Elfriede Jelinek : Die Klavierspielerin
Inhaltsangabe
Kritik
Erika, die Heideblume. Von dieser Blume hat diese Frau den Namen. Ihrer Mutter schwebte vorgeburtlich etwas Scheues und Zartes dabei vor Augen. Als sie dann den aus ihrem Leib hervorschießenden Lehmklumpen betrachtete, ging sie sofort daran, ohne Rücksicht ihn zurechtzuhauen, um Reinheit und Feinheit zu erhalten. Dort ein Stück weg und dort auch noch […] Jetzt ist Erika endlich fertig zurechtgezartet, nun soll sie den Wagen der Musik in die Spur heben und auf der Stelle zu künsteln anfangen […] Eine weltbekannte Pianistin, das wäre Mutters Ideal; und damit das Kind den Weg durch Intrigen auch findet, schlägt sie an jeder Ecke Wegweiser in den Boden und Erika gleich mit, wenn diese nicht üben will. Die Mutter warnt Erika vor einer neidischen Horde, die stets das eben Errungene zu stören versucht und fast durchwegs männlichen Geschlechts ist. (Seite 77)
Altersmäßig könnte Erikas Mutter die Großmutter ihrer Tochter sein. Bald nachdem Frau Kohut ihr einziges Kind in Wien geboren hat, bringt sie ihren geistig umnachteten Ehemann in die Irrenanstalt „Am Steinhof“, wo er schließlich stirbt. Die einsame Mutter, die sich von anderen Menschen hochmütig absondert, versucht, Erika unauflösbar an sich zu binden, sie vom Leben außerhalb der Kunst und der eigenen vier Wände möglichst fernzuhalten und ein Wunderkind aus ihr zu machen. Eine fröhliche, erwartungsvolle Kindheit ist das nicht.
Die Gemüsehändler haben aufgestapelte Kisten mit farbigen Vitaminträgern in allen Stadien der Fäulnis und Verwesung um ihre Eingänge herum gelagert […]
Erika sieht auf ihrem Schulweg beinahe zwanghaft überall das Absterben von Menschen und Esswaren, sie sieht nur selten, dass etwas wächst und gedeiht. (Seite 135f)
Erika Kohut will haben, was sie bei ihren Mitschülerinnen sieht, und wenn sie etwas nicht bekommt, versucht sie es zu zerstören. Zwanghaft stiehlt sie, obwohl sie das Diebesgut anschließend auf der Straße in den nächsten Müllbehälter wirft.
Statt der Sonnenbrille hätte sie am liebsten das neue graue Flanellkostüm eines anderen Mädchens genommen. Aber ein Kostüm lässt sich nicht gut entwenden, wenn die Trägerin ununterbrochen darin steckt. Zum Ersatz bringt sie in detektivischer Kleinmeisterarbeit heraus, dass dieses Kostüm eigenkörperlich auf dem Babystrich verdient worden ist […] Die Schulkameradin ist erst süße sechzehn und wird ordnungsgemäß der Verfehlung wegen gemeldet. SIE erzählt ihrer Mutter, welches Kostüm man sich wünscht und wo man es sich selbst verdienen kann. In gespielter Kinderunschuld fließen die Worte über die Lippen, damit die Mutter sich über die Ahnungslosigkeit des eigenen Kindes freut […] Sofort schnallt sich die Mutter ihre Sporen an die Jagdstiefel. Schnaubend und schäumend tänzelt die Mama, den Kopf werfend, in die Schule und erwirkt einen saftigen Hinauswurf. Das graue Kostüm fliegt samt seiner Trägerin von der Anstalt […] Die Kostümbesitzerin muss zur Strafe Verkäuferin in einer Innenstadtparfümerie werden und es für den Rest ihres Lebens ohne das Glück der Allgemeinbildung aushalten. (Seite 130)
Wie ihre Mutter verachtet Erika alles Gewöhnliche und sieht auf andere Menschen arrogant herab, beispielsweise wenn sie mit der Straßenbahn in Wien fährt.
