Andrzej Szczypiorski : Die schöne Frau Seidenman

Die schöne Frau Seidenman
Originalausgabe: Poczatek Institut Littéraire, Paris 1986 Die schöne Frau Seidenman Übersetzung: Klaus Staemmler Diogenes Verlag, Zürich 1988 Süddeutsche Zeitung / Bibliothek, Band 41, München 2004 ISBN 3-937793-36-4, 219 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die 35-jährige Witwe Irma Seidenman, eine elegante, gut aussehende Blondine mit blasser Haut und blauen Augen, wird sich ihrer jüdischen Herkunft erst richtig bewusst, als die Deutschen in ihrer Heimatstadt Warschau einmarschieren. Sie verschafft sich eine nichtjüdische Identität, aber ein jüdischer Spitzel denunziert sie bei der Gestapo. Da bittet einer ihrer Nachbarn Freunde um Hilfe, die sich beherzt für Irma Seidenmans Freilassung einsetzen.
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Kritik

In 21 Episoden schildert Andrzej Szczypiorski eine Reihe von zum Teil miteinander verknüpften Schicksalen. Er porträtiert Polen, Juden und Deutsche, Täter und Opfer, unterschiedliche Charaktere und wirft dabei die Frage nach der individuellen Schuld bzw. Bewährung vor dem Hintergrund kollektiver Verbrechen auf.
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Apolinary Kujawski:

Der Warschauer Schneider Apolinary Kujawski hat keine Anstellung und verdient deshalb seinen Lebensunterhalt, indem er für die Nachbarn flickt und bügelt. Einer seiner Kunden, der Richter Romnicki, vermittelt ihm kurz vor dem Zweiten Weltkrieg ein festes Arbeitsverhältnis in der Schneiderei von Benjamin Mitelman, bei dem Romnicki seit dreißig Jahren arbeiten lässt. Kujawski zögert zuerst, dann nimmt er das Angebot an und tritt als einziger Christ in die Dienste des jüdischen Schneidermeisters. Es erwirbt das Vertrauen Mitelmans, und als dieser 1940 ins Ghetto ziehen muss, vertraut er Kujawski seinen Besitz an. Im Frühjahr 1942 stirbt Mitelman, und sein einziger Sohn, der Zahnarzt Mieczyslaw Mitelman, wird wenige Tage später auf der Straße erschossen. Kujawski bleibt mit der erfolgreich von ihm geführten Schneiderei zurück. Ein halbes Jahr nach dem Aufstand im Ghetto, im Herbst 1943, wird Kujawski festgenommen, und als er dem Gendarm erklären will, dass er für die deutschen Offiziere Uniformhosen näht, rammt dieser ihm seinen Gewehrkolben zwischen die Schulterblätter, dass ihm die Luft wegbleibt. Also fügt er sich in sein Schicksal und wird mit anderen zusammen aus irgendeinem Grund füsiliert.

Pawelek Krynski:

Pawelek Krynski besuchte Untergrundschulen. Mit dreizehn begann er, für die fünfzehn Jahre ältere Nachbarin Irma Seidenman zu schwärmen. Seit sein Vater in deutsche Kriegsgefangenschaft geriet, lebt Pawelek mit seiner Mutter Elzbieta allein in einer Mietwohnung. Im Spätherbst 1942 verliebt sich der Achtzehnjährige in die gleichaltrige Kommilitonin Monika, die ebenfalls die Untergrund-Universität in Warschau besucht.

Er liebte Monika, liebte aber auch Frau Irma. Das waren zwei verschiedene Lieben. Mit Monika wollte er das ganze Leben verbringen, mit Frau Irma ein paar Stunden. (Seite 15)

Henryk Fichtelbaum:

Krynskis bester Freund heißt Henryk („Henio“) Fichtelbaum. Henryks Vater, der Rechtsanwalt Jerzy Fichtelbaum, stammt aus einer orthodoxen Judenfamilie, aber nach dem Jurastudium hatte er das alte Milieu verlassen, sich von der mosaischen Religion gelöst und war nach Warschau gezogen, um eine Anwaltskanzlei zu gründen. 1940 muss die Familie Fichtelbaum die schöne Wohnung verlassen und ins Ghetto ziehen. Einige Zeit später stirbt die Mutter. 1942 flieht der achtzehnjährige Henryk aus dem Ghetto und lässt seinen Vater mit seiner kleinen Schwester Joasia zurück. Pawelek besorgt seinem Freund ein Versteck, aber der hält es in der Einsamkeit auf dem Dachboden nicht aus und irrt im Frühjahr 1943 wieder durch die Straßen von Warschau.

