Leonardo Sciascia : 1912 + 1

1912 + 1
Originalausgabe: "1912 + 1" Adelphi Edizioni, Mailand 1986 1912 + 1 Übersetzung: Peter O. Chotjewitz Paul Zsolnay Verlag, Wien / Darmstadt 1989 dtv, München 1991
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

"8. November 1913: Gräfin Maria Tiepolo, Gemahlin des Hauptmanns Carlo Ferruccio Oggioni, tötet den Burschen ihres Gatten, den Bersagliere Quintilio Polimanti", heißt es auf Seite 17. Die Gräfin wird verhaftet, erleidet im Gefängnis eine Fehlgeburt und muss sich im Frühjahr des folgenden Jahres vor Gericht verantworten ...
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Kritik

Die satirische Erzählung "1912 + 1" ist in das politische Geschehen unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg eingebettet und nach Leonardo Sciascias eigenen Worten "vollgestopft mit Zitaten, Verweisen und Anspielungen" (Seite 87).
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Ich weiß nicht, ob während des ganzen Jahres 1913, aber zumindest einmal schrieb D’Annunzio, als er eines seiner Bücher signierte: „1912 + 1“, weil er selber abergläubisch war, weil die Person, der er es widmete, abergläubisch war, oder beides. (Seite 7)

So lautet der erste Satz der Erzählung „1912 + 1“ von Leonardo Sciascia. Zunächst kommt er auf politische Ereignisse des Jahres 1913 in Italien zu sprechen, etwa den nach Graf Vincenzo Ottorino-Gentiloni benannten „Gentiloni-Pakt“ oder die Parlamentswahl vom 26. Oktober 1913, bei der erstmals das allgemeine Wahlrecht galt.

Aus den 3 200 000 Wählern der vorangegangenen Wahl werden 8 500 000. Ein großer Fortschritt. (Seite 11)

Dann geht es um einen Mordfall in San Remo, über den sich sofort die Zeitungen hermachten.

8. November 1913: Gräfin Maria Tiepolo, Gemahlin des Hauptmanns Carlo Ferruccio Oggioni, tötet den Burschen ihres Gatten, den Bersagliere Quintilio Polimanti. (Seite 17)

Der zweiundzwanzigjährige Bersagliere war nur zum Schlafen in die Kaserne gegangen. Tagsüber hatte er für die Familie des Hauptmanns eingekauft, die Kinder – einen neunjährigen Jungen und ein achjähriges Mädchen – zur Schule gebracht bzw. von dort abgeholt, das Tafelsilber geputzt und so weiter. In Kürze wäre er vom Wehrdienst entlassen worden.

Die des Mordes angeklagte Gräfin, eine fünfunddreißig Jahre alte attraktive Frau, war seit zwölf Jahren mit Hauptmann Carlo Ferruccio Oggioni verheiratet, der sich zur Tatzeit in einem Manöver befand.

Am 29. April 1914 begann der Prozess vor dem Schwurgericht in Oneglia. Die Angeklagte wurde von Advokat Orazio Raimondo verteidigt, einem Sozialisten, der seit ein paar Tagen Deputierter für den Wahlkreis Oneglia war und „auch schon Gelegenheit hatte, im Parlament eine ausufernde Rede zu halten“ (Seite 23).

Der Bursche habe versucht, in ihr Zimmer einzudringen und ihr Gewalt anzutun, sagte die Angeklagte aus, deshalb sei ihr nichts anderes übrig geblieben, als einen Revolver aus einer Kommodenschublade zu nehmen und auf ihn zu schießen.

Den Italienern zu berichten, dass zwischen einer schönen Frau und einem ansehnlichen Mann, die acht Monate lang unter demselben Dach und oftmals alleine waren, in Bezug auf ihre Instinkte und Gefühle nichts weiter vorgefallen sein soll als ein Schuss aus einem Revolver, den die Frau abgibt, um ihre Ehre zu retten, ist eine Zumutung und ein Widerspruch in sich. (Seite 22)

Man erzählte sich von einem inzwischen verschwundenen Medaillon des getöteten Bersagliere, das auf der einen Seite ein Bild der Gräfin, auf der anderen eine Haarlocke von ihr enthielt.

Die Haarsträhne konnte niemand abgeschnitten haben als sie selber; die Gräfin aber griff zu einer Erklärung, die niemand glaubte: dass die Haarsträhne von ihrer Tochter sei, deren Haar die gleiche Farbe habe wie das ihre. (Seite 31)

Schließlich musste sie einräumen, dass ihr der Bursche ihres Mannes nicht völlig gleichgültig gewesen war.