SIE durchpflügt die graue Flut derer mit und ohne Fahrschein, der Zugestiegenen und der sich zum Aussteigen Anschickenden, die dort, woher sie kommen, nichts bekommen haben und dort, wo sie hingehen, nichts zu erwarten haben. (Seite 70)
Zur maßlosen Enttäuschung ihrer Mutter reicht Erikas Begabung dann doch nicht für eine Karriere als Pianistin. Stattdessen wird sie Klavierlehrerin am Wiener Konservatorium.
Was bleibt ihr anderes übrig, als in das Lehrfach überzuwechseln. Ein harter Schritt für den Meisterpianisten, der sich plötzlich vor stammelnden Anfängern und seelenlosen Fortgeschrittenen wiederfindet. (Seite 80)
Entweder sitzt sie vor dem Klavier und drischt auf ihre längst endgültig begrabene Pianistinnenkarriere ein, oder sie schwebt als böser Geist über irgendeiner Probe mit ihren Schülern. (Seite 61)
Inzwischen ist Fräulein Professor Erika Kohut sechsunddreißig, aber sie lebt noch immer bei ihrer Mutter in einer Zweizimmer-Mietwohnung. Erikas Zimmer lässt sich nicht abschließen, und sie schläft neben ihrer Mutter im Doppelbett. Ihr Privatleben besteht aus gemeinsamen Abenden mit ihrer Mutter vor dem Fernsehgerät und hin und wieder einem Konzertbesuch. Argwöhnisch wacht die Mutter darüber, dass sich kein Mann zwischen sie und ihre Tochter drängt.
Dem Jungtier soll nicht Liebe, nicht Lust etwas anhaben können. (Seite 85)
Trotz des Protests ihrer Mutter, die von einer eigenen kleinen Rente und dem Gehalt ihrer Tochter lebt, kauft Erika sich immer wieder einmal ein teures Kleid, das sie dann allerdings nicht anzieht, sondern nur in den Schrank hängt. Heimlich verkauft die Mutter Kleidungsstücke ihrer gewöhnlich Rock und Bluse tragenden Tochter, um das Geld für eine größere Wohnung zusammenzusparen.
Erika hat stets eine sorgfältig eingewickelte Rasierklinge bei sich. Damit schneidet sie sich in den Handrücken oder auch vor einem alten Rasierspiegel ihres Vaters in die Schamlippen.
Ihren Schülern spioniert sie nach und überrascht sie beispielsweise, wenn sie sich die Standfotos eines Softpornos am Metro-Kino in der Johannesgasse anschauen.
Zwei Stück Jungmänner in spe sind gerade in einen furchtbarten Streit bezüglich der Größe der weiblichen Brust geraten, da explodiert, vom Föhn hervorgeschleudert, die Frau Klavierlehrerin mitten unter ihnen und übt die Wirkung einer Handgranate aus. Sie hat sich einen still strafenden und ein wenig bedauernden Blick auf ihr Gesicht gelegt, man würde nicht glauben, dass sie und die Frauen auf den Fotos ein und demselben Geschlecht angehören, nämlich dem schönen, ja der Unkundige würde sie sogar zu verschiedenen Kategorien der Spezies Mensch zählen. (Seite 144f)
Fräulein Professor Kohut schimpft nicht, aber in der nächsten Unterrichtsstunde stellt sie fest, dass die betreffenden Schüler zu wenig geübt haben.
Sie selbst schaut sich den Softporno nur zweimal an, denn sie bevorzugt härtere Darstellungen. Als einzige Frau sucht sie auf dem Nachhauseweg vom Konservatorium einen Erotikladen auf, schließt sich in einer der Peepshow-Kabinen ein, beobachtet die nackten Frauen auf dem Drehteller, hebt ein „von Sperma ganz zusammengebackenes Papiertaschentuch“ vom Boden auf und riecht daran.