Nachdem Henryk Fichtelbaum sich eine Nacht lang im Plumsklo eines Warschauer Hinterhofes versteckt hat, begegnet er am frühen Morgen einer Prostituierten, die halb angezogen Wasser vom Pumpbrunnen holt. Gegen jede Vernunft läuft er nicht weg, sondern trägt ihr den vollen Eimer, und sie nimmt ihn mit in ihre Wohnung, macht ihm etwas zu essen, kocht Ersatzkaffee und lässt ihn bis zum späten Nachmittag in ihrem Bett schlafen. Nach dem Erwachen wird er von ihrem Anblick erregt. Sie leistet keinen Widerstand und hilft ihm, als sie merkt, dass es für ihn das erste Mal ist.

Nach diesem Erlebnis fühlt Henryk, dass er ein Mann geworden ist, und er beschließt, ins Ghetto zurückzukehren und sein Schicksal erhobenen Hauptes auf sich zu nehmen. Noch einmal trifft er sich mit Pawelek Krynski, um sich von seinem Freund für immer zu verabschieden.

Wiktor Suchowiak:

Im Frühjahr 1943, bevor sein Sohn ins Ghetto zurückkehrt, lässt Jerzy Fichtelbaum seine vierjährige Tochter Joasia aus dem Ghetto schmuggeln. Die Aufgabe übernimmt der Kriminelle Wiktor Suchowiak.

Zu der Zeit, von der die Rede ist, zählte Wiktor Suchowiak dreiunddreißig Jahre und kam langsam auf den Hund. Das lange Leben, das ihm bestimmt war, sollte sich als verfehlt erweisen, denn Suchowiak hatte in seiner Jugend die Karriere des Berufsbanditen gewählt, was in der Epoche der großen Totalitarismen, die ihn bis ins hohe Alter begleiten sollten, zu einem beklagenswerten Anachronismus werden musste. Die großen Totalitarismen betreiben selber das Banditentum in der Majestät des Rechts, wobei – zur Verwunderung der individuellen Profis – dieses Verfahren Hand in Hand geht mit dem Fehlen jeglicher Alternative, während doch gerade die Alternative einst das philosophische Fundament des Banditentums gewesen ist. Wiktor Suchowiak arbeitete immer nach dem Grundsatz „Geld oder Leben!“, was seinen Kontrahenden die Möglichkeit der Wahl ließ. Die Totalitarismen betreiben den Raub der Ehre, der Freiheit, des Eigentums, ja sogar des Lebens, und lassen weder den Opern noch sogar den Banditen die geringste Wahlmöglichkeit. (Seite 79)

Als Suchowiak mit Joasia auf dem Bürgersteig dahineilt, wird „der schöne Lolo“ auf sie aufmerksam. Der lebt davon, Juden alles zu rauben und sie dann der Polizei zu übergeben. Weil er auf den ersten Blick erkennt, dass Joasia ein Judenmädchen ist, hält er auch Suchowiak für einen Juden und zerrt die beiden in einen Hauseingang. Dort schlägt Suchowiak ihn jedoch zusammen und stiehlt ihm nun seinerseits das Geld aus der Brieftasche. Ein paar Minuten später klingelt er bei Elzbieta und Pawelek Krynski, die Joasia bereits erwarten.

Zwanzig Jahre später bewirbt Suchowiak sich nach einem weiteren Gefängnisaufenthalt bei einer Fabrik für Baumaterialien, wo ihm ein Bewährungshelfer einen Arbeitsplatz an der Betonmischmaschine vermittelt hat – und erkennt in dem Personalleiter den „schönen Lolo“ wieder. Mit der Drohung, andere im Unternehmen über die Vergangenheit des „schönen Lolo“ aufzuklären, erpresst Suchowiak eine schöne Summe Geld und sucht sich anderswo Arbeit. Einige Jahre später erkrankt er an Knochentuberkulose.

Schwester Weronika:

Pawelek Krynski bringt Joasia zu Richter Romnicki, der das Kind der Klosterschwester Weronika anvertraut.

Die katholische Ordensfrau hatte im Alter von sieben Jahren eine Vision: Jesus warnte das Mädchen vor dem Überschreiten einer Holzbrücke und riet ihm, stattdessen übers Eis zu laufen. In der Nacht stürzte die Brücke ein, und zwei Bauern ertranken. Zehn Jahre später trat die junge Frau in einen Orden ein, nahm den Namen Schwester Weronika an und seither widmet sie ihre ganze Kraft der missionarischen Sorge für verwaiste Kinder, wobei sie jedoch jüdischen Kindern nur widerwillig hilft, etwa wenn sie aus Artur, dem Sohn des jüdischen Zahnarztes Dr. Mieczyslaw Hirschfeld, den polnischen Tischlersohn Wladzio Gruszka macht. Der überlebt auf diese Weise den Zweiten Weltkrieg, beruft sich auf einen ebenso beeindruckenden wie erlogenen Stammbaum und behauptet, sein Vater sei ein Zahnarzt gewesen, der zum Vergnügen getischlert habe. Sein katholischer Glaubenseifer übertrifft den Schwester Weronikas bei weitem.

Joasia Fichtelbaum:

Schwester Weronika erzieht Joasia im katholischen Glauben und gibt ihr den Namen Marysia Wiewióra. Marysia will Zahnärztin werden, aber mit zwanzig ändert sie unvermittelt ihre Pläne, übersiedelt nach Israel, nennt sich dort Miriam Wewer und bewundert israelische Soldaten, die mit einem einzigen Fußtritt die Türen palästinensischer Häuser aufstoßen und verstörte Männer, kreischende Frauen und verschüchterte Kinder ins Freie zerren.

Irma Seidenman:

Irma Seidenman, die junge Witwe des 1938 an Krebs gestorbenen Röntgenologen Dr. Ignacy Seidenman, ordnet den wissenschaftlichen Nachlass ihres Mannes und beschäftigt sich eingehend mit dessen Forschungen. Sie ahnt, dass der höfliche Nachbarjunge Pawelek Krynski auf kindliche Weise in sie verliebt ist. Das Judentum assoziiert sie nur mit ihrem Großvater, der starb, als sie fünf oder sechs Jahre alt war. Doch aus Furcht vor den Nationalsozialisten verschafft sie sich eine nichtjüdische Identität als Maria Magdalena Gostomska, Witwe eines 1939 gefallenen polnischen Artillerieoffiziers, und weil es sich um eine elegante, schlanke und gut aussehende Blondine mit blasser Haut und blauen Augen handelt, wird kein Fremder in ihr eine Jüdin vermuten.

Aber der Jude Bronek Blutman, der sie von früher kennt, verrät sie und zwingt sie, mit ihm zur Gestapo zu fahren. Aufgrund der Denunziation und ihres mit den Initialen I und S gravierten Zigarettenetuis sperrt Sturmführer Stuckler sie ein.

Der Rickschafahrer, der sie und Blutman zur Gestapo brachte, erfüllt ihre Bitte und verständigt ihren Nachbarn Dr. Adam Korda. Korda, der Sohn eines Knechts, war im Alter von zehn Jahren von zu Hause fortgelaufen, hatte sich mit Gelegenheitsarbeiten durchgeschlagen, in Schlafstellen gewohnt, ein Gymnasium besucht und wegen seiner außergewöhnlichen Begabung einen kostenlosen Studienplatz erhalten. Er promovierte in klassischer Philologie. Sobald Dr. Korda erfährt, dass seine Nachbarin Irma Seidenman von der Gestapo festgenommen wurde, alarmiert er Pawelek Krynski. Der ruft den Eisenbahner Filipek an, der abends in einer Geheimdruckerei des Widerstands arbeitet. Der setzt sich mit dem deutschstämmigen Diplomingenieur Johann („Jasio“) Müller in Verbindung, einem NSDAP-Mitglied und Direktor einer großen Reparaturwerkstatt. Müller sucht den aus einer Thüringer Müllerfamilie stammenden Sturmführer Stuckler auf und behauptet, bei der Festgenommenen handele es sich um eine gute Bekannte – selbstverständlich keine Jüdin! –; es müsse sich also um einen Irrtum handeln. Stuckler lässt „Maria Magdalena Gostomska“ holen, und Müller hofft inständig, dass sie unverfänglich reagieren wird, wenn er sie wie eine alte Bekannte begrüßt. Irma improvisiert die ihr zugedachte Rolle überzeugend, und Stuckler lässt sie frei. In einem nahen Café erläutert Müller ihr, er habe auf eine typische deutsche Eigenschaft gesetzt:

„Stuckler ist Deutscher, und die Deutschen sind gradlinig […] ohne Fantasie, ohne Heuchelei, ohne Unaufrichtigkeit. Man hat Stuckler befohlen, die Juden auszurotten, also tut er’s […] Disziplin, Genauigkeit, Redlichkeit bei jeder Arbeit. Bei der verbrecherischen leider auch!“ (Seite 114)

Irma begreift, dass ihre Rettung „das Ergebnis von Bemühungen und Ängsten vieler Menschen“ war.

Mein Gott, dachte sie, ich habe geglaubt, eine einsame, ungeliebte Frau zu sein. Ich habe mich geirrt. Ich bin nicht allein. Hier ist niemand allein. (Seite 194)

Am frühen Morgen nach ihrer Rückkehr in die Wohnung klingelt Dr. Korda und bringt ihr heiße Milch.

Stuckler lässt Bronek Blutman kommen und ohrfeigt den Denunzianten mehrmals, bis dieser vorgibt, sich getäuscht zu haben. Ein Jahr später wird Blutman in den Ghettoruinen erschossen.

Irma wollte nie wieder das Gebäude betreten, in dem die Gestapo sie eingesperrt hatte. Doch ausgerechnet in dem polnischen Ministerium, das nach dem Krieg dort einzieht, übernimmt sie eine leitende Funktion – bis sie im April 1968 vor den Augen ihrer Sekretärin Stefa, die wortlos ans Fenster tritt und hinausblickt, von drei Männern abgeholt wird. Semiten sind auch jetzt wieder unerwünscht. Irma emigriert nach Paris. Dort trifft sie sich in den Siebzigerjahren mit Pawelek Krynski in einem Straßencafé auf der Avenue Kléber, und er gesteht ihr: „Sie waren die Leidenschaft meiner Jugend.“ (Seite 200)

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Die entscheidenden Ereignisse finden 1942/43 in Warschau statt. In einundzwanzig unsentimentalen und trotz des ernsten Themas auch ironischen Episoden schildert Andrzej Szczypiorski eine Reihe von zum Teil miteinander verknüpften Schicksalen. Er porträtiert Polen, Juden und Deutsche, Täter und Opfer, unterschiedliche Charaktere und wirft dabei die Frage nach der individuellen Schuld bzw. Bewährung vor dem Hintergrund kollektiver Verbrechen auf. In Rückblenden skizziert Andrzej Szczypiorski die Vergangenheit der Figuren, und er erwähnt in den meisten Fällen auch, was in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg aus ihnen wird.

In Polen konnte Andrzej Szczypiorski seinen Roman „Die schöne Frau Seidenman“ wegen gesellschafts- und regimekritischer Passagen nicht veröffentlichen. Die Erstausgabe erschien deshalb 1986 unter dem Titel „Poczatek“ (Anfang) in dem polnischen Exilverlag Instytut Literacki (Institut Littéraire) in Paris.

Andrzej Szczypiorski wurde am 3. Februar 1924 in Warschau geboren. Die deutsche Sprache erlernte er nach dem Scheitern des Warschauer Aufstands im Konzentrationslager Sachsenhausen. In der Nachkriegszeit studierte er Politik und wurde Journalist. 1958 bis 1960 vertrat er Polen als Kulturattaché in Kopenhagen. Während seine kritischen Texte im polnischen Untergrund kursierten, verdiente Andrzej Szczypiorski seinen Lebensunterhalt mit politisch unverdächtigen Jugendbüchern und Kriminalromanen, die er unter Pseudonymen wie „Maurice S. Andrews“ veröffentlichte. Weil er 1981 einen verbotenen Kulturkongress organisiert hatte, musste er für mehrere Monate ins Gefängnis. Zehn Jahre später wurde er bei den ersten freien Parlamentswahlen in Polen nach dem Zweiten Weltkrieg für die „Solidarnosc“ zum Senator gewählt.

Nachdem Andrzej Szczypiorski bereits 1971 mit dem Roman „Eine Messe für die Stadt Arras“ international beachtet worden war, gelang ihm 1986 mit „Die schöne Frau Seidenman“ endgültig der Durchbruch.

Andrzej Szczypiorski starb am 16. Mai 2000 in Warschau.

 

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Inhaltsangabe und Rezensionr: © Dieter Wunderlich 2004
Textauszüge: © Diogenes Verlag

Andrzej Szczypiorski: Eine Messe für die Stadt Arras

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