Die Gräfin gab zu, dem Soldaten mehr Zuneigung und Vertrauen geschenkt zu haben, als zwischen der Ehefrau eines Offiziers und seinem Burschen erlaubt und üblich war; zwischen Herrin und Diener […] (Seite 32)

Briefe der Angeklagten tauchten auf, die seltsamerweise an Dina Polimanti, die Schwester des Bersagliere, gerichtet waren. „denk an mich“, „ich küsse dich“, „ich denke an dich mit viel Gefühl“ (Seite 32), hieß es darin.

[…] man begreift nicht recht, warum die Schwester des Polimanti an sie hätte denken oder von ihr hätte bedacht werden sollen. (Seite 32)

Dass ein Bersagliere von einer umwerfenden Liebe ergriffen wird, mag durchgehen: Man weiß, wie sie sind, die Bersaglieri. Sie stürzen, auch im Gefühlsleben, auf alles los: „alla bersagliera“, tollkühn, furchtlos, im Laufschritt. Aber dass die Frau eines Hauptmanns ihm nachgeben könnte, war unzulässig. (Seite 38)

Andere Frauen – zum Beispiel die Kammerzofe Felicina Cordone – sagten aus, Quintilio Polimanti habe bei jeder Gelegenheit versucht, sie zu küssen und zu begrabschen. Schließlich drang an die Öffentlichkeit, dass die Gräfin im Gefängnis eine Fehlgeburt erlitten hatte. Sofort äußerten einige die Vermutung, das Kind sei von dem Burschen gezeugt worden.

Nichts erzeugt in einem Strafprozess soviel Ungewissheit, sät so viele Zweifel und schafft solche Konfusion wie die Gutachten. (Seite 38)

Endlich kamen die Plädoyers zum Abschluss, und die Geschworenen zogen sich zur Beratung zurück. Auf die ihnen vorgelegte Frage, ob die Angeklagte geschossen habe, um einen Angriff abzuwehren, antworteten fünf mit „ja“, vier mit „nein“, und eine Person enthielt sich der Stimme. Also durfte die Gräfin den Gerichtssaal als freier Mensch verlassen. In diesem Augenblick tauchte auch ihr bisher abwesender Ehemann auf und holte sie ab.

Bald redete niemand mehr von dem Fall, denn am 28. Juni 1914 erschoss ein serbischer Terrorist Erzherzog Franz Ferdinand und dessen Frau Sophie in Sarajewo. Das Attentat wurde zum Anlass genommen, den lang erwarteten Krieg zu beginnen, der sich zum Weltkrieg ausweitete.

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Die satirische Erzählung „1912 + 1“ ist in das politische Geschehen unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg eingebettet und nach Leonardo Sciascias eigenen Worten „vollgestopft mit Zitaten, Verweisen und Anspielungen“ (Seite 87). Dem politisch engagierten Autor geht es um eine ironische Darstellung des Gebarens vor Gericht, und er macht deutlich, dass die Gerechtigkeit dabei leicht zu kurz kommt. Der Erzähler tut so, als berichte er anhand der Akten über den Mordprozess, und er weist mehrmals auf sein unvollständiges Wissen hin („da ich nicht weiß, um was für eine Waffe es sich handelte“ – Seite 40). Das liest sich recht unterhaltsam.

Bei den Bersaglieri handelt es sich übrigens um eine italienische Elitetruppe von Scharfschützen.

Leonardo Sciascia wurde am 8. Januar 1921 in Racalmuto bei Agrigent als Bergarbeitersohn geboren. Nach einer Schneiderlehre absolvierte er eine Lehrerausbildung (1935 – 1942), arbeitete vorübergehend als Angestellter und dann von 1949 bis 1968 als Grundschullehrer. Parallel dazu betätigte er sich als Journalist. 1975 wurde er als Unabhängiger in den Stadtrat von Palermo gewählt, aber nach eineinhalb Jahren legte er sein Mandat wieder nieder, weil er mit der Kommunistischen Partei, die ihn bis dahin unterstützt hatte, in Konflikt geraten war. Als Abgeordneter der „Partito Radicale“ wurde er 1979 ins Europäische Parlament gewählt. Leonardo Sciascia starb am 20. November 1989 in Palermo.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004
Textauszüge: © Paul Zsolnay Verlag
Die Seitenangaben beziehen sich auf die Taschenbuchausgabe (dtv, München 1991)

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