Francesca Melandri : Alle, außer mir

Alle, außer mir
Originalausgabe: Sangue giusto Rizzoli Libri, Mailand 2017 Alle, außer mir Übersetzung: Esther Hansen Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2018 ISBN: 978-3-8031-3296-3, 603 Seiten ISBN: 978-3-8031-4238-2 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die 45-jährige Lehrerin Ilaria glaubt, ihren Vater Attilio Profeti zu kennen. 2010 steht unvermittelt ein Afrikaner vor ihrer Türe, der behauptet, ihr Neffe zu sein. Ilaria weiß zwar, dass ihr Vater in den Dreißigerjahren in Äthiopien war, aber von einem afrikanischen Halbbruder haben weder sie noch ihre anderen Geschwister je gehört. Da stellen sich neue Fragen, und der Greis kann sie wegen seiner Demenz nicht mehr beantworten. Rasch findet Ilaria heraus, dass Attilio für einen faschistischen Anthropologen gearbeitet hatte ...
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Kritik

Vor dem Hintergrund eines verdrängten Kapitels der italie­nischen Zeitgeschichte entwickelt Francesca Melandri in "Alle, außer mir" eine Familien- bzw. Genera­tionen­geschichte. Sie nimmt Imperialismus, Rassismus und Faschismus ebenso aufs Korn wie Heuchelei und Korruption, Ignoranz und Verdrängung.
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2012: Der Tod des Patriarchen

Attilio Profeti wurde am 28. Juni 1915 in Lugo di Romagna geboren. Im Alter von 97 Jahren stirbt er in Rom.

Aus seiner ersten Ehe mit Marella stammen drei Kinder: Federico, Emilio und Ilaria. Als Ilaria 16 Jahre alt war, erfuhren sie und ihre Brüder, dass sie noch einen sechsjährigen Halbbruder hatten: Attilio Profeti junior. Der Vater hatte ihn mit seiner ein Vierteljahrhundert jüngeren Sekretärin Anita gezeugt, die dann nach der Scheidung der Ehe mit Marella im Jahr 1985 seine Frau wurde.

Ende der Achtzigerjahre kaufte Attilio Profeti seinen vier Kindern je eine Wohnung auf dem Esquilin, dem höchsten der heiligen Hügel Roms. Federico und Emilio machten die Immobilien zu Geld, aber Ilaria und ihr Halbbruder Attilio wohnen noch dort.

2010: Hatte Attilio Profeti einen Sohn in Äthiopien?

2010, zwei Jahre vor dem Tod ihres Vaters, steht unvermittelt ein Afrikaner vor Ilarias Tür, zeigt ihr einen Ausweis auf den Namen Shimeta Ietmgeta Attilaprofeti und behauptet, Attilio Profetis Enkel zu sein: „Wenn Attilio Profeti dein Vater ist, dann bist du meine Tante.“ Die 45-jährige Lehrerin weiß zwar, dass ihr Vater in den Dreißigerjahren in Äthiopien war, aber von einem weiteren Halbbruder haben weder sie noch ihre anderen Geschwister je gehört. Sie glaubte, ihn gekannt zu haben, aber da stellen sich neue Fragen, und er kann sie wegen seiner Demenz nicht mehr beantworten.

Weil Attilio Profeti erzählt hatte, er sei beinahe von Faschisten erschossen worden, hielt ihn seine Famillie für einen Partisan. Das Auftauchen eines Äthiopiers, der ihr Neffe sein will, verunsichert Ilaria, und sie forscht in der Nationalbibliothek im Stadtteil Castro Pretorio nach. Rasch stößt sie auf eine von Attilio Profeti verfasste Schrift mit dem Titel „Unsere Rasse in Afrika“. Offenbar arbeitete er damals als Assistent für den faschistischen Anthropologen Lidio Cipriani. Er war kein Partisan, im Gegenteil, er gehörte selbst zu den Faschisten!

1935 – 1940: Attilio Profeti in Abessinien

Nach und nach findet Ilaria mehr über ihren Vater heraus. 1935 hatte er sein Studium der Geschichte und Philosophie abgebrochen und sich an der Invasion Abessiniens beteiligt.

