Otto von Bismarck


In die Verhandlungen des Wiener Kongresses platzte Anfang März 1815 die Nachricht, der ehemalige Kaiser Napoleon, der nach der verlorenen Völkerschlacht bei Leipzig abgedankt hatte und ins Exil nach Elba gegangen war, sei unterwegs nach Paris. Aber nach seiner Niederlage bei Waterloo (18. Juni) verbannten die Briten den Fünfundvierzigjährigen auf die Insel St. Helena im Südatlantik, und die Neuordnung Europas durch den Wiener Kongress konnte er ohnehin nicht mehr beeinflussen. Preußen erhielt nicht nur große Teile Sachsens zugesprochen, sondern auch das Rheinland und Gebiete in Westfalen. Während Preußen also die »Wacht am Rhein« übernahm und in das alte Reichsgebiet hineinwuchs, zog sich die zweite deutschsprachige Großmacht, die Habsburger Monarchie, nach Südosten zurück.

In dieser Lage wurde Otto von Bismarck am 1. April 1815 in Schönhausen bei Stendal in der Altmark geboren. Seine Eltern hatten gerade erst geheiratet, als Preußen und Sachsen am 14. Oktober 1806 bei Jena und Auerstedt von Napoleon geschlagen wurden und die Franzosen Schönhausen plünderten. Ferdinand und Wilhelmine von Bismarck (1771 – 1845, 1790 – 1839) führten keine glückliche Ehe, denn die gebildete und ehrgeizige Tochter des preußischen Kabinettsrats Anastasius Ludwig Mencken (1752 – 1801) langweilte sich an der Seite des achtzehn Jahre älteren, ebenso gutmütigen wie ungehobelten Landedelmanns. Otto war das vierte ihrer sechs Kinder, von denen jedoch außer ihm nur zwei die Adoleszenz erlebten: sein fünf Jahre älterer Bruder Bernhard und seine zwölf Jahre jüngere Schwester Malwine.

Als Kind konnte Otto von Bismarck auf dem Gut Kniephof in Pommern herumtollen, das sein Vater 1816 zusätzlich zum Schloss Schönhausen erworben hatte. Um so schlimmer empfand er die Veränderung, als ihn die Eltern im Alter von sechs Jahren in der Plamannschen Erziehungsanstalt in Berlin einschulten. 1827 kam er aufs Gymasium und zog zu seinem Bruder Bernhard in eine von den Eltern zur Verfügung gestellte Wohnung in Berlin, in der die beiden Schüler von einer Haushälterin versorgt wurden.

Nach dem Abitur im traditionsreichen Gymnasium zum Grauen Kloster immatrikulierte Otto von Bismarck sich am 10. Mai 1832 in der juristischen Fakultät der Georgia-Augusta-Universität Göttingen. Zweieinhalb Wochen später trafen sich Tausende in der Ruine des 1688 von den Franzosen zerstörten Hambacher Schlosses bei Neustadt an der Weinstraße, um für demokratische Reformen und die Herstellung der nationalen Einheit zu demonstrieren. Ein Jahr später, am 3. April 1833, stürmten Burschenschaftler und junge Handwerker die Hauptwache in Frankfurt am Main, aber dieser Aufstand gegen die Restauration wurde rasch niedergeschlagen. Otto von Bismarck waren solche »tumultuarischen Eingriffe in die staatliche Ordnung« zuwider. Statt sich daran zu beteiligten, pflegte er als Korpsstudent die Pose des aufschneiderischen Draufgängers und rühmte sich später, in drei Semestern 28 Mensuren geschlagen zu haben. Im November 1833 wechselte der Achtzehnjährige nach Berlin. Dort bestand er am 20. Mai 1835 das erste juristische Staatsexamen.

Als Referendar ging Otto von Bismarck 1836 nach Aachen, wo er sich im August in Laura Russell verliebte, die Nichte des Herzogs von Cumberland. Nach einem amourösen Abenteuer mit einer sechsunddreißigjährigen Französin reiste er im Sommer 1837 mit der siebzehnjährigen Engländerin Isabella Loraine-Smith, einer Freundin Laura Russells, durch Deutschland – und verlor wegen der mehrwöchigen Überschreitung eines vierzehntägigen Urlaubs sein Referendariat. Um Frauen zu imponieren, gab Otto von Bismarck weit mehr Geld aus, als ihm zur Verfügung stand, und als er sein Glück in Spielkasinos versuchte, vergrößerte er bloß den Schuldenberg.

Als seine Mutter am 1. Januar 1839 im Alter von 48 Jahren einem Krebsleiden erlag, gab Otto von Bismarck den Versuch auf, die Referendarausbildung abzuschließen und übernahm stattdessen die Verwaltung der Familiengüter Kniephof, Külz und Jarchelin im Pommern.

Durch Moritz von Blankenburg, einen Schulfreund aus Berlin, kam Otto von Bismarck in Kontakt mit einem Kreis von Pietisten in Pommern, zu dem auch Adolf von Thadden-Trieglaff gehörte, mit dessen Tochter Moritz von Blankenburg verlobt war. Marie von Thadden und Otto von Bismarck fühlten sich als verwandte Seelen, aber für die junge Frau kam die Auflösung ihrer Verlobung nicht in Frage: Im Oktober 1844 heiratete sie ihren Bräutigam. Bei der Hochzeitsfeier wählte sie ihre zwanzigjährige Freundin Johanna von Puttkamer (1824 – 1894) als Tischdame für Otto von Bismarck, und im Sommer 1846 reisten das Ehepaar von Blankenburg, Otto von Bismarck und Johanna von Puttkamer gemeinsam in den Harz. Aber erst nach dem unerwarteten Tod Maries am 10. November 1846 hielt Otto von Bismarck in einem Brief an Johannas Vater um derenHand an, und als der Gutsbesitzer Heinrich von Puttkamer hinhaltend antwortete, reiste Bismarck kurzerhand nach Reinfeld bei Rummelsburg in Hinterpommern – und überzeugte die Eltern Johannas im persönlichen Gespräch. Am 28. Juli 1847 fand die Hochzeit statt. Das Ehepaar richtete sich im Schloss Schönhausen ein, das Otto von Bismarck seit dem Tod seines Vaters am 22. November 1845 bewirtschaftete. Es wurde eine glückliche Ehe, nicht zuletzt, weil Johanna ganz für ihren Mann und die drei Kinder – Marie (1848 – 1926), Herbert (1849 – 1904) und Wilhelm (1852 – 1901) – da war.

Durch den Pietistenkreis hatte Otto von Bismarck auch einige Politiker kennen gelernt, darunter Ludwig von Gerlach, den Präsidenten des Appellationsgerichts in Magdeburg, und dessen älteren Bruder Leopold, einem der engsten Berater des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. In ihnen fand er einflussreiche Förderer, als er am 8. Mai 1847 für einen erkrankten Abgeordneten in den Vereinigten Landtag Preußens nachrückte.

Im März 1848 hissten Männer aus Tangermünde in Schönhausen die schwarz-rot-goldene Fahne der Revolution. Daraufhin scharte Otto von Bismarck königtreue, mit Jagdflinten bewaffnete Bauern um sich und zeigte sich auch bereit, die Aufständischen in Berlin zu bekämpfen, aber der verantwortliche General lehnte sein Hilfsangebot ab, und König Friedrich Wilhelm IV. verneigte sich nicht nur am 21. März demonstrativ vor den »Märzgefallenen«, sondern ritt überdies am Tag darauf mit einer schwarz-rot-goldenen Armbinde durch Berlin, um sich an die Spitze der Bewegung zu stellen. Entsetzt über die Anbiederung des Königs, suchte Otto von Bismarck am 23. März 1848 dessen Schwägerin Augusta auf und versuchte, sie hinter dem Rücken ihres Ehemanns Wilhelm zu überreden, ihm bei der Niederschlagung der Revolution zu helfen. Die Prinzessin wies das Ansinnen des Intriganten entrüstet zurück.

Am 18. Mai 1848 trat in der Paulskirche in Frankfurt am Main eine Verfassunggebende Nationalversammlung zusammen, die sowohl die nationale Einheit als auch eine Liberalisierung des Staates verwirklichen sollte. Das von den Abgeordneten verabschiedete »Gesetz über die Grundrechte des deutschen Volkes« wurde zwar am 27. Dezember im Reichsgesetzblatt verkündet – aber in keinem der maßgeblichen Staaten rechtskräftig. In Preußen hatte König Friedrich Wilhelm IV. inzwischem dem Druck des konservativen Kreises um die Gebrüder Gerlach und Otto von Bismarck nachgegeben, am 5. Dezember die seit 22. Mai tagende Preußische Nationalversammlung aufgelöst und am selben Tag selbst eine Verfassung oktroyiert.

Im Frühjahr 1849 einigten sich die Abgeordneten in der Paulskirche darauf, den angestrebten deutschen Nationalstaat ohne Österreich zu bilden (kleindeutsche Lösung). Sie wählten Friedrich Wilhelm IV. zum Staatsoberhaupt und trugen ihm am 3. April die Kaiserkrone an, doch der preußische König wies den mit dem »Ludergeruch der Revolution« behafteten, »aus Dreck und Letten gebackenen […] imaginären Reif« brüsk zurück – und die Delegierten standen vor den Trümmern ihres Werkes. Die deutsche Revolution war gescheitert. »Nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden«, spottete Otto von Bismarck 1862 über das Paulskirchen-Parlament, »sondern durch Eisen und Blut.«

Nach seiner Wahl ins Preußische Abgeordnetenhaus verpachtete Otto von Bismarck das Anwesen in Schönhausen – wie er es mit dem Gut Kniephof bereits vier Jahre zuvor getan hatte – und richtete sich mit seiner Familie in einer Stadtwohnung in Berlin ein. 1851 zog er mit seiner Frau und den beiden bis dahin geborenen Kindern nach Frankfurt am Main um, wo er das preußische Königreich beim Bundestag vertrat, der Delegierten-Versammlung aller Mitglieder des auf dem Wiener Kongress gegründeten Deutschen Bundes.

Wegen eines politischen Streits lieferte Otto von Bismarck sich am 25. März 1852 auf einer Wiese in Tegel ein Pistolenduell mit dem liberalen Abgeordneten Georg Freiherr von Vincke (1811 – 1875), bei dem jedoch keiner der beiden Duellanten getroffen wurde.

Im Frühjahr 1859 wurde Otto von Bismarck als preußischer Gesandter nach St. Petersburg versetzt. Sechs Tage dauerte die beschwerliche Reise. Krank kehrte er im August nach Berlin zurück und erholte sich durch Kuren in Wiesbaden und Bad Nauheim, doch bei einem Zwischenaufenthalt während der Rückreise nach Russland zog er sich eine Lungenentzündung zu und musste von seiner Frau monatelang gepflegt werden, bis er im Juni 1860 in der Lage war, wieder seinen Dienst in St. Petersburg zu versehen.

Ende April 1862 rief man Otto von Bismarck nach Berlin zurück, aber seine Erwartung, nun zum Regierungschef ernannt zu werden, erfüllte sich nicht: König Wilhelm I. – der im Oktober 1857 für seinen nach einem Schlaganfall gelähmten Bruder die Regentschaft und nach dessen Tod am 2. Januar 1861 den preußischen Thron übernommen hatte – schickte ihn am 22. Mai erst einmal als Gesandten nach Paris.

Bei einem Kuraufenthalt im Juli 1862 in Biarritz verliebte sich der Siebenundvierzigjährige in Katharina Orloff, die 25 Jahre jüngere Gattin des russischen Gesandten in Brüssel. In Briefen schwärmte er Johanna von »Catty« vor, und statt eifersüchtig aufzubegehren zeigte seine Frau Verständnis für ihn.

Nach 25 Stunden Bahnfahrt traf Otto von Bismarck am 20. September 1862 wieder in Berlin ein und wurde zwei Tage später von König Wilhelm I. im Schloss Babelsberg empfangen. Der Monarch spielte mit dem Gedanken, zugunsten seines Sohnes zurückzutreten, weil er durch die seit Jahren anhaltenden Auseinandersetzungen mit dem Preußischen Abgeordnetenhaus über eine geplante Heeresreform zermürbt war. Otto von Bismarck drängte den König jedoch, im Amt zu bleiben und ihm die Regierung anzuvertrauen.

Entschlossen trieb Otto von Bismarck, der seit 24. September 1862 Ministerpräsident und seit 8. Oktober zugleich Außenminister war, die Heeresreform voran, und weil die liberale Opposition im Abgeordnetenhaus deshalb die Verabschiedung eines Etats verhinderte, regierte er vier Jahre lang ohne einen Haushalt, obwohl er damit gegen die Verfassung verstieß.

Möglicherweise hätte er sich nicht lange im Amt halten können, wenn ihm nicht das dänische Königshaus eine Steilvorlage geliefert hätte. Am 15. November 1863 starb der dänische König Friedrich VII., der seit 1848 in Personalunion Herzog von Schleswig, Holstein und Lauenburg war, und sein Nachfolger Christian IX. beeilte sich, eine gerade vom Reichstag in Kopenhagen verabschiedete neue Verfassung zu unterzeichnen, die auch für Schleswig gelten sollte. Dieser Bruch internationaler Vereinbarungen rief deutsche Nationalisten auf den Plan, und am 1. Februar 1864 marschierten preußisch-österreichische Truppen in Schleswig ein. Nach der auf beiden Seiten verlustreichen Einnahme der Düppeler Schanzen auf der Halbinsel Sundeved am 18. April brach der dänische Widerstand zusammen.

Zielstrebig schürte der preußische Regierungschef – seit 16. September 1865 Graf von Bismarck – die Meinungsverschiedenheiten in Fragen der gemeinsamen Verwaltung der Herzogtümer Schleswig und Holstein durch den preußischen König und den österreichischen Kaiser, bis es 1866 zum Krieg kam und der preußische Generalstabschef Helmut von Moltke die Österreicher am 3. Juli bei Königgrätz, 100 Kilometer östlich von Prag, vernichtend schlug. »Aber besiegt habe ich Alle! Alle!«, jubelte Otto von Bismarck fünf Tage später. Er behielt jedoch einen klaren Kopf und ermahnte euphorische Nationalisten zur Mäßigung, um nicht England und Frankreich herauszufordern. So wie Bismarck seinen König in den Krieg getrieben hatte, musste er ihn nun wieder herauszerren.

Um den Krieg zu verhindern, hatte der zweiundzwanzigjährige Student Ferdinand Cohen-Blind aus Tübingen am 7. Mai 1866 Unter den Linden fünfmal auf Otto von Bismarck geschossen, aber der preußische Ministerpräsident war dank seiner dicken Bekleidung nur durch einen Streifschuss am Arm verletzt worden. (Wenige Stunden später hatte Ferdinand Cohen-Blind sich im Gefängnis das Leben genommen.)

Im Herbst 1866 annektierte Preußen nicht nur Schleswig und Holstein, sondern auch die Staaten nördlich der Mainlinie, die Österreich-Ungarn unterstützt hatten: das Königreich Hannover, das Kurfürstentum Hessen-Kassel, das Herzogtum Nassau und die Freie Stadt Frankfurt am Main. Unter preußischer Führung wurde der Norddeutsche Bund gegründet. Otto von Bismarck arbeitete persönlich eine Verfassung aus, die am 1. Juli 1867 in Kraft trat. Während das Amt des Bundespräsidenten vom preußischen König bekleidet wurde, übernahm Otto von Bismarck zusätzlich zur preußischen Regierung die Aufgaben des Bundeskanzlers. Das Parlament des Norddeutschen Bundes bestand aus zwei Kammern, dem vom Volk gewählten Reichstag und dem Bundesrat, in dem Preußen 17 von 43 Delegierte stellte und der Bundeskanzler den Vorsitz führte.

Von einer Dotation des preußischen Landtags für seine Verdienste kaufte Otto von Bismarck 1867 das Rittergut Varzin 30 Kilometer östlich von Köslin in Hinterpommern. Später ließ er in der Nähe eine Papiermühle errichten, die sich zu einem der bedeutendsten Betriebe in der Region entwickelte.

War es Otto von Bismarck bis 1866 darum gegangen, die Macht Preußens zu vergrößern, erstrebte er nun den Ausbau des Norddeutschen Bundes zu einem kleindeutschen Nationalstaat. Doch wie sollte er die Bedenken überwinden, die es besonders in den süddeutschen Territorien gegen diesen Plan gab?

Da kam ihm die Krise um die spanische Thronfolge gerade recht. Königin Isabella II. von Bourbon (1830 – 1904) wurde am 30. September 1868 gestürzt, und die Cortes boten den verwaisten Thron Leopold Prinz von Hohenzollern-Sigmaringen (1835 – 1905) an. Otto von Bismarck drängte Leopold, das Angebot offiziell anzunehmen. Die Nachricht schlug am 2. Juli 1870 wie eine Bombe ein. Die französische Regierung wollte unter allen Umständen verhindern, dass sich ein Verwandter des in Preußen regierenden Hauses auf den spanischen Thron setzte. Karl Anton von Hohenzollern erklärte am 12. Juli 1870 den Verzicht seines Sohnes Leopold auf die Kandidatur, aber damit gab man sich in Paris nicht zufrieden. Der französische Gesandte Vincent Graf von Benedetti richtete es so ein, dass er den in Bad Ems kurenden preußischen König am 13. Juli auf der Kurpromenade traf und verlangte von ihm zusätzliche Erklärungen. Den Bericht des Geheimen Legationsrates Heinrich Abeken über die Vorgänge in Bad Ems erhielt Otto von Bismarck am selben Abend in Berlin. Sogleich setzte er sich hin und spitzte den Text so zu, dass ein unbefangener Leser den Eindruck gewinnen musste, der französische Botschafter habe dem preußischen König in ungebührlicher Weise unverschämte Forderungen gestellt. Dann ließ Bismarck die »Emser Depesche« veröffentlichen. Als König Wilhelm I. am nächsten Morgen in Bad Ems die Zeitung aufschlug, ahnte er, was das bedeutete: »Das ist Krieg!«

Napoleon III. beantwortete den Affront am 19. Juli mit einer Kriegserklärung. Damit stand er als Aggressor und Störenfried da, während sich die Deutschen um Preußen scharten. Helmuth von Moltke ließ rasch drei Armeen aufmarschieren. Am 1. September wurde eine französische Armee in der Festung Metz eingeschlossen, und die heranrückende Entsatzarmee musste am 2. September bei Sedan kapitulieren. Der französische Kaiser geriet in Kriegsgefangenschaft. »Man sollte alle Dörfer, wo Verrat vorkommt, sofort ausbrennen und alle männlichen Einwohner hängen«, meinte Otto von Bismarck am 14. Oktober, und das war keine sprachliche Entgleisung, sondern so dachte er.

Während Paris noch belagert wurde, verhandelte Otto von Bismarck bereits mit den süddeutschen Staaten über die Gründung eines Nationalstaats. Die Großherzogtümer Baden und Hessen-Darmstadt sowie das Königreich Württemberg ließen sich im November 1870 in den Norddeutschen Bund aufnehmen. Der Wittelsbacher Ludwig II. spielte erst mit, als Bismarck dem bayerischen König mit wirtschaftlichen Sanktionen drohte, ihm zugleich Sonderrechte in Aussicht stellte und ihn mit Geld aus dem 1868 beschlagnahmten Privatvermögen des abgesetzten Königs Georg V. von Hannover (»Welfenfonds«) bestach. Am 30. November schlug König Ludwig II. in einem von Bismarck heimlich aufgesetzten Schreiben vor, Wilhelm I. zum Kaiser zu proklamieren. Der Staatsakt der deutschen Fürsten fand am 18. Januar 1871, dem 170. Jahrestag der Königskrönung Friedrichs I., im Spiegelsaal des Versailler Schlosses statt, der während des Deutsch-Französischen Krieges als Lazarett benutzt und eigens für die Zeremonie ausgeräumt wurde. Großherzog Friedrich I. von Baden umging die strittige Frage, ob ein »Deutscher Kaiser« oder ein »Kaiser von Deutschland« ausgerufen werden sollte, indem er die Hochrufe einfach auf »Kaiser Wilhelm« ausbrachte.

Zehn Tage später kapitulierte das seit 19. September 1870 belagerte Paris, und die Kriegsparteien schlossen einen Waffenstillstand, dem am 10. Mai ein Friedensvertrag folgte.

Mit dem 1806 von Napoleon beseitigten Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation hatte die Staatsgründung nichts zu tun. Die föderative Verfassung des Deutschen Reiches, die am 16. April 1871 in Kraft trat, entsprach großenteils der des Norddeutschen Bundes. Den Reichsgründer erhob Kaiser Wilhelm I. am 21. März 1871 in den erblichen Fürstenstand. Außerdem erhielt Bismarck am 24. Juni den Sachsenwald bei Hamburg, wo er eine Gaststätte zum Herrenhaus Friedrichsruh ausbauen ließ.

Drei Kriege hatte Bismarck geführt, um das Deutsche Reich zu gründen. Aber nachdem er es aus der Taufe gehoben hatte, setzte er sich dafür ein, den Frieden zu erhalten, denn er wusste, dass jeder weitere Krieg sein Lebenswerk gefährdet hätte. Frankreich würde ein unversöhnlicher Gegner bleiben, darüber machte Otto von Bismarck sich keine Illusionen. Um sich gegen den Albtraum einer feindlichen Koalition (»cauchemar des coalitions«) abzusichern, initiierte er im Oktober 1873 ein Bündnis zwischen Kaiser Wilhelm I., Kaiser Franz Joseph I. und Zar Alexander II. (»Dreikaiserabkommen«), sechs Jahre später einen Zweibund mit der Doppelmonarchie (dem sich 1882 Italien und 1883 Rumänien anschlossen), im Juni 1881 einen zweiten deutsch-russisch-österreichischen Vertrag und nach dessen Auslaufen 1887 einen »Rückversicherungsvertrag« mit Russland. Um die anderen Nationen von der »Saturiertheit« des Deutschen Reiches zu überzeugen, bot er sich 1878 in einer Balkankrise als »ehrlicher Makler« an und lud Repräsentanten aus Konstantinopel, St. Petersburg, Wien, Rom, Paris und London nach Berlin ein (Berliner Kongress, 13. Juni – 13. Juli 1878).

Innenpolitisch schoss Otto von Bismarck sich zunächst auf die Katholiken ein, die im Dezember 1870 zur Verteidigung gegen die preußisch-protestantische Übermacht das »Zentrum« gegründet hatten, eine politische Partei, die nach den Reichstagswahlen vom 3. März 1871 die zweitstärkste Fraktion nach den Nationalliberalen bildete. Obwohl das Zentrum das von dem katholischen Böttchergesellen Eduard Kullmann (1853 – 1892) aus Magdeburg am 13. Juli 1874 in Bad Kissingen auf Otto von Bismarck verübte Pistolen-Attentat missbilligte, nutzte der wieder nur leicht verletzte »Eiserne Kanzler« den Vorfall, um den »Kulturkampf« mit zusätzlichen Repressionen zu verschärfen. Doch als er merkte, dass er ihn nicht gewinnen konnte, ließ er von den Katholiken ab. Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits einen neuen Gegner ausgemacht: die Sozialdemokraten. Ihnen schob er wider besseres Wissen die Schuld für zwei Attentate zu: Der Leipziger Klempnergeselle Max Hödel (1857 – 1878), der am 11. Mai 1878 auf den einundachtzigjährigen Kaiser schoss, verfehlte ihn, aber drei Wochen später, am 2. Juni, wurde Wilhelm I. bei einem Anschlag des promovierten Landwirts Karl Eduard Nobiling (1848 – 1878) durch Schrotkugeln schwer verletzt. Bismarck nahm die beiden Vorfälle zum Anlass, das »Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie« in den Reichstag einzubringen; es trat am 22. Oktober 1878 in Kraft. Während er die Organisationen der Arbeiterbewegung mit repressiven Mitteln unterdrückte, versuchte er zugleich, ihr durch die Einführung einer Kranken- und Unfall-, Alters- und Invalidenversicherung das Wasser abzugraben.