Irgendwo rechts seitlich hat ein Herr Besucher die Worte St. Maria besoffene Hure in korrektem Deutsch liebevoll in die Trennwand gekratzt. Nicht oft ritzt einer etwas in die Wand, denn der Mann muss sich auf anderes konzentrieren […] Sie haben nur eine Hand frei, meist nicht einmal die. Und Geld müssen sie ja auch noch nachwerfen. (Seite 105)
Nachdem Erika ihrer Mutter vorgelogen hat, sie müsse abends noch zu einem Konzert, fährt sie nach Einbruch der Dunkelheit zum Wiener Wurstelprater und wandert in die Praterauen. Ihr Ziel ist die Jesuitenwiese.
Aus Erfahrung weiß Frl. Kohut, dass sich in dieser Gegend ohne viele Mühe Prostituierte beim Eingehen und Lösen ihrer Dienstverhältnisse betrachten lassen. (Seite 178)
Man findet hier viele ältere Frauen, am Rande ihres Berufs und ihres Lebens, vor. (Seite 172)
Sie hat ein Nachtsichtglas ihres verstorbenen Vaters dabei, aber das benötigt sie an diesem Abend gar nicht, denn sie kann sich ganz nah an ein Paar heranschleichen.
Ausländisch jauchzend schraubt sich ein Mann in eine Frau. (Seite 180)
Als ein Zweig knackt, springt der Freier auf, zerrt seine Hose hoch, schimpft und tut so, als suche er nach dem Spanner, aber er meidet die Stelle, an der Erika sich versteckt, denn offenbar fürchtet er sich vor einer Auseinandersetzung mit einem Voyeur, von dem er nicht weiß, wie kräftig er ist.
Weil Erika danach erst spät nach Hause kommt, prügelt die Mutter, die sich Sorgen gemacht hat und eigentlich längst schlafen wollte, auf sie ein, und Erika schlägt zurück, bis sie beide erschöpft am Boden liegen.
Bei einem Hauskonzert in der Villa einer polnischen Emigrantenfamilie der vierten Generation spielen Prof. Kohut und Dr. Haberkorn an zwei Flügeln. In der Pause umsorgt die Mutter ihre Tochter.
Die Mutter legt ihr auf der Stelle ein selbst gehäkeltes hellblaues Angorajäckchen um die Schultern, damit in diesen Gelenkkugeln die Schmierflüssigkeit nicht jäh erstarrt und der Reibungswiderstand sich erhöht. Das Jäckchen ist wie ein Teewärmer auf einer Kanne. (Seite 117)
Auch Walter Klemmer ist da, ein Student der Technischen Hochschule in Wien, der bei Erika Kohut Klavierstunden hat und sie seit Wochen umwirbt. Nach dem Konzert hilft er seiner Lehrerin und deren Mutter höflich in die Mäntel.
Herbei stiefelt Walter Klemmer und hilft seiner Klavierprofessorin in den Wintermantel mit Fuchskragen […] Er überzieht die Mutter mit ihrem schwarzen Persianerklauenmantel. (Seite 121)
Zum Unbehagen der beiden Damen begleitet er sie zur Haltestelle und wartet mit ihnen auf die Straßenbahn.
Walter Klemmer nutzt jede Gelegenheit, in Erikas Nähe zu sein. Auch bei einer Probe in der Turnhalle einer Volksschule ist er im Publikum. Erika geht während des Konzerts hinaus, wickelt im Umkleideraum ein Wasserglas in ihr Taschentuch und zertritt es. Dabei achtet sie darauf, dass die Scherben nicht zu klein werden, damit die scharfkantigen Splitter, die sie einer Flötistin in die Manteltasche schüttet, noch stechen. Das Mädchen, dem der Mantel gehört, zerschneidet sich die Hand und schreit. Lehrer und Schüler laufen zusammen; man telefoniert nach einem Notarzt. Erika geht währenddessen scheinbar ruhig ein Stockwerk höher und uriniert in dem Ekel erregenden Schülerklo.
Klemmer folgt ihr und holt sie aus der Kabine. Er zwingt ihr einen Kuss auf, greift ihr unter den Rock, und während er wahllos an ihr herumbeißt und vor Gier schluchzt, dringt er mit dem Zeigefinger in sie ein. Plötzlich drückt Erika ihn von sich weg und hält ihn auf eine Armlänge Abstand. Sie bleibt aufrecht stehen, öffnet den Reißverschluss an seiner Hose, holt seinen erigierten Penis heraus und masturbiert ihn ohne einen Funken Hingabe. Sobald er versucht, etwas zu sagen oder sich ihr zu nähern, droht sie, ihn auf der Stelle stehen zu lassen. Unmittelbar bevor er zum Orgasmus kommt, zieht Erika ihre Hand zurück. Klemmer drängt sie, weiterzumachen, aber sie ist nicht bereit, ihn noch einmal anzufassen und verbietet ihm auch, selbst an sich herumzumachen oder sich umzudrehen. Dabei öffnet sie die Klotür so weit wie möglich.
Für Erika ist dies die absolute Kür in Sachen Zuschauen. Pflicht und Kurzprogramm hat sie längst fehlerlos hinter sich gebracht. (Seite 218)
Weil ein unbekanntes Gefühl sie zu beherrschen beginnt, gerät Erika in Klemmers nächster Klavierstunde in Wut, mäkelt an seinen Leistungen herum und beleidigt ihn.
Lehrerin und Schüler stehen einander von Mann zu Frau gegenüber. (Seite 223)
Am Ende der Stunde überreicht sie ihm einen verschlossenen Brief. Er schlägt ihr vor, das Wochenende gemeinsam zu verbringen. Davor zuckt Erika zurück. Klemmer folgt ihr auf dem Heimweg und holt sie im Treppenhaus ein. Ihre Mutter lässt keinen Zweifel daran, dass der junge Mann unerwünscht ist. Erika behauptet jedoch, sie müsse mit ihrem Schüler noch etwas besprechen und geht mit ihm in ihr Zimmer. Weil es sich nicht abschließen lässt, schieben die beiden mit vereinten Kräften die von der Großmutter geerbte Kredenz vor die Tür. Nachdem die Mutter vergeblich gelauscht hat, schaltet sie den Farbfernseher ein und dreht den Ton besonders laut, damit ihr Tochter bereut, das schalere Vergnügen gewählt zu haben. Wenn dieser junge Mann sich einbildet, an ihr Geld zu kommen, wird sie ihm einen Strich durch die Rechnung machen und gleich morgen früh das Losungswort fürs Sparbuch ändern, damit Erika nichts abheben kann. Während die Mutter diverse Liköre trinkt, um sich zu beruhigen, verlangt Erika nebenan von Klemmer, den Brief zu lesen. Da steht, dass er sie mit gebrauchten Strumpfhosen knebeln und fesseln und dann schlagen und vergewaltigen soll.
Stimmt es wirklich, wie es hier steht, dass sie ihm die Zunge in den Hintern stecken muss, wenn er rittlings auf ihr sitzt? (Seite 257)
Erika will ihre Unterwerfung selbst inszenieren, durch eigene Vorschriften auch als Sklavin dominieren und über seine Begierde herrschen. So hat Klemmer sich das nicht vorgestellt. „Es graust ihn vor ihr.“ Er will nur noch aus dieser Falle fort und rennt aus der Wohnung. Erika hatte gehofft, er würde sich aus Liebe weigern, ihre masochistischen Forderungen zu erfüllen, aber nun hat sie ihn verloren. In einem Gefühlssturm wirft sie sich auf ihre im Bett liegende Mutter und deckt sie mit Küssen ein. Die Mutter wehrt sich und schlägt um sich, aber Erika lässt nicht locker.
