Operation Neptune's Spear


2003 bis 2005 ließ Osama bin Laden auf einem 3500 Quadratmeter großen Grundstück in Bilal Town, einem Stadtteil von Abbottabad im Norden Pakistans, eine Wohnanlage errichten. Im Januar 2006 zogen dort drei Familien ein, darunter Osama bin Laden mit seinen drei Frauen Khairiah Sabar, Siham Sabar, Amal Ahmed Abdulfattah und den Kindern. Das stark gesicherte Anwesen in der Nähe einer pakistanischen Militärakademie war von einer fünfeinhalb Meter hohen Betonmauer umgeben. Sogar der Balkon des dreistöckigen Hauptgebäudes wurde von einer gut zwei Meter hohen Mauer gegen Sicht geschützt. In der Anlage gab es weder einen Telefon- noch einen Internetanschluss, und die Bewohner verbrannten ihren Müll auf dem Grundstück, damit er nicht durchsucht werden konnte. Sie verfügten über einen Gemüsegarten, Hühner und eine Kuh.

Der im Irak festgenommene Terrorist Hassan Ghul soll 2007 den Decknamen Abu Ahmad al-Kuwaiti genannt und ihn als Kurier Osama bin Ladens bezeichnet haben. Es dauerte drei Jahre, bis CIA-Agenten im August 2010 den richtigen Namen und den Wohnort dieses Mannes ermitteln konnten. Ihm gehörte offiziell die ungewöhnliche Wohnanlage in Abbottabad.

Das merkwürdige Anwesen wurde auch auf Satellitenbildern unter die Lupe genommen. Mit dem Ziel, DNA-Material der Bewohner zu bekommen, ließ die CIA den pakistanischen Arzt Shakil Afridi im März 2011 eine kostenlose Impfkampagne in Abbottabad durchführen. Aber das Vorhaben scheint seinen Zweck nicht erfüllt zu haben.

Der Nationale Sicherheitsrat der USA besprach am 14. und 29. März, am 12., 19. und 28. April 2011 das weitere Vorgehen. Pakistanische Behörden wurden vermutlich nicht eingeweiht.

Präsident Barack Obama wollte die Bewohner der Anlage in Abbottabad zunächst durch einen Luftschlag töten lassen. Weil ihm jedoch das Risiko, dass sich Osama bin Laden gar nicht dort aufhielt, zu hoch war, ordnete er schließlich eine Erstürmung an, obwohl er dadurch das Leben amerikanischer Elitesoldaten gefährdete.

Auf der Bagram Air Base in Afghanistan wurde ein Modell der Wohnanlage errichtet und mit dem Training für die Operation „Neptune’s Spear“ begonnen.

Am 29. April wurde der Zeitpunkt festgelegt: die Nacht auf den 2. Mai.

Die Leitung der Operation „Neptune’s Spear“ oblag dem United States Joint Special Operations Command unter Vizeadmiral William H. McRaven in Bagram. Durchgeführt wurde sie von 79 Männern der United States Naval Special Warfare Development Group (DEVGRU), einer Spezialeinheit der US Navy zur Terrorismusbekämpfung, die Mitte der Neunzigerjahre als Nachfolgeorganisation des aufgelösten US Navy SEAL Team 6 gegründet worden war.

Vier Hubschrauber – zwei Boeing MH-47 Chinook und zwei Sikorsky MH-60 Black Hawk mit Tarnkappenausrüstung – transportierten die Elitesoldaten. Während die beiden MH-47-Maschinen unweit des Einsatzortes niedergingen und die Insassen die Reserve bildeten, sollten die beiden anderen mit je einem Dutzend Elitesoldaten besetzten Helikopter auf dem verdächtigen Anwesen landen – einer auf dem Flachdach des Hauptgebäudes, der andere auf dem Grundstück –, damit die Erstürmung von zwei Seiten erfolgen konnte.

Der Hubschrauber, der auf dem Dach landen wollte, geriet außer Kontrolle, prallte gegen eine Wand und wurde schwer beschädigt. Die Insassen blieben unverletzt. In zwei Gruppen stürmten die mit Nachtsichtgeräten ausgerüsteten Elitesoldaten die Gebäude.

Abu Ahmad al-Kuwaiti, der mit seiner Familie in einem Nebengebäude wohnte, eröffnete durch eine Türe das Feuer auf die Angreifer, die ihn daraufhin zusammen mit seiner Frau töteten. Im Treppenhaus des Haupthauses erschossen die Marines Abu Ahmads Bruder und Osama bin Ladens 21-jährigen Sohn Ibrahim. In einem Schlafzimmer auf der zweiten Etage stießen die Amerikaner auf Osama bin Laden, eine seiner Ehefrauen und seine zwölfjährige Tochter Safia. Über das, was nun in dem Schlafzimmer geschah, gibt es widersprüchliche Angaben. Sicher ist nur, dass Osama bin Laden erschossen und die Frau am Bein verletzt wurde.

Helmkameras der Einsatzkräfte sollten Aufnahmen der Operation „Neptune’s Spear“ ins Weiße Haus in Washington übertragen, wo Barack Obama (Präsident), Joe Biden (Vizepräsident), Hillary Clinton (Außenministerin), Robert Gates

(Verteidigungsminister), Admiral Michael G. Mullen (Vorsitzender der Joint Chiefs of Staff) und Brigadegeneral Marshall B. Webb (stellvertretender Kommandeur des United States Joint Special Operations Command) vor dem Bildschirm saßen. Allerdings gab es wegen einer technischen Störung in den ersten 23 Minuten nach der Landung der Hubschrauber keine Live-Bilder. Immerhin hörten die im Weißen Haus Versammelten den Funkspruch „Geronimo EKIA!“, der bedeutete, dass man Osama bin Laden gefasst oder getötet hatte (EKIA ist die Abkürzung für „Enemy Killed In Action“; „Geronimo“ lautete der Codename für Osama bin Laden).

Am 1. Mai 2011 um 23:35 Uhr Ortszeit in Washington, D. C., gab US-Präsident Barack Obama in einer Fernsehansprache bekannt, dass Osama bin Laden aufgespürt und getötet worden sei.

Bei der Operation „Neptune’s Spear“ gab es fünf Tote. Keiner der Elitesoldaten, die angeblich nicht mehr als ein Dutzend Schüsse abgegeben hatten, wurde auch nur verletzt.

Außer Osama bin Ladens Leiche nahmen die Amerikaner über hundert Datenträger (Festplatten, Disketten, DVDs, USB-Sticks) und eine große Menge Akten mit.

Den kaputten Hubschrauber sprengten die Amerikaner. Mit dem anderen hoben sie 38 Minuten nach der Landung ab.

Vom Eindringen der vier Hubschrauber in den pakistanischen Luftraum hatte man dort zunächst nichts mitbekommen. Als inzwischen alarmierte pakistanische Kampfflugzeuge in Abbottabad eintrafen, waren die Amerikaner bereits fort.

Osama bin Ladens Leiche war noch im Haus fotografiert worden. Die Amerikaner brachten sie nach Afghanistan. Ein Vergleich der DNA mit der einer in den USA verstorbenen Schwester Osama bin Ladens bewies seine Identität. Vom Flugzeugträger USS Carl Vinson aus wurde der Tote im Arabischen Meer versenkt.

Das pakistanische Außenministerium bestätigte am 4. Mai die Tötung von Osama bin Laden. Die Missachtung der Souveränität des Staates Pakistan durch die Amerikaner wurde nicht nur im betroffenen Land als Verstoß gegen das Völkerrecht heftig kritisiert. Als Vergeltungsmaßnahme veröffentlichten pakistanische Medien am 9. Mai den Namen des mutmaßlichen CIA-Chefs in Islamabad, Mark Carlton.

Umstritten blieb auch die Praxis der USA, Personen außergerichtlich unter Berufung auf den Krieg gegen den Terror zu töten.

Die Wohnanlage, in der die Amerikaner Osama bin Laden erschossen hatten, wurde im Februar 2012 abgerissen.

Shakil Afridi, der Arzt, der die Impfkampagne geleitet hatte, wurde in Pakistan festgenommen und am 23. Mai 2012 wegen Hochverrats zu 33 Jahren Haft verurteilt.

Literatur über die Operation „Neptune’s Spear“:

  • Peter L. Bergen: Die Jagd auf Osama bin Laden. Eine Enthüllungsgeschichte (Übersetzung: Helmut Dierlamm, Hans Freundl, Werner Roller, Heike Schlatterer, Deutsche Verlags-Anstalt 2012; Originalausgabe: Manhunt. The Ten-Year Search for Bin Laden from 9/11 to Abbottabad, Crown 2012)
  • Mark Bowden: Killing Osama. Der geheime Krieg des Barack Obama (Übersetzung: André Mumot, Berlin Verlag 2012; Originalausgabe: The Finish. The Killing of Osama bin Laden, Atlantic Monthly Press 2012)
  • Mark Owen: Mission erfüllt. Navy SEALs im Einsatz. Wie wir Osama bin Laden aufspürten und zur Strecke brachten (Übersetzung: Helmut Dierlamm u.a., Heyne Verlag 2012, Originalausgabe: No Easy Day. The only first-hand account of the Navy SEAL mission that killed Osama bin Laden, Dutton 2012)
  • Chuck Pfarrer: Codewort Geronimo. Der Augenzeugenbericht zum Einsatz der Navy-SEALs gegen Osama bin Laden (Übersetzung: Petra Pyka, Plassen Verlag 2012; Originalausgabe: Seal Target Geronimo. The Inside Story of the Mission to Kill Osama Bin Laden, St. Martins Press 2011)

Kathryn Bigelow drehte den Kinofilm „Zero Dark Thirty“ über die Operation „Neptune’s Spear“ und die vorangegangene jahrelange Suche nach Osama bin Laden.

© Dieter Wunderlich 2013

Kathryn Bigelow: Zero Dark Thirty

Sorj Chalandon - Am Tag davor
Das reale Grubenunglück 1974 in Liévien regte Sorj Chalandon zu dem Roman "Am Tag davor" an. Am Beispiel eines nordfranzösischen Kohlebergwerks prangert er Unternehmen an, die aus Kostengründen unzureichend für die Sicherheit ihrer Belegschaft sorgen und entwickelt vor dem düsteren Hintergrund eine tragische Familiengeschichte, die sich um Schuld, Verdrängung und Erinnerung dreht.
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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon einen Monat, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte. Aus familiären Gründen reduziere ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik.