Die Klavierspielerin
Die Klavierspielerin
Inhaltsangabe
Kritik
Handlung:
Erika Kohut (Isabelle Huppert) kehrt in die düstere Wohnung zurück, die sie sich mit ihrer Mutter (Annie Girardot) teilt. Als diese das Aufsperren der Wohnungstür hört, verlässt sie ihren Platz vor dem Fernsehgerät, kommt in den Flur und beschwert sich darüber, dass ihre sechsunddreißigjährige Tochter drei Stunden später als gewohnt nach Hause kommt. Erika unterrichtet am Wiener Konservatorium. Sie behauptet, nach dem ermüdenden Unterricht noch spazieren gegangen zu sein. Die Mutter glaubt ihr nicht, entreißt ihr die Handtasche und durchwühlt sie. Sie findet eine neue Bluse und stellt fest, dass Erika dafür Geld von ihrem Sparbuch abgehoben hat. Als Erika verhindern will, dass ihre Mutter das Kleidungsstück zerfetzt, geraten sich die beiden Frauen in die Haare und schlagen sich. Dann aber sieht Erika ihre Mutter traurig im Lehnstuhl sitzen, versöhnt sich weinend mit ihr und streichelt ihren Kopf.
Erika hat in der engen Mietwohnung zwar ein eigenes Zimmer, aber sie kann es nicht abschließen, weil der Schlüssel fehlt. Sie benützt es kaum, auch nicht zum Schlafen, denn nachts liegt sie neben der Mutter im alten Ehebett. Eifersüchtig achtet die verbitterte Mutter auf alles, was die isolierte Zweisamkeit mit ihrer Tochter gefährden könnte. Deshalb will sie nicht, dass Erika sich modisch kleidet.
An ihren Vater kann Erika sich kaum erinnern: Er hat die Familie verlassen, da war sie noch ein Kind. (Später erfährt die Mutter, dass er gestorben ist. Sie erwähnt das eher beiläufig, und Erika reagiert auch nicht weiter darauf.) Seit ihrer Kindheit lebt sie allein mit ihrer Mutter in einer spießigen, muffigen Kleinbürgerwohnung. Die besitzergreifende und geltungssüchtige Mutter hat dafür gesorgt, dass Erika zur Pianistin dressiert wurde.
Zum Glück hat diese eine alte Frau, die Mutter Kohut, ein jüngeres Anhängsel ergattert, auf das sie stolz sein kann und das für sie sorgen wird, bis der Tod sie scheidet […] Für Erika wählt die Mutter früh einen in irgendeiner Form künstlerischen Beruf, damit sich aus der mühevoll errungenen Feinheit Geld herauspressen lässt, während die Durchschnittsmenschen bewundernd um die Künstlerin herumstehen, applaudieren. (Elfriede Jelinek: Die Klavierspielerin)
Die Musik dient also für den Gelderwerb und den sozialen Aufstieg.
Erika gibt sich zwar als Schubert- und Schumann-Kennerin aus, aber sie empfindet keine Freude, wenn sie Musik hört, sondern sie sitzt mit versteinerter Miene im Publikum. Niemals sieht man sie lächeln. Dazu passt, dass sie keine gefeierte Konzertpianistin geworden ist, sondern eine misslaunige Professorin am Wiener Konservatorium, die ihre Schüler dazu abrichtet, beispielsweise die Vortragsbezeichnungen in den Partituren gehorsam zu befolgen. Ihr Klavierunterricht ist nichts als ein liebloser Drill, und darüber hinaus zeigt sie keinerlei Interesse an ihren Schülerinnen und Schülern.
Gut gekleidet und erhobenen Hauptes begleitet die Mutter Erika zu einem Hausmusikabend bei Dr. Blonskij (Udo Samel). Einem jungen Mann (Benoît Magimel) schlagen sie die Aufzugtür vor der Nase zu. Aber er stürmt die Treppen hinauf und trifft vor der Wohnungstür der Blonskijs wieder mit den beiden arroganten Damen zusammen. Es stellt sich heraus, dass er Walter Kemmer heißt, ein Neffe von Dr. Blonskij ist und ebenfalls an dem Hausmusikabend teilnimmt.
Walter studiert zwar Schwachstromtechnik, aber er spielt auch begabt und begeistert Klavier. Unbekümmert verliebt er sich in die unnahbare Musikprofessorin, vernachlässigt sein Studium und bewirbt sich um die Aufnahme in ihre Meisterklasse. Erika sträubt sich, aber ihre Kolleginnen und Kollegen sind von Walters Können so begeistert, dass sie nicht anders kann: Widerstrebend erklärt sie sich bereit, ihm Klavierunterricht zu erteilen.
