Milena Michiko Flašar : Oben Erde, unten Himmel

Oben Erde, unten Himmel
Oben Erde, unten Himmel Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2023 ISBN 978-3-8031-3353-3, 304 Seiten ISBN 978-3-8031-4363-1 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die 25-jährige Japanerin Suzu lebt allein. Ausgerechnet als Leichenfundort-Reinigerin lernt sie, was Mitgefühl und Gemeinsinn bedeuten. Das Kleinunternehmen, für das sie arbeitet, hat sich auf Kodokushi spezialisiert: Menschen, die einsam gestorben sind und deren Leichen erst nach längerer Zeit entdeckt werden.
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Kritik

In "Oben Erde, unten Himmel" geht es um Leben und Tod, Nähe und Distanz, Empathie und Humanität. Milena Michiko Flašar stellt ihr Thema überdeutlich dar. Der einfach gestrickte Roman lässt sich als warmherziges Plädoyer für Mitmenschlichkeit lesen, bewegt sich aber dicht am Rand der Wohlfühlliteratur.
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Suzu

Takada Suzu kam vor sechs Jahren zum Studieren in eine japanische Großstadt, brach ihr Studium jedoch nach dem ersten Semester ab, und seither schlägt sie sich mit Aushilfsjobs durch, zur Zeit als Kellnerin. Die 25-Jährige wohnt allein mit ihrem Hamster Punsunke in einem winzigen, hellhörigen Einzimmer-Apartment neben dem alten Ehepaar Fuji.

Nach sechs Jahren in der Stadt hatte ich nur eine Handvoll lose Bekanntschaften in meiner Kontaktliste.

Ich war gerne allein. Und eigentlich hat sich daran auch nichts geändert. […] Intimität überforderte mich.

Nicht gerade die Gegend für jemanden, der Mitte zwanzig war und sein Leben vor sich hatte, aber Leben war eben auch eine Geldfrage. Was mich hierher gebracht hatte, war die günstige Miete gewesen. Für Luxussorgen wie Gibt es einen Park in der Nähe? Eine leckere Pizzeria? Oder gar Kultur? Konzerte und Events? hatte ich einfach nicht das nötige Budget beisammen.

Suzu lässt sich mit „Kōtarō067“ ein, den sie über eine Dating-App kennengelernt hat.

Die Rechnung für eine Stunde peinliches Nacktsein voreinander teilten wir uns selbstverständlich, denn der moderne Mann, erklärte mir einer, war kein Macho. Er ehrte und achtete die Unabhängigkeit der Frau.

Nach drei Monaten meldet er sich nicht mehr und reagiert auch nicht mehr auf ihre Kontaktversuche.

Ich war weggeklickt worden.

Zur gleichen Zeit kündigt ihr der Geschäftsführer des Lokals, in dem sie kellnert. Er meint, es fehle ihr an „Liebreiz“ und Empathie.

„Um es auf den Punkt zu bringen, Sie sollten sich einen Job suchen, bei dem Sie so wenig wie möglich mit Menschen zu tun haben.“

Herr Sakai und sein Unternehmen

Es bleibt ihr nichts anderes übrig, als neue Bewerbungen zu verschicken. Eine Probeanstellung erhält sie von Herrn Sakai, einem 75-jährigen Kleinunternehmer. Seine Firma reinigt Leichenfundorte und hat sich auf Kodokushi spezialisiert: vereinsamt gestorbene Menschen, deren Tod erst nach längerer Zeit bemerkt wird.

Herr Sakai stellt „Fräulein Suzu“, wie er sie nennt, im Doppelpack mit einem gleichaltrigen Mann ein, der zufällig den gleichen Familiennamen trägt: Takada. Takada Suzu und Takada Yūto verdoppeln nun die Belegschaft, die bisher aus Yamamoto und Suga bestand.

Herr Sakai führte früher „das stinknormale Leben eines verheirateten Salaryman mit zwei Kindern“.

„Und ich war glücklich. Nichts fehlte mir. Sowohl familiär als auch beruflich hatte ich alles erreicht, was es für mich zu erreichen gab. Das Haus am Stadtrand – es war abbezahlt. Die Beförderung zum Abteilungsleiter – ich hatte sie in der Tasche.“

Aber mit Ende 40 kündigte er seine Anstellung und bereitete die Gründung des heutigen Kleinunternehmens vor. Seine Frau glaubte, er habe den Verstand verloren und ließ sich von ihm scheiden.

Ono Tarō, der erste Tote, mit dem Suzu bei ihrer neuen Arbeit konfrontiert wird, hatte vorausgesehen, dass seine Leiche längere Zeit unbemerkt bleiben würde und deshalb vor drei Jahren Herrn Sakai mit der Reinigung des Fundorts beauftragt.

Nach der Arbeit suchen Herr Sakai und sein Team ein Badehaus auf. Im Frauenbereich trifft Suzu auf eine Frau Mitte siebzig, die ihr Gummidrops anbietet. Beim anschließenden Essen mit Herrn Sakai und den Kollegen in einem Nudellokal erfährt Suzu, dass „Mrs Langfinger“, wie Herr Sakai sie nennt, in den letzten neun Jahren drei Mal wegen Ladendiebstahls Haftstrafen verbüßte, weil sie als Wiederholungstäterin gilt.

Sie stiehlt, weil sie einsam ist.

Zu Hause, meint Herr Sakai, wisse Mrs Langfinger nicht, was sie mit sich anfangen soll, und ihrer bald heiratenden Tochter Asuka wolle sie nicht zur Last fallen.

Als der 45-jährige Ishikawa Hiroshi tot aufgefunden wird, interessieren sich die Medien für den Fall, weil sein kleiner Sohn Junki zwei Wochen lang neben der Leiche ausgeharrt hat und selbst halb tot ist, als er ins Krankenhaus gebracht wird.

Ishikawa war Alleinerziehender gewesen. Seine Frau hatte ihn kurz nach Junkis erstem Geburtstag verlassen. Dessen Behinderung war derart, dass sie es »nicht für richtig hielt, ihn aufzuziehen.

Weil Ishikawa seinen Sohn in eine Krippe gebracht hatte, wenn er als LKW-Fahrer länger unterwegs war, drohte das Kinder- und Jugendamt, ihm das Sorgerecht zu entziehen. Daraufhin tauchte er mit Junki unter.

Takada

Takada hat sich krankgemeldet. Er wohnt in einem Manga Kissa, einem Internet-Café mit Kabinen zum Übernachten. Dass Suzu das nicht weiß, erzürnt Herrn Sakai:

„Yamamoto weiß es. Suga weiß es. Ich weiß es. Und Sie wollen mir weismachen, dass Sie als Einzige keine Ahnung haben? Auf was für einem Planeten leben Sie, Fräulein Suzu?“ Herr Sakai erhob nun doch seine Stimme. Die kaum angerauchte Zigarette hatte er ausgedrückt. „Es reicht!“, schrie er los. „Ich habe, wenn ich mich nicht irre, einen Menschen eingestellt, keinen Roboter, und ein Mensch – offensichtlich brauchen Sie Nachhilfe in dem Punkt – interessiert sich für seine Mitmenschen. Hier!“ Er schrieb eine Adresse samt Wegskizze auf einen Zettel und warf ihn vor mich hin. „Beweisen Sie mir, dass Sie ein Mensch sind!“
„Aber …“
„Nichts aber! Den Krankenbesuch übernehmen Sie! Und dass Sie mir nicht mit leeren Händen aufkreuzen! Orangen wären gut. Erdbeeren oder Pfirsiche. Irgendetwas Saftiges mit Vitaminen drin.“

Auf dem Weg zu Takada Yūto kauft Suzu eine fünf Kilogramm schwere Wassermelone. Der Rezeptionist weigert sich zunächst, eine Besucherin passieren zu lassen, aber Suzu knallt ihren Führerschein auf den Tresen, zeigt auf ihren Familiennamen und gibt sich als Schwester des Kranken aus. Daraufhin nennt ihr der Angestellte die Kabinennummer und lässt sie durch.

Takada Yūto hat hohes Fieber und ist kaum bei Bewusstsein. Er wehrt sich nicht, als Suzu ihn wie eine Gummipuppe zu einem Taxi schleppt, in ihr Ein-Zimmer-Apartment bringt und ihm ihren einzigen Futon überlässt.

Der Hamser Punsuke, der sich bisher vor Suzu versteckte, stellt sich auf die Hinterpfoten und beäugt den Bewusstlosen.

In den folgenden beiden Tagen sinkt das Fieber, und Takada erholt sich.

Er erzählt Suzu, dass sein Vater die Familie verlassen habe, als er sechs Jahr alt gewesen sei. Die Mutter behauptete damals, es sei wegen Yūto geschehen.

„Wegen dir natürlich! Oder hast du geglaubt, er hält das ewig aus? Dass du nicht von ihm bist?“

Später erfuhr Takada, dass die Mutter ihren 20 Jahre älteren Lebensgefährten hinausgeworfen hatte. Von da an war sie mit dem Sohn allein geblieben.

Nachdem Takada wieder ins Manga Kissa gezogen ist, kauft Suzu einen Gästefuton.

Rie

Herr Sakai und sein Team werden in ein Penthouse gerufen, in der die Leiche einer 20-Jährigen entdeckt wurde. Rie lief mit 18 von ihren Eltern weg. Sie ließ sich mit einem 30 Jahre älteren verheirateten Mann ein, der sie in dem ihm gehörenden Penthouse unterbrachte, aber die Affäre vor gut zwei Monaten beendete.

Sechs Wochen lang herrschte Funkstille zwischen ihnen, und als er sie besuchte, um sie noch einmal von der Notwendigkeit einer Trennung zu überzeugen, fand er sie tot in der Badewanne. Ihr Herz hatte versagt.

Auftraggeber ist der Liebhaber, der nicht noch mehr Wirbel haben möchte, der seine Ehe gefährden könnte. Ries Eltern erklären, dass sie ihrer Tochter nicht im Weg stehen wollten, als sie davonlief. Sie wussten, dass Rie wegen eines Herzfehlers nicht lange leben würde.

„Leben probiert man nicht aus“, sagte der Vater. „Man lebt es einfach. Es gibt keine Generalprobe, bei der man, wenn man etwas verpatzt, an den Anfang der Szene zurückkehrt. Keine Wiederholungen.“ Sein Kinn zitterte. „Und wenn man fertig ist, ist man fertig. Der Vorhang fällt. Keine Encore-Rufe. Kein nochmaliges Heraustreten. Keine Verbeugungen.“

Epilog

„Mrs Langfinger“ lässt sich am Ende doch dazu überreden, zu ihrer Tochter Asuka und ihrem Schwiegersohn Shun’ichi zu ziehen, statt weiter Gummidrops zu stehlen, um inhaftiert zu werden. Sie erzählt Suzu, dass man alte Menschen früher zum Sterben in den Wald gebracht habe.

„Obasute nannte man das Wegwerfen der Alten.“

Erst im Nachhinein erfährt Suzu, dass sich die Nachbarin, Frau Fuji, den Oberschenkel gebrochen hatte und von Sanitätern ins Krankenhaus gebracht worden war. Als Frau Fuji wieder zu Hause ist, klingelt Suzu öfter bei den Nachbarn und macht kleine Besorgungen für sie.

Bei Herrn Sakai, einem starken Raucher, wird Lungenkrebs diagnostiziert. Der 75-Jährige kann noch eineinhalb Monate lang  mit seinem Team arbeiten, dann muss er ins Krankenhaus und überschreibt Yamamoto die Firma. Bald darauf stirbt er.

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„Ich war gerne allein“, lautet der erste Satz des Romans „Oben Erde, unten Himmel“ von Milena Michiko Flašar. Die Ich-Erzählerin, eine 25-jährige Japanerin, lebt allein mit ihrem Hamster – also einem weiteren Einzelgänger ‒ in einer winzigen Großstadtwohnung und schlägt sich seit dem Abbruch des Studiums mit Gelegenheitsjobs durch. Ausgerechnet als Leichenfundort-Reinigerin lernt sie, was Mitgefühl und Gemeinsinn bedeuten. Das Kleinunternehmen, für das sie arbeitet, hat sich auf Kodokushi spezialisiert: Menschen, die einsam gestorben sind, deren Fehlen niemand bemerkt und deren Leichen erst nach längerer Zeit entdeckt werden. In „Oben Erde, unten Himmel“ geht es um Leben und Tod, Einsamkeit, Nähe und Distanz, Empathie und Humanität.

Milena Michiko Flašar stellt ihr Thema offensichtlich und überdeutlich dar; da bleibt nichts ungesagt. Der Roman ist einfach gestrickt und nicht besonders ideenreich. „Oben Erde, unten Himmel“ lässt sich als warmherziges Plädoyer für Mitmenschlichkeit lesen, bewegt sich aber dicht am Rand der Wohlfühlliteratur.

Der paradox klingende Titel stammt aus dem Text des Romans:

Als ich nach den zwei Wochen den Rückflug antrat, war nichts an seinem Platz geblieben. Oben Erde, unten Himmel. Mit diesem Gefühl saß ich am Fenster und schaute auf die Wolkendecke, aus der die Berge ragten.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2023
Textauszüge: © Verlag Klaus Wagenbach

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