Francesca Melandri : Kalte Füße

Kalte Füße
Piedi freddi Bompiani, Mailand 2024 Kalte Füße Übersetzung Esther Hansen Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2024 ISBN 978-3-8031-3367-0, 240 Seiten ISBN 978-3-8031-4399-0 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Angesichts des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine versucht Francesca Melandri, mehr über die Rolle ihres Vaters als italienischer Leutnant im Zweiten Weltkrieg herauszufinden und ihn zu verstehen. In Francesca Melandris Familie war es kaum anders als in der italienischen Gesellschaft generell: Statt den Faschismus ernsthaft aufzuarbeiten, gab es verklärende Mythen und verharmlosende Anekdoten.
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Kritik

"Kalte Füße" ist kein Roman im herkömmlichen Sinn mit einer fortschreitenden Handlung. Francesca Melandri hat dafür die Form eines Briefes an ihren toten Vater gewählt. Das ist mehr essayistisch als handlungsintensiv, weniger literarisch als politisch-nachdenklich. Sie weist darauf hin, dass der Krieg Italiens gegen die UdSSR kein Krieg gegen Russland, sondern ein Kolonialkrieg gegen die Ukraine war.
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Alpini-Leutnant Franco Melandri

Franco Melandri, der Vater der Autorin Francesca Melandri, war 1941 als 22-jähriger italienischer Soldat in Griechenland, als Mussolini der UdSSR den (Brot-)Krieg erklärte und die ersten militärischen Einheiten losschickte.

Öl aus Baku! Weizen aus der Ukraine!

Die Reichtümer der Ukraine werden an die Achsenmächte gehen im Namen der Gerechtigkeit, für die sie kämpfen.

Am 28. August 1942 kam auch Franco Melandri als Leutnant der Alpini-Division Julia mit einem Truppentransport nach Isjum, und von dort ging es weiter zum Don.

Es war einmal mein Vater am groooßen Bogen des Don. Er war dreiundzwanzig Jahre alt und hatte ein Dutzend Männer der italienischen Gebirgsjäger unter seinem Kommando. Er hatte kalte Füße und sorgte sich um die kalten Füße seiner Alpini.

Im Dezember 1942 begann die sowjetische Gegenoffensive. Die Division Julia wurde bei starkem Frost zwei Wochen lang von den eigenen Linien abgeschnitten. Der inzwischen 24 Jahre alte Franco Melandri schaffte es mit ein paar Kameraden, vom Don nach Italien zurückzukehren. Später schrieb er darüber einen Roman mit dem Titel „Rückkehr mit dem Verrückten“. Francesca Melandri zitiert daraus:

Einer von uns ist verrückt geworden, mein Unteroffizier, er hieß Chiarin.. […] Wir sitzen gerade in einem Keller in Carcovo, als er die Nachricht seiner Frau empfängt, dass er ein Kind bekommen hat. Unter uns sind viele alte Leute, auch ein paar Frauen und ein Kind. Dann werden wir beschossen, es ist nicht ganz klar, ob von den Deutschen oder den Russen, und das Kind stirbt. Da verliert der arme Kerl den Verstand.

Nach monatelangem Aufenthalt in einem Sanatorium wurde Leutnant Melandri nach Jugoslawien abkommandiert. Kurz nach seiner Ankunft, im September 1943, unterschrieb Generalstabschef Marschall Badoglio einen Waffenstillstandsvertrag mit den USA und Großbritannien. Als slowenischer Bauer verkleidet, gelang es Franco Melandri, auch vom Balkan zurückzukehren. Wieder in Italien erfuhr er von einem anderen Rückkehrer, dass die junge Frau, der er die Verkleidung verdankte, an einem Laternenmast aufgeknüpft worden war.

Der aktuelle Krieg und die Rolle des Vaters im Zweiten Weltkrieg

Als mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine 2022 wieder ein Krieg in Europa beginnt, assoziiert Francesca Melandri das mit der Rolle ihres inzwischen verstorbenen Vaters im Zweiten Weltkrieg, forscht nach und setzt sich damit auseinander.

Ich, wir kennen nur den Frieden. Seit unserer Geburt geschieht alles, was wir tun, in Friedenszeiten […]

Wer in der Pax Europaea groß geworden ist, für den nimmt die nationale Fußballliga den Platz ein, den über Jahrhunderte der Krieg hatte […].

Anders als meine Generation wart ihr nicht in der glücklichen Lage, zu glauben, man könne die Wirklichkeit des Krieges einfach leugnen.