Die Pose der emotionalen und sexuellen Askese hält Erika im Beisein ihrer Mutter und im Konservatorium perfekt durch, doch unter der kühlen Oberfläche brodeln unkanalisierte Triebe. Sogar wenn sie in einer abschließbaren Kabine Pornofilme anschaut und dabei an einem vom Boden aufgehobenen Papiertaschentuch den Geruch des Spermas riecht, bleibt ihr Gesichtsausdruck steif und überheblich. Scheinbar ungerührt belauert sie ein Pärchen beim Liebesspiel in einem Autokino. Durch Schnitte mit einer Rasierklinge versucht sie, in ihrer tauben Vulva wenigstens Schmerz zu empfinden. Ihr eigener Körper ist ihr fremd.
Als Erika merkt, dass Anna Schober (Anna Sigalevitch), eine ihrer Klavierschülerinnen, bald ebenso gut spielen könnte, wie sie, befolgt sie den Rat ihrer Mutter, die Konkurrenz rechtzeitig auszuschalten, verlässt während einer Probe den Konzertsaal und schüttet in der Garderobe Glasscherben in die Manteltasche des Mädchens. Anna zerschneidet sich daran die Hand. Annas ehrgeizige Mutter (Susanne Lothar) ist entsetzt, denn sie muss ihren Plan aufgeben, aus ihrer Tochter eine Pianistin zu machen. Vielleicht wird Anna dadurch vor dem Schicksal bewahrt, das Erika Kokut erleidet.
Auf die Liebeserklärungen ihres Schülers Walter reagiert Erika Kohut kühl-abweisend und igelt sich in der Rolle der strengen Lehrerin ein. Nach dem Vorfall mit den Glasscherben folgt er ihr in die weiß gekachelte, grell beleuchtete Damentoilette des Konservatoriums, öffnet die Tür ihrer Kabine und zieht sie auf den Boden. Erstaunt lässt sie es mit sich geschehen, aber nach einer Minute hat sie sich wieder unter Kontrolle, stößt ihn weg und erhebt sich. Auch er steht auf. Mit der Hand umfasst sie seinen Penis, aber immer wenn er sie küssen oder umarmen möchte, wehrt sie ihn ab. Kurz bevor er zum Orgasmus kommt, lässt sie ihn plötzlich stehen und wäscht sich die Hände. Walter fleht sie an, weiterzumachen, aber sie weigert sich, ihn noch einmal anzufassen und verbietet ihm, sich ihr zu nähern. Umdrehen darf er sich auch nicht, denn sie will seinen erigierten Penis betrachten. Erst nach einiger Zeit erlaubt sie ihm, seine Hose zu schließen. Weitere Befehle werde er mündlich, per Telefon oder schriftlich von ihr erhalten.
Obwohl Walter sie ehrlich liebt und aus ihrer Isolation befreien könnte, lässt sie sich nicht darauf ein, sondern versucht auch ihm gegenüber ihre Unberührbarkeit und Überlegenheit zu bewahren – nach dem von Karl Kraus formulierten Motto: „Mit ihm schlafen? Ja, aber bloß keine Intimitäten!“ Nie könnte sie sich einem Mann unterordnen.
Während einer Klavierstunde übergibt sie Walter ein zugeklebtes Kuvert, das er in ihrem Beisein nicht öffnen darf. Ohne den Brief gelesen zu haben, wartet er am späten Abend vor ihrer Wohnung auf sie. Erika erklärt ihrer Mutter, sie müsse mit ihrem Schüler noch etwas besprechen, geht mit ihm in ihr Zimmer, ohne sich um den Protest der Mutter zu kümmern und hilft ihm, einen Schrank vor die Tür zu schieben. Wieder verweigert sie sich seinen Liebkosungen und besteht darauf, dass er ihren Brief an Ort und Stelle liest. Zuerst ist Walter amüsiert: Haben sie sich eigens verbarrikadiert, damit er einen seitenlangen Brief liest? Das Papier enthält detaillierte Anweisungen für ihre Fesselung und Züchtigung; es ist die Partitur einer Masochistin. Wie ein Kind sein Spielzeug herzeigt, breitet sie vor ihm die erforderlichen Utensilien aus. Beim Lesen weichen Walters Liebe und das sexuelle Begehren seinem Ekel vor der Perversität im Inneren der nach außen hin so beherrscht wirkenden Frau. Angewidert rät er ihr, zum Arzt zu gehen und verlässt die Wohnung.
In der folgenden Nacht kehrt er zurück und verlangt entschlossen Einlass. Erika öffnet die Wohnungstür. Die Mutter greift zum Telefon, um die Polizei zu rufen. Walter packt sie, wirft sie ins Wohnzimmer und schließt die Tür hinter ihr ab. Mit sadistischer Lust ohrfeigt er Erika, und als sie zu Boden sinkt, tritt er auf sie ein. Mit ihrem Nachthemd wischt sie sich das Blut aus dem Gesicht. Dabei sieht er ihren Körper. Er äußert sich abfällig darüber, fällt jedoch über sie her und vergewaltigt sie, während sie teilnahmslos am Boden liegt. Nachdem er gegangen ist, befreit Erika ihre eingesperrte Mutter.
Für den nächsten Tag steht ein Konzert auf dem Programm. Ursprünglich sollte Anna Schober einen jungen Baritonsänger am Klavier begleiten, da sie jedoch mit ihrer verletzten Hand nicht spielen kann, hat der Direktor des Konservatoriums Erika Kohut gebeten, für ihre Schülerin einzuspringen. Erika packt ein Küchenmesser in ihre Handtasche, bevor sie mit ihrer Mutter zum Taxi geht.
Während die Mutter ihren Platz sucht, wartet Erika im Foyer auf Walter. Er eilt in Begleitung einiger Damen an ihr vorbei und beachtet sie kaum. Erika wird bewusst, dass er sich durch die Vergewaltigung endgültig von ihr befreit hat. Sie verlor nicht nur seine Liebe, sondern auch ihre Herrschaft über ihn und wird ihn auch nicht töten. Zornig sticht sie sich das Messer oberhalb der linken Brust durch die weiße Seidenbluse ins Fleisch und verlässt langsam das Konzertgebäude.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Michael Haneke verfilmte den Roman „Die Klavierspielerin“ von Elfriede Jelinek.
Dieser Höllentrip ist das Psychogramm einer neurotischen, zerstörerischen Mutter-Tochter-Beziehung. Hinter der bürgerlichen Fassade terrorisiert und dressiert die herrschsüchtige Mutter ihre Tochter Erika und unterwirft sie ihren maßlosen Besitzansprüchen. Aufgrund der lebensverneinenden Erziehung und Sozialisation kann Erika Kohut mit anderen Menschen nur im Rahmen von Herrschaft und Unterdrückung verkehren. Unfähig, Gefühle zu zeigen, sich anderen zu öffnen oder sich für andere zu interessieren, achtet sie darauf, dass niemand ihr zu nah kommt, und sie verbirgt sich hinter der Fassade einer überlegenen Musikprofessorin. Aber die Musik bereitet ihr auch keine Freude. Der Flügel ist bezeichnenderweise ein Solisteninstrument, ein Symbol der Einsamkeit und Lebensenthaltung. In ihrer Unfähigkeit, am richtigen Leben teilzunehmen, wird Erika Kohut zur Voyeurin. Als Walter Klemmer, einer ihrer Schüler, sich in sie verliebt, achtet sie ängstlich darauf, ihre Überlegenheit zu bewahren und kann ihre sexuellen Bedürfnisse nur als Verlangen nach grausamer Bestrafung artikulieren. Weil Klemmer ihre masochistischen Vorstellungen abstoßend findet und nicht begreift, dass Erika sich in Wirklichkeit nach Liebe und Erlösung sehnt, scheitert die Beziehung tragisch, bevor sie überhaupt angefangen hat.
Die spröde, strenge, kalt-distanzierte Sprache der „Nobelpreis-Erträgerin“ Elfriede Jelinek („Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“) haben Michael Haneke (Regie, Drehbuch) und Christian Berger (Kamera) in ebenso nüchterne Bilder übertragen. Auf Musik wurde in der zweiten Hälfte des Films fast ganz verzichtet. „Michael Haneke wollte, dass die Zuschauer so peinlich berührt sind, dass sie nicht mehr auf die Leinwand schauen können“, erklärt Isabelle Huppert (zit.: „Süddeutsche Zeitung“, 22. Mai 2001). Während es Elfriede Jelinek vor allem um die Mutter-Tochter-Beziehung geht, stellt Michael Haneke das Dreieck zwischen Erika, ihrer Mutter und Walter in den Mittelpunkt und fügt eine parallele Mutter-Tochter-Beziehung hinzu.
Benoît Magimel verkörpert den unbekümmert-verliebten und dann irritieren jungen Mann sehr glaubhaft, und Isabelle Huppert besticht durch eine virtuose Zurückhaltung in Mimik und Gestik. Beiden wurde in Cannes zu Recht eine „Goldenen Palme“ verliehen.
Michael Haneke wurde am 23. März 1942 in München als Sohn des Düsseldorfer Regisseurs Fritz Haneke und der österreichischen Schauspielerin Beatrix von Degenschild geboren. In Wien studierte er Psychologie und Philosophie. Von 1967 bis 1971 arbeitete er als Redakteur und Fernsehspieldramaturg beim Südwestfunk in Baden-Baden. Dann machte er sich als Theaterregisseur einen Namen.
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2002
Textauszüge: © Rowohlt Verlag, Reinbek
Elfriede Jelinek: Die Klavierspielerin
Michael Haneke: Das Schloss
Michael Haneke: Funny Games
Michael Haneke: Code: unbekannt
Michael Haneke: Wolfzeit
Michael Haneke: Caché
Michael Haneke: Funny Games U. S.
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