Malcolm Lowry : Unter dem Vulkan

Unter dem Vulkan
Manuskript: 1936 bis 1944 Originalausgabe: Under the Volcano, New York 1947 Unter dem Vulkan Übersetzung: Susanna Rademacher (u. Karin Graf) Rowohlt Verlag, Reinbek 1963
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Am Tag der Toten im November 1938 kehrt die 30-jährige naive ehemalige Filmschauspielerin Yvonne zu ihrem geschiedenen Mann Geoffrey Firmin in die mexikanische Kleinstadt Quauhnahuac zurück. Obwohl der britische Konsul, der seinen Dienst inzwischen quittierte, Yvonne immer noch liebt, schafft er es nicht, seine durch den Alkoholismus hervorgerufene Isolation zu überwinden.
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Kritik

Die zunehmende Trunkenheit und der Verfall des ehemaligen Konsuls symbolisiert die Situation der Welt. Der großartige Erzähler Malcolm Lowry lässt den Leser die eigentliche – sich in den Köpfen der Protagonisten abspielende – Handlung intensiv miterleben. "Unter dem Vulkan" ist einer der ganz großen Romane.
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Jacques, 1939

Die mexikanische Kleinstadt Quauhnahuac liegt in 1600 m Höhe am Fuße der beiden Vulkane Popocatepetl und Ixtaccihuatl. Im November 1939, am Tag der Toten, kurz vor Sonnenuntergang, trinken zwei Herren in weißen Flanellanzügen im Hotel Casino de la Selva Anís del Mono: der französische Filmproduzent Jacques Laruelle und der mexikanische Facharzt Dr. Arturo Díaz Vigil.

Jacques Laruelles Vater war ein reicher, kauziger Philatelist, der die Sommerferien mit seiner Familie in dem normannischen Badeort Courseulles zu verbringen pflegte. Dort freundete sich der damals 15-jährige Jacques im Sommer 1911 mit einem Gleichaltrigen an, der zur Familie des (allerdings nicht selbst mitgekommenen) englischen Dichters Abraham Taskerson gehörte. Bei Geoffrey Firmin handelte es sich um einen angloindischen, in sich gekehrten, schüchternen Jungen, der nach dem Tod seiner Mutter und dem Verschwinden seines Vaters zusammen mit seinem jüngeren Stiefbruder Hugh bei einer – allerdings ebenfalls bald gestorbenen – Pflegemutter in Kaschmir aufgewachsen war.

Nach den Ferien durfte Jacques seinen neuen Freund nach England begleiten, bei den Taskersons wohnen und eine englische Schule besuchen. Die sechs Söhne Abraham Taskersons wanderten nicht selten 35 oder 45 km am Tag, und dabei tranken sie in jeder Kneipe am Weg literweise Starkbier. Jacques konnte wegen seines schwachen Magens nicht mithalten und war ohnehin eher Wein als Bier gewöhnt; Geoffrey mochte kein Bier und besuchte eine strenge Methodistenschule, die auf die Abstinenz ihrer Schüler und Lehrer achtete.

1935 kam Laruelle von Los Angeles nach Quauhnahuac, wo sein Jugendfreund Geoffrey Firmin als britischer Konsul lebte. Jetzt, am Tag der Toten im November 1939, verabschiedet er sich von Dr. Vigil, um allein zu seinem Haus in der Calle Nicaragua zu gehen.

Er erinnert sich an die Ereignisse vor genau einem Jahr. Traurig geht er an der Ruine des Cortez-Palastes vorbei.

Die verfallene, übelriechende Kapelle, in der das Unkraut wucherte, die mit Urin besudelten, zerbröckelnden Mauern, an denen Skorpione lauerten – eingestürztes Gebälk, traurige Fensterbögen, mit Kot beschmiertes, schlüpfriges Gestein – dieser Ort, einst Heimstatt einer großen Liebe, schien einem Alptraum entsprungen zu sein. Und Laruelle war der Alpträume müde.

Als es zu regnen beginnt, flüchtet er – wie viele andere auch – unter das Vordach des Kinos. Auf einem Plakat wird der Film „Las Manos de Orlac“ mit Peter Lorre angekündigt, aber bei dem Gewitter ist der Strom ausgefallen. Mit Señor Bustamente, dem Geschäftsführer des Kinos, drängt er sich zu der kleinen Cervecería neben dem Kino durch.

Sie sprechen über den ehemaligen Konsul. Bustamente glaubt, es habe sich um einen Spitzel gehandelt, und Laruelle hält es für müßig, ihm zu erklären, dass die britische Regierung Geoffrey Firmin auf diesen unbedeutendenden Posten in Mexiko abgeschoben hatte. Ihm fällt ein, dass sein Freund im Weltkrieg mit einem Tapferkeitsorden ausgezeichnet worden war. Geoffrey war damals an Bord der S. S. Samaritan, die als Handelsschiff getarnt im Pazifik kreuzte, bis ein deutsches U-Boot auftauchte. Während ein Prisenkommando herüberkam, verwandelte sich „das Lamm“ plötzlich in einen „feuerspeienden Drachen“. Der Kapitän der Samaritan kam bei dem Gefecht ums Leben, aber die deutsche Crew wurde gefangen genommen und ihr U-Boot versenkt. Im Hafen fand man unter den Kriegsgefangenen nur Mannschaftsdienstgrade, und es stellte sich heraus, dass die deutschen Offiziere an Bord der Samaritan in die Heizöfen geworfen worden waren. Angeblich hatte Geoffrey es so befohlen, aber er wurde von einem Kriegsgericht freigesprochen und erhielt später den Orden.

