überwindet sich und erzählt ihm von der Situation, in der ihr Vater sich befindet. Er drückt sein Knie gegen das ihre, und sie wagt nicht, ihr Bein wegzuziehen, obwohl sie sich erniedrigt fühlt. Der ältliche Lebemann zeigt sich bereit, das Geld zur Verfügung zu stellen – unter einer Bedingung: Er möchte sie nackt sehen. Vor Empörung fühlt Fräulein Else sich wie gelähmt.

Nachdem Herr von Dorsday sich verabschiedet hat – sie soll ihm beim Diner Bescheid geben –, läuft Fräulein Else in der Nähe des Hotels herum und versucht ihre Gedanken zu ordnen. Sie weiß, dass die 30 000 Gulden ihren Vater nur vorübergehend vor dem Offenbarungseid und dem Gefängnis bewahren. In einiger Zeit wird er erneut Geld benötigen.

Vor wem werde ich mich das nächste Mal nackt ausziehen müssen? Oder bleiben wir der Einfachheit wegen bei Herrn Dorsday?

Wenn es schon sein muss, würde sie sich jedem Anderen nackt zeigen, denkt Fräulein Else, nur nicht Herrn von Dorsday.

Oder ich such‘ mir einen aus heute Abend beim Diner. Es ist ja alles egal. Aber ich kann doch nicht jedem sagen, dass ich dreißigtausend Gulden dafür haben will! Da wäre ich ja wie ein Frauenzimmer von der Kärtnerstraße. Nein, ich verkaufe mich nicht. Niemals. Nie werde ich mich verkaufen. Ich schenke mich her. Ja, wenn ich einmal den Rechten finde, schenke ich mich her. Aber ich verkaufe mich nicht. Ein Luder will ich sein, aber nicht eine Dirne.

Sie ist wütend auf ihren Vater, der genau weiß, dass Herr von Dorsday eine Gegenleistung für das Geld verlangt. Wenn es anders wäre, hätte er selbst anreisen und mit Herrn von Dorsday reden können.

Aber so war es bequemer und sicherer, nicht wahr, Papa? Wenn man eine so hübsche Tochter hat, wozu braucht man ins Zuchthaus zu spazieren? Und die Mama, dumm wie sie ist, setzt sich hin und schreibt den Brief.

Du sollst deine fünfzigtausend Gulden haben, Papa. Aber die nächsten, die ich mir verdiene, um die kaufe ich mir neue Nachthemden mit Spitzen besetzt, ganz durchsichtig, und köstliche Seidenstrümpfe. Man lebt nur einmal.

Soll sie Paul bitten, sich mit Herrn von Dorsday zu duellieren? Nein, sie verzichtet auf den Tod des Widerlings.

Wenn ich ihm nur irgendwie die Freude verderben könnte. Wenn noch einer dabei wäre? Warum nicht? Er hat ja nicht gesagt, dass er mit mir allein sein muss. […] Wenn es mir beliebte, dürfte ich das ganze Hotel dazu einladen.

Könnte sie sich nicht umbringen und eine testamentarische Verfügung hinterlassen, derzufolge Herr von Dorsday ihre nackte Leiche betrachten darf. Dass sie lebendig sein muss, wurde ja nicht abgemacht.

In ihrem Zimmer liest sie eine gerade angekommene zweite Depesche ihrer Mutter:

„Wiederhole flehentliche Bitte mit Dorsday reden. Summe nicht dreißig, sondern fünfzig. Sonst alles vergeblich. Adresse bleibt Fiala.“

Sie löst die sechs Päckchen Veronal, die sie dabei hat, in einem Glas Wasser auf. Wenn sie vom Speisesaal zurückkommt, will sie ein Viertel davon trinken, vielleicht auch weniger, um schlafen zu können.

Fräulein Else stellt sich vor, wie sie zu Herrn von Dorsday ins Zimmer geht. Wo soll sie denn ihre Kleider hinlegen? Das ist doch unappetitlich.