Sie schlingt sich, wie Efeu um ein altes Haus, um diese Mutter, die gewiss kein gemütliches altes Haus ist. Erika saugt und nagt an diesem großen Leib herum, als wollte sie gleich noch einmal hineinkriechen, sich darin zu verbergen. Erika gesteht der Mutter ihre Liebe, und die Mutter keucht das Gegenteil, nämlich, dass sie ihr Kind ebenfalls liebe […] (Seite 263f)
Weil Klemmer nicht mehr zu den Klavierstunden erscheint, geht Erika zu seinem Klarinettenunterricht und zerrt ihn in eine Abstellkammer der Putzfrauen. Sie kniet sich vor ihm auf den Boden und nimmt seinen Penis in den Mund, aber es kommt zu keiner Erektion.
Er MUSS jetzt und KANN daher nicht. (Seite 271)
Frustriert über sein sexuelles Versagen, läuft Klemmer in den Park, um einen Flamingo zu töten. Er findet kein Tier, erschreckt dafür aber ein jugendliches Liebespaar „in einem weit fortgeschrittenen Stadium der Lust“, das er mit einem Knüppel bedroht. Dann masturbiert auf der Straße vor dem Haus, in dem Erika mit ihrer Mutter wohnt. Mitten in der Nacht ruft er sie an und verlangt, dass sie ihm öffnet. Er ohrfeigt Erika, rammt ihr die Faust in den Magen und tritt auf sie ein, als sie sich am Boden krümmt. Die Mutter will die Polizei anrufen, aber Klemmer stößt sie ins Schlafzimmer zurück und sperrt sie ein. Bevor er Erika vergewaltigt, trinkt er erst noch in der Küche in Glas Wasser.
Er wartet auf das Stöhnen der Lust bei ihr. Erika verspürt nichts. Es kommt nichts. Es tut sich nichts. (Seite 299)
Weder Erika noch ihre Mutter zeigen Walter Klemmer an.
Ohne zu wissen, ob sie Klemmer umbringen oder zurückgewinnen will, geht Erika mit einem Messer zur Technischen Hochschule. Sie entdeckt ihn inmitten einer Gruppe fröhlicher Kommilitonen. Das lenkt Erikas Aggression auf sie selbst.
Das Messer soll ihr ins Herz fahren und sich dort drehen! (Seite 306)
Leidenschaftslos sticht Erika sich das Messer statt ins Herz in die Schulter und geht blutend nach Hause.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Dieser Höllentrip ist das Psychogramm einer neurotischen, zerstörerischen Mutter-Tochter-Beziehung. Hinter der bürgerlichen Fassade terrorisiert und dressiert die herrschsüchtige Mutter ihre Tochter Erika und unterwirft sie ihren maßlosen Besitzansprüchen. Aufgrund der lebensverneinenden Erziehung und Sozialisation kann Erika Kohut mit anderen Menschen nur im Rahmen von Herrschaft und Unterdrückung verkehren. Unfähig, Gefühle zu zeigen, sich anderen zu öffnen oder sich für andere zu interessieren, achtet sie darauf, dass niemand ihr zu nah kommt, und sie verbirgt sich hinter der Fassade einer überlegenen Musikprofessorin. Aber die Musik bereitet ihr auch keine Freude. Der Flügel ist bezeichnenderweise ein Solisteninstrument, ein Symbol der Einsamkeit und Lebensenthaltung.
