Der Untergang der "Essex"


Weil der neunundzwanzig Jahre alte Walfänger-Kapitän George Pollard die Menge des im Südatlantik eingebrachten Waltrans noch für zu gering hielt, umsegelte er mit seinem 1800 in Nantucket, Massachusetts, gebauten Dreimaster „Essex“ im Spätherbst 1820 Kap Hoorn und suchte im Pazifik nach weiteren Walen, obwohl die Saison eigentlich schon vorbei war. Tatsächlich spürten die Walfänger am 20. November Pottwale auf.

Von drei Ruderbooten aus griffen die Harpuniere die Tiere an – bis ein Bulle eines der Boote mit einem kräftigen Schlag seiner Fluke beschädigte.

Damit mussten Walfänger immer rechnen; das war nicht ungewöhnlich. Aber dann geschah etwas Seltsames: Das riesige Tier warf sich gegen die „Essex“. Dass ein Wal eine 28 Meter lange und 8 Meter breite Dreimastbark angriff, hatte es noch nie gegeben. Nach dem Zusammenstoß trieb der Bulle zwar einige Zeit benommen im Meer, aber bevor die Walfänger reagieren konnten, tauchte er ab, schoss wieder nach oben und beschädigte die „Essex“ so schwer, dass sie zu sinken begann.

Eilig suchten die einundzwanzig Männer etwas Wasser, Proviant und Ausrüstungsgegenstände zusammen, bevor sie sich in die drei Ruderboote retteten. Sie wussten, dass sie 4000 Seemeilen von der südamerikanischen Pazifikküste entfernt waren und kaum Überlebenschancen hatten. Drei von ihnen zogen es denn auch vor, auf der unbewohnten Pitcairn-Insel Henderson zu bleiben, die sie am 20. Dezember erreichten. Die anderen ruderten nach sechs Tagen Aufenthalt weiter.

Als die Ersten starben, stürzten andere sich auf sie und schnitten sich Fleisch aus ihren Körpern, um es zu verschlingen. Einige entsetzten sich zuerst vor dem Kannibalismus, machten dann aber auch mit, um zu überleben. Weil es vorübergehend keinen Toten mehr gab, losten die Insassen eines der Boote aus, wer erschossen wurde, um den anderen als Nahrung zu dienen.

Ein Boot wurde nach dem 28. Januar 1821 nicht mehr gesehen. Am 18. Februar 1821 – drei Monate nach der Schiffskatastrophe – entdeckte die Besatzung der „Indian“ vor der chilenischen Küste ein Boot mit drei erschöpften Schiffbrüchigen, darunter dem zweiundzwanzigjährigen Obermaat Owen Chase. Fünf Tage später konnten Kapitän George Pollard und ein Matrose aus dem dritten Boot an Bord des Walfängers „Eagle“ geholt werden.

Die drei auf Henderson Island zurückgebliebenen Männer wurden Anfang April von dem britischen Handelsschiff „Surrey“ gerettet.

Dreizehn Walfänger waren ums Leben gekommen.

Owen Chase versuchte, sich das grauenvolle Erlebnis von der Seele zu schreiben: „Narrative of the most extraordinary and distressing shipwreck of the whale-ship Essex, of Nantucket, which was attacked and finally destroyed by a large spermaceti-whale, in the Pazific ocean, with an account of the unparalleled sufferings of the captain and crew during a space of ninety-three days at sea, in open boats, in the years 1819 and 1820“. Das Buch wurde 1824 in New York veröffentlicht („Der Untergang der Essex“, Piper Verlag, München 2002).

Fünfundzwanzig Jahre später ließ Herman Melville sich von dem Buch zu seinem Roman „Moby Dick“ anregen (Verfilmung 1956).

© Dieter Wunderlich 2006

John Huston: Moby Dick
Alexandre Corréard und Jean-Baptiste Henri Savigny: Der Schiffbruch der Fregatte Medusa
Kannibalismus

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Einfallsreich inszeniert Joy Fielding in "Die Haushälterin" eine farbige und spannende Geschichte mit überraschenden Wendungen. Die markant dargestellten Figuren sind nicht ganz frei von klischeehaften Zügen, aber sehr lebendig, und ihr Verhalten lässt sich gut nachvollziehen. Das gilt vor allem für die nachdenkliche Ich-Erzählerin Jodi Bishop mit ihren Selbstzweifeln, die im Nachhinein zu verstehen versucht, wie das Verhängnis seinen Lauf nehmen konnte.
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