Nein, nein, ich ziehe mich schon hier aus und nehme den großen schwarzen Mantel um, der mich ganz einhüllt.

Ich werde auch nicht zu Herrn von Dorsday ins Zimmer gehen. Fällt mir gar nicht ein. Ich werde mich doch nicht um fünfzigtausend Gulden nackt hinstellen vor einen alten Lebemann, um einen Lumpen vor dem Kriminal zu retten. Nein, nein, entweder oder. Wie kommt denn der Herr von Dorsday dazu? Gerade der? Wenn einer mich sieht, dann sollen mich auch andere sehen. Ja! – Herrlicher Gedanke! – Alle sollen sie mich sehen. Die ganze Welt soll mich sehen.

Auf dem Weg hinunter zum Speisesaal begegnet sie einem Herrn, der sich in sein Zimmer zurückzieht. Ob sie den Mantel schon einmal ein wenig öffnen soll? Der Arme, er ahnt nicht, was ihm entgeht! Dann trifft sie auf ihre Tante, die fassungslos bemängelt, dass sie keine Strümpfe trägt. Nur jetzt nicht die Fassung verlieren! Fräulein Else erklärt, sie habe einen entsetzlichen Migräneanfall gehabt und sei deshalb so zerstreut. Unbehelligt gelangt sie ins Musikzimmer, wo Herr von Dorsday gerade einer Pianistin zuhört.

„Else!“ – Wer ruft Else? Das ist Paul. Er muss hinter mir sein. Ich spüre einen Luftzug über meinen nackten Rücken. Es saust in meinen Ohren. Vielleicht bin ich schon tot? […] Ich falle um. Alles ist vorbei. Warum ist denn keine Musik mehr?

Jemand hüllt sie in eine Decke. Auf einer Bahre wird sie zu ihrem Zimmer getragen. Offenbar ein hysterischer Anfall. Die Tante verkündet, dass sie mit dieser Person nicht im selben Abteil nach Wien zurückreisen werde. Fräulein Else stellt sich bewusstlos. Vom Bett aus merkt sie, dass Paul und Frau Cissy sich duzen und küssen. Ihre Vermutung, dass die beiden ein Verhältnis haben, ist also richtig. Während die beiden abgelenkt sind, greift sie nach dem Veronal, das neben ihrem Bett steht.

Paul! Paul! Ich will, dass Ihr mich hört. Ich habe Veronal getrunken, Paul, zehn Pulver, hundert. Ich hab‘ es nicht tun wollen. Ich war verrückt. Ich will nicht sterben.

Jetzt würde sie gern zeigen, dass sie nicht bewusstlos ist, aber sie vermag sich nicht mehr zu bewegen und kann weder die Augen noch den Mund öffnen.

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In der nuancenreichen Erzählung „Fräulein Else“ beschränkt Arthur Schnitzler sich – nach „Leutnant Gustl“ – zum zweiten Mal auf einen inneren Monolog. Er gibt die Gedanken wieder, die einer aufgewühlten Neunzehnjährigen durch den Kopf gehen, die sich vor einem angeblichen Familienfreund ausziehen soll, um 30 000 Gulden für ihren überschuldeten Vater zu beschaffen. Einerseits fürchtet sie um ihre Selbstachtung, andererseits hält sie es für ihre Pflicht, das Opfer für die Familie zu bringen. Arthur Schnitzler versteht es, sich in die Lage der Unglücklichen zu versetzen und an diesem Beispiel zugleich die Doppelmoral der Gesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts anzuprangern: „Fräulein Else“ ist nicht nur ein literarisches, sondern auch ein psychologisches Meisterwerk.

In einer leicht gekürzten Fassung gibt es „Fräulein Else“ auch als von Senta Berger gelesenes Hörbuch (Kein und Aber Verlag, Zürich 2002).

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004
Textauszüge: © S. Fischer Verlag

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon einen Monat, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte. Aus familiären Gründen reduziere ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik.