Johanna Wohlgemuth : Frau Schnieder kehrt heim

Frau Schnieder kehrt heim
Frau Schnieder kehrt heim Originalausgabe: Gorilla Verlag (Laura Bruning), Bielefeld 2017 ISBN: 978-3-9816897-1-6, 124 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Nach mehr als zweieinhalb Jahren wird Frau Schnieder im Frühjahr 1932 aus einer Nerven­heil­anstalt entlassen. Man hat ihr nicht nur eine Wohnung, sondern auch Arbeit besorgt. Am ersten Abend begegnet sie einem bettelnden Kriegsveteran. Weil sie ihm kein Geld geben kann, nimmt sie ihn mit in die Wohnung, um Brot und Margarine mit ihm zu teilen. Die Vermieterin be­schwert sich sogleich über den Männer­besuch. Und damit beginnen Frau Schnieders Probleme erst ...
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Kritik

Johanna Wohlgemuth erzählt die ebenso realistische wie bedrückende Geschichte in "Frau Schnieder kehrt heim" mit großer Empathie, aber nüchtern und schnörkellos aus der Perspektive der Protagonistin.
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Im Frühjahr 1932 wird Maren Schnieder aus einer Nervenheilanstalt in einer deutschen Stadt entlassen. Dr. Fering hat für sie nicht nur eine Wohnung, sondern auch einen Arbeitsplatz in einem Laden gefunden.

Warum Frau Schnieder vor mehr als zweieinhalb Jahren in psychiatrische Behandlung kam, wird nur angedeutet. Gewiss hat es damit zu tun, dass ihr Ehemann Eduard nicht aus dem Ersten Weltkrieg zurückkam. Lange Zeit glaubte sie, er sei gefallen, aber dann schickte er eine nur an den Sohn Josef adressierte Karte aus Frankreich. Vor dem Krieg waren sie 22 Jahre lang verheiratet gewesen. Dass er am Ende nicht einmal einen Gruß, geschweige denn eine Erklärung für sie übrig hatte, verletzte Maren Schnieder sehr. Josef, der wie sein Vater im Krieg gewesen war, kam zwar zur Mutter zurück, war jedoch psychisch zerrüttet. Er sprach kaum noch ein Wort, schluchzte nachts und saß apathisch herum – bis er sich ertränkte.

Damals schlug Frau Schnieder sich mit Näharbeiten durch, aber die Zahl der Aufträge ging immer stärker zurück. Durch Inflation und Arbeitslosigkeit hatten die Leute kein Geld mehr. Vielleicht war man auch mit Frau Schnieders Arbeit unzufrieden.

Schließlich ging es von Tag zu Tag schlechter. Das mit dem Staubwischen ließ sie und auch das mit dem Einkaufen. Irgendwann sogar noch das mit dem Essen. Nichts hat sie mehr getan. Es ist ihr vorgekommen, wie eine Ewigkeit aus Nichtstun.
Nur Gott sei Dank hatte sie neben dem Vermieter, der pünktlich sein Geld wollte und dann noch fast die Polizei gerufen hat – Storch hieß der, fällt ihr ein – auch Nachbarn, die sich gekümmert haben. Die Nachbarn – zumindest glaubt sie mal, dass die es warn […] – haben dann die Herren Doktoren geholt oder wenigstens, sie als geisteskrank angezeigt. Dann wurde ihr alles weggenommen, sie durfte nichts mehr selber tun und hat auch lauthals rebelliert, als die sie aus der Wohnung gezerrt haben […].

Die Vermieterin heißt Hannelore Piberg. Wie von Dr. Fering erbeten, hat sie Brot und Margarine für die neue Mitbewohnerin gekauft. Allerdings geht Frau Schnieder gleich noch einmal los, weil sie ihre Zahnbürste in der Heilanstalt vergessen hat. Auf dem Weg zu einer Drogerie wird sie von einem obdachlosen Kriegsveteran angebettelt. Sie kann ihm nichts geben, denn das bisschen Geld, das ihr zur Verfügung steht, reicht gerade für die Zahnbürste. Aber auf dem Rückweg spricht sie ihn an und lädt ihn zum Mitkommen ein. In der ungeheizten Wohnung teilt Frau Schnieder Brot und Margarine mit dem höflichen Mann, der Herbert Mörnikke heißt. Nachdem er aus dem Krieg zurückgekehrt sei, habe ihn seine Frau Else verlassen, erzählt er. Wegen der Diagnose „Kriegsneurotiker“ findet er auch keine Arbeit. Nach dem Essen bringt Frau Schnieder ihren Gast zur Tür, ohne zu fragen, wo er übernachten wird, denn sie befürchtet, dass ihm das peinlich wäre.

Kaum ist er fort, beschwert sich Frau Piberg: „Kaum zwei Stunden im Haus und schon Männerbesuch!“ Diesen Sittenverfall verbittet sich die Vermieterin.

Am nächsten Morgen geht Frau Schnieder zu dem Laden, in dem sie arbeiten soll. Es ist noch geschlossen. Neugierig versucht sie durchs Schaufenster zu erkennen, welche Warengruppen angeboten werden. Da taucht die Inhaberin Beate Retternich auf und schimpft: „Dass Se hier die Scheibe betatschn, gehört sich im Übrign gar nich.“ Frau Schnieder muss als Erstes gleich das Schaufenster putzen. Nicht weniger grob verhält sich „Frollein“ Retternich gegenüber Erika Bruthe, der anderen Mitarbeiterin.

Erika Bruthe eilt in jeder Mittagspause nach Hause, um ihre neunjährige Tochter Lotte und ihren Ehemann Martin zu versorgen. Martin Bruthe hat keine Lust, sich nach Arbeit umzusehen, aber seine Frau füttert ihn durch, damit das Kind einen Vater hat.

Um ihre Wohnung heizen zu können, nimmt Frau Schnieder sich vor, abends auf dem Heimweg Kohle zu besorgen. In dem Geschäft entdeckt sie jedoch einen Bilderrahmen. Den kauft sie statt des Brennmaterials, um endlich das einzige Foto, das ihr von Josef geblieben ist, rahmen zu können. Mit dem restlichen Geld könnte sie zwar noch ein paar Kohlen bezahlen, aber sie beschließt spontan, es für einen Kinobesuch mit Herbert Mörnikke auszugeben. Der Obdachlose erzählte ihr, dass er ebenso wie sie noch nie einen Film gesehen habe und das sehr bedaure. Sie sucht ihn, und sie sehen sich „Shanghai Express“ mit Marlene Dietrich an. Was für ein schöner Abend! Herbert Mörnikke bringt Maren Schnieder dankbar nach Hause.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


An einem der nächsten Tage hört sie im Laden seine Stimme. Er bettelt höflich, aber Beate Retternich schreit:

Raus hier, so dreckiges Gelump will ich nich daham, das verscheucht noch jedn Kundn. Die beklopptn Angestelln machns mir schon schwer genuch, kann mir keiner sagn, dass ich nich hilfsbereit wäre. Und jetzt soll ich noch was verschenkn. Haun Se ab, aber flott, sonst ruf ich die Polizei und dann könn Sie sehn, wo Se bleibn.

Als die Inhaberin mit einem Besen auf den um Entschuldigung Bittenden losgeht, schubst Maren Schnieder sie. Die überraschte Geschäftsfrau fällt hin – und wirft auch gleich die Mitarbeiterin mit hinaus.

Herbert Mörnikke ist der Vorfall äußerst peinlich und fühlt sich schuldig, weil Maren Schnieder nun arbeitslos ist. Aber sie erklärt ihm, es sei ihre Entscheidung gewesen, sich so zu verhalten. Woher soll sie nun allerdings die am nächsten Tag fälligen 6 Mark für die erste Wochenmiete nehmen? Da weiß Herbert Mörnikke Rat: Er geht am nächsten Morgen mit Maren Schnieder zum Arbeitsamt, und sie stellen sich in die lange Schlange vor dem Gebäude. Als einer der Wartenden zu Boden sinkt, eilt jemand von weiter hinten zu ihm. Andere unterstellen ihm, er wolle sich unter dem Vorwand der Hilfeleistung vordrängen, und es kommt zu einer Prügelei. Bevor die Polizei eintrifft, zieht Herbert Mörnikke Maren Schnieder weg und führt sie zu einer anderen Dienststelle des Arbeitsamts. Aber die ist bereits „wegen Unruhen“ geschlossen.

Es ist Samstag. Weil Maren Schnieder nur über 4.34 Mark verfügt und vor Montag kein Geld vom Arbeitsamt bekommen wird, bleibt ihr nichts anderes übrig, als Frau Piberg um Aufschub zu bitten. Die Vermieterin lässt sich überraschend darauf ein, weist allerdings darauf hin, dass dann gleich zwei Wochenmieten zu bezahlen seien.

An diesem Samstag – dem sechsten Tag nach ihrer Entlassung – muss Maren Schnieder noch zu Dr. Fering. Der weiß bereits, dass sie die von ihm besorgte Arbeitsstelle verloren hat. Beate Retternich berichtete ihm, dass Maren Schnieder sie tätlich angegriffen habe, und nur mit Mühe hielt er sie von einer Anzeige ab. Hannelore Piberg teilte ihm in der ersten Wochenhälfte mit, dass die neue Mieterin eine Prostituierte sei, die ein paar Stunden nach dem Einzug ihren ersten Freier mitgebracht habe.

Frau Schnieder stellt zwar klar, wie es wirklich war, und Dr. Fering glaubt ihr, dass zwischen ihr und dem Obdachlosen nichts Unsittliches geschah, aber er lässt sie nicht wieder gehen, sondern weist sie erneut in die Heilanstalt ein. Sie kann nicht einmal Herbert Mörnikke verständigen.

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Nach Krieg und Inflation, in einer Zeit politischer und wirtschaftlicher Depression mit sechs Millionen Arbeitslosen im Deutschen Reich, haben alle ihre eigenen Schwierigkeiten. So ist es verständlich, dass Frau Schnieder mit Ausnahme eines obdachlosen Bettlers auf Menschen trifft, die nur an sich selbst denken und ihr nicht beistehen.

Johanna Wohlgemuth entwickelt die an sechs Tagen im Frühjahr 1932 spielende Handlung konsequent aus der Perspektive der Protagonistin, allerdings nicht in der Ich-Form, sondern in der 3. Person Singular. Weil die Autorin mit großem Einfühlvermögen schildert, was Frau Schnieder erlebt, können wir beim Lesen gut nachvollziehen, wie sich die Hauptfigur verhält. Die Nebenfiguren sind pointiert skizziert.

Johanna Wohlgemuths Erzählung „Frau Schnieder kehrt heim“ erinnert thematisch und formal an Hans Falladas zur Neuen Sachlichkeit zählenden Großstadtroman „Kleiner Mann – was nun?“. Wie Hans Fallada schreibt auch Johanna Wohlgemuth im Präsens. Sprache und Darstellung sind realistisch, nüchtern und schnörkellos. Die Kapitelüberschriften in „Frau Schnieder kehrt heim“ sind bewusst altmodisch formuliert, von „Kapitel 1. Wie die Uhr dreizehn schlägt und Frau Schnieder ins echte Leben muss“ bis „Kapitel 14. Wie alles zu Ende ist und wieder von vorn beginnt“.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2017
Textauszüge: © Gorilla Verlag

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