Die Tragödie der Klavierspielerin Erika Kohut besteht darin, dass sie alle Voraussetzungen zur genialen Künstlerin mitbringt – außer Genie. Verachtung alles Gewöhnlichen, hochmütige Absonderung im Bewusstsein der eigenen unantastbaren Kostbarkeit, äußerst reizbare musikalische Empfindlichkeit, hoch gezüchteter Qualitätsanspruch an sich und die Umwelt, exklusive Hingabe an die Musik, Sublimierung der Sexualität in Kunst, stolze Einsamkeit der nur auf ihr Werk konzentrierten Künstlerin – all das ist reichlich vorhanden. Aber zur großen pianistischen Künstlerschaft, die solchen Habitus erst rechtfertigen könnte, hat es nicht gereicht. (Sigrid Löffler: Die Mutter als Wille und Vorstellung. Elfriede Jelineks „Klavierspielerin“, gefangen im Innern der Kunst, des Körpers und der Sprache. Berlin 2005)
In ihrer Unfähigkeit, am richtigen Leben teilzunehmen, wird Erika Kohut zur Voyeurin. Als Walter Klemmer, einer ihrer Schüler, sich in sie verliebt, achtet sie ängstlich darauf, ihre Überlegenheit zu bewahren und kann ihre sexuellen Bedürfnisse nur als Verlangen nach grausamer Bestrafung artikulieren.
Der geschlechtliche Machtkampf, der nun anhebt, speist sich aus ihrer überlegenen Schwäche und seiner ahnungslosen Stärke. (Sigrid Löffler, a.a.O.)
Weil Klemmer ihre masochistischen Vorstellungen abstoßend findet und nicht begreift, dass Erika sich in Wirklichkeit nach Liebe und Erlösung sehnt, scheitert die Beziehung tragisch, bevor sie überhaupt angefangen hat.
Der trostlose Roman „Die Klavierspielerin“ wurde 1983 veröffentlicht. Elfriede Jelinek deutete mitunter selbst an, dass die Figur der Klavierspielerin autobiografische Züge aufweist, aber sie wollte das Interesse an ihrem Buch nicht darauf eingeengt wissen, denn es ging ihr wohl vor allem darum, hinter den Fassaden des bürgerlichen Alltags versteckte Unterdrückungskämpfe aufzudecken.
Am extremen Ausnahmefall veranschaulicht Elfriede Jelinek ohne moralisierenden Unterton Mechanismen, die sie für typisch hält. Um die missglückte Sozialisation der im Hauptteil sechsunddreißigjährigen Protagonistin zu beleuchten, schiebt Elfriede Jelinek in der ersten Hälfte des Romans mitunter Rückblenden ein. Scheinbar nüchtern, brutal und gefühllos schildert sie das aus der psychischen Deformation resultierende Verhalten. Spröd, streng, kalt-distanziert wirkt die Sprache. Tatsächlich funkelt sie, denn Elfriede Jelinek modifiziert beispielsweise Begriffe, Floskeln und Redewendungen so, dass ihre Formulierungen punktgenau treffen und aufhorchen lassen. Außerdem sorgt sie mit ihrem Zynismus dafür, dass viele Szenen nicht nur abstoßend, sondern auch verstörend tragikomisch wirken.
Unentwegt wechselt die Position des Erzählers. Wer da eigentlich spricht, ist in den gleitenden Übergängen zwischen Erzählerkommentar und Figurenrede, zwischen Reflexion und Rollenprosa kaum mehr auszumachen. Die Sprache selber ist es, die da höhnt und feixt, grimassiert und spottet, seziert, verzerrt, persifliert, Zitate verhunzt und noch die horrendste Mitteilung durch möglichst geschmacklose Witze und Metaphern bricht. (Sigrid Löffler, a.a.O.)
Michael Haneke verfilmte den Roman von Elfriede Jelinek:
„Die Klavierspielerin“.
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005
Textauszüge: © Rowohlt Verlag – Seitenangaben beziehen sich auf
Band 99 der Reihe „Nobelpeis für Literatur“, Coron bei Kindler Verlag, Berlin 2005
Elfriede Jelinek (Kurzbiografie)
Michael Haneke: Die Klavierspielerin