Dein Krieg bekam in Italien später den Titel Ritirata di Russia, „Rückzug aus Russland“, und er ist eine Opfergeschichte. Die armen italienischen Soldaten in ihren Schuhen mit Pappsohlen sinken mit erfrorenen Füßen in den Schnee und sterben den Kältetod. Das ist alles wahr, niemand weiß das besser als du. Trotzdem verbergen sich hinter diesen drei Worten mindestens zwei Auslassungen. Erstens, dass die Geschichte sich größtenteils nicht in Russland, sondern in der Ukraine zugetragen hat. Und zweitens, dass der Rückzug von einem Ort bedeutet, dass man vorher dort angekommen ist. Die drei ikonischen Worte „Rückzug aus Russland“ verschweigen nicht nur die Ankunft, sondern auch insbesondere den Grund dafür. Und der Grund war, dass ihr, dass wir auf der falschen Seite standen. Auf der unabweislich falschen Seite. Wir waren die Verbündeten derjenigen, die ein Jahr bevor du zum ersten Mal die Sonnenblumenfelder von Isjum erblickt hast, ein paar hundert Kilometer weiter in der Schlucht von Babyn Jar innerhalb von nur zwei Tagen dreißigtausend Menschen ermordet hatten, mit Maschinengewehrsalven oder einem Schuss ins Genick. Aus einem einzigen Grund: weil sie Juden waren.

Italien, 1945

Endgültig zurück in Italien, arbeitete Franco Melandri als Journalist in Turin. Dabei bemerkte er am 23. März 1945 durch Zufall, dass sein Kollege Massimo Rendina bei der Resistenza war – aber er verriet ihn nicht.

Kurz darauf wurde Massimo Rendina mit dem Decknamen „Max, der Journalist“ Kommandeur der Garibaldi-Brigaden.

Als Franco Melandri dann im Frühjahr 1945 unter seinem vollen Namen eine Lobrede auf den Faschismus veröffentlichte und deshalb nicht nur vom Journalistenverband der Provinz Turin ausgeschlossen wurde, sondern auch sein Leben riskierte, setzte sich Massimo Rendina für ihn ein.

Das neue antifaschistische Italien verbannte dich aus dem Verband, den der Ex-Journalist Mussolini zur Kontrolle seiner früheren Kollegen geschaffen hatte. Ohne regulären Eintrag im Register durftest du dir deinen Lebensunterhalt nicht mehr mit dem Schreiben verdienen, und etwas anderes konntest du nicht. Arbeitslos, mittellos und zu stolz, um in die Romagna zurückzukehren und deinen Vater, den Stationsvorsteher, um Hilfe zu bitten, hast du dich auf den Turiner Straßenmarkt Balòn gestellt, um Autoreifen zu verkaufen. Und genau dort entdeckte dich Mama […]

Fazit

Mir persönlich wäre es lieber, Papa, wenn die Menschen, anstatt sich für den Faschismus von gestern schuldig zu fühlen, die Verantwortung für die Demokratie von morgen übernehmen würden.

Das Gegenteil von Krieg ist nicht Frieden um jeden Preis, sondern Rechtsstaatlichkeit. Es sind die Gesetze, die den Schulhoftyrannen daran hindern, den Schwächeren zu verprügeln, und die den Schwächeren vor Schikanen schützen.

Sieh mal einer an, Papa, da wollte ich ein Buch über den Krieg schreiben, und stattdessen ist es ein Buch über Demokratie geworden. Über Gerechtigkeit und Freiheit.

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Francesca Melandri (*1964), die Tochter einer Übersetzerin und eines Journalisten, begann im Alter von 19 Jahren, als Drehbuchautorin fürs Fernsehen zu arbeiten und wurde Schriftstellerin.

„Kalte Füße“ ist kein Roman im herkömmlichen Sinn mit einer fortschreitenden Handlung. Francesca Melandri hat dafür die Form eines Briefes an ihren toten Vater gewählt. Angesichts des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine versucht sie, mehr über die Rolle ihres Vaters als Alpini-Leutnant im Zweiten Weltkrieg herauszufinden und ihn zu verstehen. Das ist mehr essayistisch als handlungsintensiv, weniger literarisch als politisch-nachdenklich.

In Francesca Melandris Familie war es kaum anders als in der italienischen Gesellschaft generell: Statt den Faschismus ernsthaft aufzuarbeiten, gab es verklärende Mythen und verharmlosende Anekdoten. Kaum jemand dachte darüber nach, dass der Krieg Italiens gegen die UdSSR gar kein Krieg gegen Russland, sondern ein Kolonialkrieg gegen die Ukraine war. Das Königreich Italien wollte sich die Kornkammer der Ukraine sichern.

Und aktuell erleben wir wieder einen Kolonialkrieg gegen die Ukraine, diesmal von Russland ausgelöst, weil Putin die Uhr zurückdrehen und den Zerfall der UdSSR rückgängig machen will. In seiner Argumentation hat die Ukraine kein Existenzrecht, und eine ukrainische Kultur gibt es überhaupt nicht. Da sei nur die große russische Kultur, meint der Kriegsverbrecher.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2024
Textauszüge: © Verlag Klaus Wagenbach

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.