„Wenn von hundert Abessiniern neunundneunzig tot sind“, schrieb Attilio seiner Mutter Viola, „marschiert der letzte noch weiter. Das kann man nicht einmal mehr Mut nennen, sondern nur noch tierischen Instinkt. In diesem sinnlosen Handeln steckt nichts Edles, nichts Heroisches. Es hat nichts gemein mit dem Opfer, das unsere Soldaten bringen, wenn sie mit dem Vaterland im Herzen und dem Namen des Duce auf den Lippen zur Attacke schreiten.“

[…] die Fotos von nackten Frauen, die mit angstverzerrtem Gesicht ihre Scham mit den Händen bedecken, wurden nicht nach Hause geschickt. Man bewahrte sie im Rucksack auf wie Trophäen, für die man Stolz und Beschämung zugleich empfand. In ihren Briefen beschrieben die Italiener die afrikanischen Frauen mit einer Mischung aus Ekel und Bewunderung. Sie schrieben auf Postkarten, die im Feldlager verteilt wurden, auf deren Vorderseite man Frauen mit gerunzelter Stirn sah, deren Gewänder für den Fotografen bis auf die Hüfte heruntergezogen waren, darunter die Bildunterschrift „Abessinisches Mädchen“, „Primitive Schönheit“ […]

Als Attilio Profeti damals in einem an den Völkerbund in Genf adressierten Brief Fotos entdeckte, die belegten, dass die Italiener im Abessinienkrieg Senfgas eingesetzt hatten, vertauschte er sie unbemerkt mit Abbildungen von Leprakranken.

Nachdem Attilio Profeti 1940 mit der Äthiopierin Abeba Ezezew einen Sohn gezeugt hatte, kehrte er nach Italien zurück.

1985: Attilio Profeti reist erneut nach Äthiopien

Später schrieb zwar der Sohn dem Vater Briefe, erhielt jedoch nie eine Antwort.

„Wie geht es Euch? Ich hoffe, Ihr seid wohlgemut und bei guter Gesundheit. Wie geht es Eurem Vater Signor Ernani? Wie geht es Eurer Mutter Signora Viola? Wie Eurem Bruder Signor Otello? Ich heiße Ietmgeta Attilaprofeti Ezezew. Ich bin elf Jahre alt. Ich lebe bei meiner Mutter, Abeba Ezezew. Ich gehe bei den Schwestern der Trostreichen Mutter in Addis Abeba zur Schule. Mein Lieblingsfach ist Italienisch.“

In einem Brief vom Juli 1966 aus Addis Abeba heißt es:

„Ich habe den Studienabschluss in Wirtschaftswissenschaften. Mit 87 von 100 Punkten. Universität in Addis Abeba ist größte in ganz Afrika.“

Erst als Attilio Profeti erfuhr, dass sein Sohn seit 1977 eingesperrt war, weil er regimekritische Flugblätter verteilt hatte, reagierte er. Durch seine Freundschaft mit dem Politiker Edoardo Casati gelang es dem 70-Jährigen im Jahr 1985, mit einer italienischen Delegation nach Äthiopien zu fliegen, wo General Mengistu Haile Mariam elf Jahre zuvor Kaiser Haile Selassie gestürzt und als Anführer einer Militärjunta (Derg) eine sozialistische Diktatur errichtet hatte.

Dies war die doppelte Wahrheit des Derg. Auf den Straßen von Addis Abeba, an den offiziellen Orten seiner Herrschaft, bei Parteiversammlungen, präsentierte das Regime voll Stolz das nüchterne Grau des real existierenden Sozialismus. Doch hier, zwischen den in den harten Fels geschlagenen Wänden des Kellergeschosses, hütete es das, was an der Oberfläche abgelehnt wurde. In den dunklen Tiefen der Hauptstadt hielt Mengistu nicht nur das gemarterte Fleisch der politischen Gegner wie Ietmgeta Attilaprofeti gefangen. Dort hatte er auch allen Luxus, alle Schönheit und Exzentrik weggeschlossen.

Nachdem Attilio Profeti beim illegalen Pokerspiel mit Berhanu Bayeh, dem amtierenden Arbeitsminister und früheren Staatssekretär für Justiz in Äthiopien, sehr viel Geld gewonnen hatte, bot er ihm den ganzen Haufen Chips. Dafür veranlasste Berhanu Bayeh, dass Ietmgeta Attilaprofeti Ezezew freigelassen wurde.

1985 – 2010: Die nächste Generation

Zehn Jahre später diktierte Abeba einem Nachbarn einen Brief an Attilio Profeti, in dem sie ihm mitteilte, dass sich der gemeinsame Sohn nie von der Haft erholt habe und im Alter von 54 Jahren gestorben sei. Unmittelbar nach seiner Freilassung hatte Ietmgeta Attilaprofeti Ezezew mit seiner Ehefrau einen Sohn gezeugt: Shimeta Ietmgeta Attilaprofeti.

Der Äthiopier berichtet Ilaria, dass er seine Heimat 2008 verlassen musste, weil er eine dänische Journalistin auf Missstände in seinem Land hingewiesen hatte.

In Äthiopien werden Journalisten entweder sofort getötet oder ins Gefängnis geworfen, zusammen mit allen, die gegen die Korruption und die Deportationen aus den Stammessiedlungen protestieren. Aber im Westen heißt es, Äthiopien sei ein Bollwerk der Demokratie. Und warum heißt es so, wenn es nicht stimmt? Weil Äthiopien unverzichtbar ist im Kampf gegen die Terroristen. Welche Terroristen? Die somalischen Dschihadisten.

Mit Hilfe von Schleusern floh er über Libyen nach Lampedusa. Von dort gelangte er nach Rom und fand Ilaria.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Weil er in einem Aufnahmelager eine falsche Identität angab, wird er in Rom festgenommen und ins Centro di identificazione ed espulsione (CIE) in Ponte Galeria gebracht. Piergiorgio Valente, ein auf Einwanderungsrecht spezialisierter Anwalt, sieht keine Chance, den Äthiopier vor der Abschiebung zu bewahren. Da kann nur Ilarias heimlicher Geliebter helfen, Edoardo Casatis Sohn Piero. Der Senator, der zum Missfallen der liberal eingestellten Ilaria für Silvio Berlusconis Forza Italia im Senat sitzt, erreicht mit ein paar Telefonaten, dass der Äthiopier aus dem CIE freikommt und eine Aufenthaltsgenehmigung erhält. Aber Piero Casati zieht zugleich Erkundigungen ein und findet heraus, dass Shimeta Ietmgeta Attilaprofeti im November 2005 in einer Kaserne in Addis Abeba starb.

Zur Rede gestellt, gesteht der Äthiopier, dass er Senay Bantiwalu heißt und nicht Shimetas Sohn ist. Seine Mutter war Shimetas zwölf Jahre jüngere Halbschwester Saba. Nach dem Tod seines Cousins übergab ihm die Großmutter Abeba dessen Pass, damit er ausreisen konnte.

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1935/36 eroberte das faschistische Italien völkerrechtswidrig das ostafrikanische Kaiserreich Abessinien. Dabei setzten die Angreifer Senfgas ein. Der Roman „Alle, außer mir“ reicht von den Grausamkeiten dieses Krieges bis in unsere Zeit. Der 1915 geborene Italiener Attilio Profeti, der 1935 zu den Invasoren gehörte, stirbt 2012. In den letzten Jahren konnte er sich wegen seiner Demenz an nichts mehr erinnern, und seine 45-jährige Tochter Ilaria, eine Lehrerin in Rom, findet erst nach und nach heraus, dass er ein Faschist gewesen war und in Äthiopien einen Sohn gezeugt hatte.

Vor dem Hintergrund der Zeitgeschichte entwickelt Francesca Melandri eine Familien- bzw. Generationengeschichte. Wenn sie passagenweise historische Ereignisse, Greueltaten und menschenverachtendes Verhalten beschreibt, entfernt sie sich zu sehr von den Romanfiguren. Sie nimmt Imperialismus, Rassismus und Faschismus ebenso aufs Korn wie Heuchelei und Korruption, Ignoranz und Verdrängung. Eine zentrale Frage stellt sich Ilaria in Bezug auf ihren Vater: Wir glauben, viel über uns nahestehende Menschen zu wissen – aber kennen wir sie wirklich?

Francesca Melandri entfaltet die komplexe Handlung nicht chronologisch, sondern springt zwischen den verschiedenen Zeitebenen – 1935 bis 1940, 1966, 1976, 1993, 2008, 2010, 2012 – hin und her. Dabei wechselt sie auch die Erzählperspektive. Einiges erfahren wir aus Ilarias Blickwinkel, anderes aus der Sicht des jungen Attilio Profeti oder eines äthiopischen Flüchtlings.

Der Titel bezieht sich auf Attilio Profetis Motto „alle, außer mir“: Der Opportunist ist überzeugt, dass immer nur andere vom Unglück betroffen sein würden.

Veranschaulichung der Beziehungen

Zur Verfügung gestellt von © Gerhard Günther

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2018
Textauszüge: © Verlag Klaus Wagenbach

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