Schlafstörungen und Gesundheitsprobleme machten Otto von Bismarck zunehmend zu schaffen. Zu den Ursachen zählten seine notorische Überarbeitung, vor allem aber auch seine Völlerei. 1879 wog er 123 Kilogramm.

Wilhelm II., der im »Dreikaiserjahr« 1888 nach dem Tod seines Großvaters Wilhelm I. und seines Vaters Friedrich III. Kaiser geworden war, brachte Otto von Bismarck in einem Gespräch am 15. März 1890 dazu, drei Tage später sein Rücktrittsgesuch einzureichen. Grollend zog der Fünfundsiebzigjährige sich nach Friedrichsruh zurück. »Dropping the Pilot« (»Der Lotse geht von Bord«), lautete der Untertitel einer berühmten Karikatur von John Tenniel am 29. März 1890 im englischen Satiremagazin »Punch«.

Bismarck soll an den »Herzog von Lauenburg« adressierte Post – diesen Titel hatte ihm der Kaiser zum Abschied verliehen – zurückgeschickt haben; jedenfalls ließ er sich nicht als Herzog ansprechen. Wilhelm II. empfing Otto von Bismarck zwar am 26. Januar 1894 und stattete ihm am 19. Februar einen Gegenbesuch in Friedensruh ab, aber die beiden grundverschiedenen Männer versöhnten sich allenfalls zum Schein.

Am 27. November 1894 starb Johanna von Bismarck im Alter von siebzig Jahren. Ihr Tod war für den kaltgestellten Politiker ein weiterer harter Schlag; er trauerte um seine Frau und verfiel zunehmend in Depressionen.

Am 30. Juli 1898 starb der Dreiundachtzigjährige in Friedensruh.

Literatur über Otto von Bismarck

  • Otto von Bismarck: Gedanken und Erinnerungen.
    Mit einem Essay von Lothar Gall. Berlin 1990
  • Ernst Engelberg: Bismarck. Band 1: Urpreuße und Reichsgründer.
    Band 2: Das Reich in der Mitte Europas. Berlin 1985 / 1990
  • Waltraut Engelberg: Otto und Johanna von Bismarck. Berlin 1990
  • Lothar Gall: Bismarck. Der weiße Revolutionär. Frankfurt/M / Berlin / Wien 1980
  • Lothar Gall: Bismarck. Ein Lebensbild. Bergisch-Gladbach 1991
  • Sebastian Haffner: Von Bismarck zu Hitler. Ein Rückblick. München 1987
  • Bernd Heidenreich und Frank-Lothar Kroll (Hg.): Bismarck und die Deutschen.
    Berlin 2005
  • Franz Herre: Bismarck. Der preußische Deutsche. Köln 1991
  • Christian Graf von Krockow: Bismarck. Stuttgart 1997
  • Wolfgang J. Mommsen: Das Ringen um den nationalen Staat. Die Gründung und
    der innere Ausbau des Deutschen Reiches unter Otto von Bismarck 1850 bis 1890. Berlin 1993
  • Otto Pflanze: Bismarck. Band 1: Der Reichsgründer. Band 2: Der Reichskanzler.
    München 1997 / 1998
  • Werner Richter: Bismarck. Frankfurt/M 1962
  • Rainer F. Schmidt: Otto von Bismarck (1815 – 1898). Realpolitik und Revolution. Stuttgart 2004
  • Volker Ullrich: Otto von Bismarck. Reinbek 1998

© Dieter Wunderlich 2006

Heinrich von Stephan (Kurzbiografie)
Konrad Duden (Kurzbiografie)
Kaiser Wilhelm II. (Kurzbiografie)

Volker Ullrich: Otto von Bismarck

Nino Haratischwili - Das mangelnde Licht
"Das mangelnde Licht" ist eine fulminante kritische Gesellschaftsstudie, aber zugleich auch eine Adoleszenz- bzw. Entwicklungsgeschichte und eine Tragödie. Phasenweise liest sich "Das mangelnde Licht" wie ein Politthriller oder Kriminalroman. Nino Haratischwili wechselt elegant zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Sie schreibt anschaulich und mitreißend aus Ketos Perspektive. Aufwühlende Szenen wechseln sich mit realistischen Dialogen und klugen Reflexionen ab.
Das mangelnde Licht