Richard Yates : Cold Spring Harbor

Cold Spring Harbor
Originalausgabe: Cold Spring Harbor Delacorte Press / Seymour Lawrence 1986 Cold Spring Harbor Übersetzung: Thomas Gunkel Deutsche Verlags-Anstalt, München 2015 ISBN: 978-3-421-04610-9, 235 Seiten ISBN: 978-3-641-15963-4 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der 23-jährige Fabrikarbeiter Evan Shepard nimmt sich 1941 in Cold Spring Harbor auf Long Island vor, Maschinenbau zu studieren. Das erforderliche Geld will er von seinem Lohn zusammensparen. Trotz seiner unsicheren Zukunft und einer bereits gescheiterten ersten Ehe heiratet er ein zweites Mal und zeugt ein weiteres Kind. Aus finanziellen Gründen lässt er sich darauf ein, mit der Schwiegermutter unter einem Dach zu wohnen ...
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Kritik

"Cold Spring Harbor" dreht sich um Menschen mit Lebenslügen und falschen Hoffnungen. Richard Yates entwickelt die Handlung ohne formale Experimente: realistisch, chronologisch und stringent.
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Nach dem zweiten Nervenzusammenbruch seiner Ehefrau Grace quittiert Captain Charles Shepard seinen Militärdienst und kauft ein kleines Holzhaus am Ortsrand von Cold Spring Harbor auf Long Island. Man kennt ihn dort als höflichen Mann, der einkauft und sich um die Wäsche kümmert, weil seine Frau an Neurasthenie leidet. Hinter vorgehaltener Hand wird darüber getuschelt, dass sie alkoholkrank sei.

Evan Shepard, der 1918 geborene Sohn, sorgt für viel Ärger nicht zuletzt mit der Polizei, bis er mit 17 anfängt, sich für Autos zu begeistern und ständig an Fahrzeugen herumzuschrauben. Zwei Jahre später heiratet er Mary Donovan, die gleich zu Beginn der Liebesaffäre schwanger wurde. Die Tochter erhält den Namen Kathleen. Nach eineinhalb Ehejahren lassen Evan und Mary sich scheiden. Mary erreicht, dass ihre Eltern sich um das Kind kümmern und immatrikuliert sich an der Long Island University. Evan gibt die Zwei-Zimmer-Wohnung nahe Huntington auf und kehrt zu seinen Eltern nach Cold Spring Harbor zurück. Seinen Arbeitsplatz in einer Werkzeugmaschinenfabrik behält er.

Weil Charles Shepards Sehkraft immer stärker nachlässt, meldet er sich 1941 an einer in Manhattan neu eröffneten Klinik für Optometrie an und überredet seinen Sohn, ihn mit dem Auto nach New York zu fahren, obwohl Evan dafür einen Tag freinehmen muss. Aber Charles will die Fahrt nutzen, um in Ruhe mit seinem inzwischen 23-jährigen Sohn zu reden. Er erzählt Evan von einem Ehepaar, mit dem er und Gloria in Fort Benning/Georgia befreundet waren: Joe und Nancy Raymond. Als Joe beschloss, aus dem Offiziersdienst auszuscheiden, weil er darauf hoffte, in der freien Wirtschaft mehr verdienen zu können, forderte er seinen Freund auf, es auch zu tun. Charles kommt zum Punkt: Er gesteht seinem Sohn, dass ihm damals der Mut gefehlt habe und fügt hinzu:

„Damit will ich sagen, dass du, wenn möglich, etwas mehr wie Joe Raymond sein solltest und etwas weniger wie ich.“

Evan beruhigt seinen Vater und sagt, er habe vor, aufs College zu gehen und Maschinenbau zu studieren. Ohne Highschool-Abschluss ist das allerdings nicht ohne weiteres möglich. Außerdem muss Evan sich erst das erforderliche Geld zusammensparen, denn sein von einer kleinen Pension lebender Vater kann ihn finanziell nicht groß unterstützen.

Bevor die beiden Männer weiter darüber reden können, bleiben sie mit einer Motorpanne in Queens liegen. Um eine Werkstatt anrufen zu können, drücken sie am Eingang eines Apartmenthauses auf irgendeine Klingel. In der Wohnung der schätzungsweise 50 Jahre alten Frau, die ihnen öffnet, riecht es nach Katzenkot, Essen und Kosmetikcreme. Evan telefoniert mit einer Werkstatt, aber es wird eine Weile dauern, bis jemand vorbeikommt, um nach dem Wagen zu sehen. Gloria Drake freut sich über die Abwechslung und nutzt die Gelegenheit, endlich mal wieder Zuhörer zu haben. Schließlich kommen auch die Kinder der geschiedenen Frau: Rachel ist 19 Jahre alt, ihr Bruder Philip („Phil“) vier Jahre jünger.

Der Automechaniker kann nur noch feststellen, dass Charles‘ altes Auto nicht mehr zu reparieren ist. Die beiden Männer müssen mit dem Zug nach Hause fahren. Den Termin in der Klinik haben sie ohnehin verpasst.

Ein paar Tage später kauft Evan ein billiges, neun Jahre altes Auto und verabredet sich dann mit Rachel Drake. Beim Essen in einem Restaurant klärt er sie darüber auf, dass er bereits geschieden ist und eine sechsjährige Tochter hat. Das hindert Rachel nicht daran, sich auf eine Liebesbeziehung mit Evan einzulassen.

Bei der Hochzeit in Cold Spring Harbor lässt Rachel sich von ihrem Vater Curtis Drake zum Altar führen. Charles Shepard entschuldigt seine Frau: Grace könne aus gesundheitlichen Gründen nicht zur Hochzeitsfeier kommen.

Auf der Rückfahrt im Zug nach New York wird Gloria Drake bewusst, dass sie nun allein ist. Ihre Tochter wird mit Evan Shepard in Amityville auf Long Island leben, und Phil wohnt inzwischen in einem Internat.

Nach dem Angriff der Japaner auf Pearl Harbor am 7. Dezember 1941 leidet Charles Shepard darunter, dass er wegen seiner Augen nicht mehr zum Kriegsdienst geeignet ist. Umso mehr hofft er, dass Evan sich zur Armee melden und durch Tapferkeit auszeichnen werde. Evan klärt seinen Vater jedoch darüber auf, dass Rachel schwanger ist. Er wolle deshalb erst einmal abwarten, sagt er. Im März 1942 muss er zur Musterung. Rachel ist froh, dass er wegen einer Trommelfellperforation als untauglich eingestuft wird.

Gloria Drake findet in Cold Spring Harbor ein zwar schäbiges und feuchtes, aber preisgünstiges Haus und überredet Rachel und Evan, dort mit ihr zusammen zu wohnen. Evan findet es zwar belastend, keine Privatsphäre zu haben und zu Hause das ständige Geplapper seiner Schwiegermutter ertragen zu müssen, aber die Lösung soll es ihm ermöglichen, das Geld fürs Studium zusammenzusparen.

Während Phil die Sommerferien in Cold Spring Harbor verbringt, trifft er überraschend Gerard („Flash“) Ferris, einen zwei Jahre jüngeren Mitschüler, den er eigentlich meidet, weil Flash als Außenseiter gilt und in der Schule gehänselt wird. Flash wuchs bei seiner Großmutter Harriet Talmage in Cold Spring Harbor auf, einer reichen Witwe, deren in New York lebende Tochter Jane Ferris von Anfang an keine Lust hatte, sich um ihren Sohn zu kümmern. Harriet Talmage hält es für einen Segen, dass ihr Ehemann John nicht mehr mit ansehen musste, was aus Jane wurde.

Harriet hatte sich längst damit abgefunden, dass es vieles gab, das sie nie verstehen würde. Sie würde nicht lang genug leben, um die Gewöhnlichkeit und Vulgarität zu verstehen, die heutzutage jeglichen Anstand auf der Welt zunichtemachte, und würde ohne Hoffnung auf eine Erklärung für das Leben ihrer Tochter sterben. Drei kümmerliche, gescheiterte Ehen, das einzige Kind als Säugling Harriets Obhut überlassen, und jetzt diese verwirrende Parade von „Freunden“.

Dass Phil sich kein Fahrrad leisten kann, ist für den in einem Haus mit Dienstboten aufgewachsenen Flash unvorstellbar, und als Phil dann auch noch als Parkplatzwächter eines Restaurants zu jobben anfängt, um in den Ferien ein paar Dollar zu verdienen, wundert er sich noch mehr.

An einigen Samstagen darf Evan Shepard seine inzwischen sieben Jahre alte Tochter Kathleen bei deren Großeltern abholen und ein paar Stunden mit ihr verbringen. Kathleen erzählt ihm, dass ihre Mutter eine neue Anstellung als stellvertretende Nachtmanagerin einer früheren Eisdiele hat, die inzwischen auch Fast Food anbietet. Nachdem er Kathleen nach Hause gebracht hat, überrascht er Mary mit einem Besuch im Büro. Er muss eine Stunde warten, bis er mit ihr zu einer Bar fahren kann. Als sie sich nach Rachel erkundigt, sagt er:

„Sie gleicht einem kleinen Mädchen … ist ein kleines Mädchen. Ich meine, es war alles okay, als wir in Amityville unsere eigene Wohnung hatten; damals ging es uns gut, aber jetzt wohnen wir mit ihrer verrückten alten Mutter und ihrem beschissenen kleinen … Hör zu, Mary, ich möchte jetzt wirklich nicht darauf eingehen, ist das okay?“

Nach ein paar Drinks nimmt Mary ihren Ex-Mann mit in die Wohnung und schläft mit ihm. Zum Abschied fragt er:

„Ist es okay, wenn ich mal wieder vorbeikomme? Ich meine, wenn ich vorher anrufe?“
Es dauerte etwas zu lange, bis ihre Antwort kam. „Schätze schon, klar“, sagte sie schließlich, „solange es nicht zur Gewohnheit wird.“

Die hochschwangere Rachel, die nichts von der Affäre ihres Mannes mit seiner Ex-Frau ahnt, erträgt den gemeinsamen Haushalt mit ihrer Mutter kaum noch. Da passt es gut, dass Evan, der von Anfang an nicht mit seiner Schwiegermutter unter einem Dach wohnen wollte, die Mietwohnung seines Kollegen Frank Brogan angeboten wird, der sich zum Kriegsdienst gemeldet hat.

Im Huntington General Hospital bringt Rachel einen gesunden Jungen zur Welt: Evan Charles Shepard junior.

Als Phil zurück im Internat ist, übernimmt Evan es, Gloria den Umzug anzukündigen. Aufgewühlt kommt er zu Rachel zurück. Sie geraten in Streit, er ohrfeigt sie und fährt dann allein los, um noch etwas zu trinken und die Nacht außer Haus zu verbringen. Rachel hört die müden Schritte ihrer Mutter auf der Treppe und weiß, dass sie bald zu ihr gehen und sie trösten muss. Aber vorher stillt sie noch den Säugling.

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Der Roman „Cold Spring Harbor“ von Richard Yates dreht sich um Menschen mit Lebenslügen und falschen Hoffnungen, Väter und Söhne mit gescheiterten Lebensentwürfen und ohne Zukunftsaussichten, Mütter und Töchter mit unerfüllt bleibenden Sehnsüchten, die sich in Illusionen einrichten. Die Folgen: kaputte Beziehungen, Alkoholkrankheit

Alle Erzählungen und Romane des amerikanischen Schriftstellers Yates handeln von der Tyrannei des amerikanischen Traums. Dem Versprechen, dass jeder alles erreichen könne, misstraute Yates zutiefst. Seine Helden sind die mittelmäßig Begabten, die sich bald in den Selbstbetrug flüchten und in immer noch einen Drink, weil in der Allgegenwart der angeblich unbegrenzten Möglichkeiten die eigene Begrenztheit besonders schwer zu ertragen ist. (Claudia Voigt, „Spiegel online“, 26. Januar 2009).

Richard Yates veröffentlichte „Cold Spring Harbor“ 1986, 18 Jahre nach der sexuellen Revolution, aber die Geschichte spielt Anfang der Vierzigerjahre auf Long Island und in New York. Als auktorialer Erzähler weiß Richard Yates, was in den Köpfen der Figuren vorgeht. Er schildert es nüchtern und realistisch, melancholisch und resignierend, stringent und schnörkellos. „Cold Spring Harbor“ ist ein im guten Sinne altmodischer Roman, in dem sich die Handlung chronologisch und ohne stilistische Experimente entwickelt.

Richard Yates hat „Cold Spring Harbor“ seinem Freund und Kollegen Kurt Vonnegut jr. (1922 – 2007) gewidmet.

Richard Yates wurde am 3. Februar 1926 in Yonkers/New York geboren. Als er drei Jahre alt war, ließen die Eltern sich scheiden. Nach seinem Einsatz im Zweiten Weltkrieg schlug er sich als Journalist, Ghostwriter und Lehrer durch. 1961 veröffentlichte Richard Yates seinen Debütroman „Revolutionary Road“, der von Sam Mendes verfilmt wurde („Zeiten des Aufruhrs“). Er war alkoholkrank und starb am 7. November 1992 in Birmingham/Alabama im Alter von 66 Jahren. Seine Bedeutung als Schriftsteller erkannte man erst nach seinem Tod, nicht zuletzt aufgrund eines Beitrags des Schriftstellers Stewart O’Nan in der „Boston Review“ („The Lost World of Richard Yates“, Oktober/November 1999), dessen deutsche Übersetzung in der Literaturzeitschrift „Krachkultur“ erschien („Die verlorene Welt des Richard Yates. Wie der große Schriftsteller des Zeitalters der Angst aus dem Buchhandel verschwand“, Oktober 2004). Inzwischen gilt Richard Yates als einer der wichtigsten amerikanischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Die Deutsche Verlags-Anstalt hat seine Werke ins Deutsche übersetzen lassen.

Richard Yates: Bibliografie (Auswahl)

  • Eleven Kinds of Loneliness (Kurzgeschichten, 1957; Elf Arten der Einsamkeit, 2006)
  • Revolutionary Road (1961; Das Jahr der leeren Träume, 1975 / Zeiten des Aufruhrs, 2002)
  • A Special Providence (1969; Eine besondere Vorsehung, 2008)
  • Disturbing the Peace (1975; Ruhestörung, 2010)
  • The Easter Parade (1976; Easter Parade, 2007)
  • A Good School (1978; Eine gute Schule, 2012)
  • Liars in Love (1981; Verliebte Lügner, 2007)
  • Young Hearts Crying (1984; Eine strahlende Zukunft, 2014)
  • Cold Spring Harbor (1986; Cold Spring Harbor, 2015)

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2015
Textauszüge: © Deutsche Verlags-Anstalt

Richard Yates: Zeiten des Aufruhrs (Verfilmung)

Inger-Maria Mahlke - Rechnung offen
Inger-Maria Mahlke entwickelt das Geschehen in "Rechnung offen" im ständigen Wechsel zwischen den Romanfiguren. Sie versucht nicht, den inneren Beweggründen der Charaktere nachzuspüren, sondern beschränkt sich bewusst auf das von außen Sichtbare und beobachtet den Mikrokosmos dabei ebenso genau wie scheinbar gefühllos.
Rechnung offen