Bustamente gibt Laruelle ein Buch mit elisabethanischen Stücken zurück, das dieser sich vor eineinhalb Jahren von Geoff ausgeliehen hatte. Darin findet Laruelle einen nicht abgeschickten Brief des Konsuls an seine Frau Yvonne, die ihren Mann im Dezember 1937 verlassen hatte. Geoff schrieb ihn im Frühjahr 1938, an dem Tag, als er von seinem Rechtsanwalt die Nachricht von der Scheidung erhielt. Darin heißt es unter anderem:

„Nein, meine Geheimnisse sind die des Grabes und müssen gehütet werden. Und so sehe ich mich zuweilen als einen großen Forscher, der ein außerordentliches Land entdeckt hat, aus dem er niemals zurückkehren kann, um der Welt davon zu berichten; aber der Name dieses Landes ist Hölle.“

Laruelle zerknüllt den Brief und verbrennt ihn im Feuer einer der wegen des Stromausfalls aufgestellten Kerzen.

Yvonne

Als Yvonne Constable sechs Jahre alt war, starb ihre Mutter. Mit 13 begann sie, in Kriminal- und Wildwestfilmen zu spielen und verdiente damit den Lebensunterhalt für sich und ihren Vater. Nach dessen Tod kümmerte sich ihr Onkel Macintyre um sie und brachte sie mit dem Schiff nach Hawaii. Dort studierte sie Astronomie, aber als sie dem reichen, jungen und fröhlichen Playboy Cliff Wright begegnete, gab sie ihr Studium auf, um ihn zu heiraten. Ihr Sohn – er hieß zufällig auch Geoffrey – starb 1932 im Alter von sechs Jahren an Hirnhautentzündung. Bald darauf ließen sie sich scheiden. Der Traum der naiven und leichtsinnigen Hollywoodschauspielerin von einer Farm ging nicht in Erfüllung: 1935, mit 27, lernte sie den 12 Jahre älteren Geoffrey Firmin kennen. Das geschah in Granada. Dort verabredeten sie sich einmal zum Essen in einem Lokal bei der Alhambra, aber durch ein Missverständnis verpassten sie sich.

Am Abend vor ihrer Trennung und Abreise suchte sie ihn wieder vergeblich. Sie wollten noch einmal zusammen in Mexiko-Stadt essen. Doch er kam nicht. Jetzt erfährt Yvonne von Geoff den Grund.

„Ja, weil mir im letzten Augenblick der Name des Restaurants nicht einfiel. Ich wusste nur, dass es irgendwo in der Via Dolorosa war. Wir hatten es zusammen entdeckt, als wir das letzte Mal in der Stadt gewesen waren. Ich suchte dich in allen Restaurants in der Via Dolorosa, und in jedem trank ich etwas, weil ich dich nicht fand.“

Am Tag der Toten im November 1938, um 7 Uhr morgens, kommt Yvonne nach Quauhnahuac zurück. Sie findet ihren Exmann Geoffrey Firmin in der Bar des Hotels Bella Vista, lässt ihr Gepäck in sein Haus in der Calle Nicaragua Nr. 22 bringen und geht zu ihm. Er sitzt auf einem Hocker an der Theke und hält einen Fahrplan der Mexican National Railways in der Hand.

Den Fahrplan noch in der Hand, kam der Konsul auf die Beine, während sie auf ihn zuging. „Lieber Gott.“
Yvonne zögerte, aber er kam ihr nicht entgegen; sie glitt ruhig auf einen Hocker neben ihm; sie küssten sich nicht.
„Eine Überraschung. Ich bin wiedergekommen … Mein Flugzeug ist vor einer Stunde gelandet.“

Geoffrey muss die Whiskyflasche, aus der er sich einschenkt, mit beiden Händen halten, weil er so heftig zittert.Schließlich begleitet er sie zu seinem Haus. Auto hat er keines mehr.

„Hast du den Wagen wieder zuschanden gefahren?“
„Nein, ich habe ihn, ehrlich gesagt, verloren.“

Sie begegnen dem kleinen Stadtschreiber, der mit seiner Schreibmaschine auf einer Parkbank sitzt. Im Vorbeigehen diktiert der Konsul:

„Ich gehe den einzigen Weg, der mir noch bleibt, Semikolon. Leben Sie wohl, Punkt. Neuer Absatz, neues Kapitel, neue Welt …“

Später überlegt er: „Was nützt es, vor sich selbst davonzulaufen?“

Yvonne denkt:

„Ach, Geoffrey, warum kannst du nicht umkehren? Musst du immer weiter und weiter in dieses stumpfsinnige Dunkel hineingehen, es selbst jetzt suchen, immer weiter ins Dunkel des Auseinandergehens, der Trennung, wo ich dich nicht erreichen kann? Ach, Geoffrey, warum tust du das!“

Im Schaufenster einer Druckerei sieht Yvonne die Fotografie eines durch Waldbrände gespaltenen Felsblocks. Darunter steht: „La Despedida“ (die Trennung).

… aber gab es nicht irgendein phantastisches geologisches Zauberkunststück, das die Stücke wieder zusammenschweißen konnte? Sie verlangte danach, den gespaltenen Felsblock zu heilen. Sie war einer der beiden Felsen und hatte keinen anderen Wunsch, als den anderen zu retten, damit beide gerettet würden. Mit einer übernatürlichen Anstrengung näherte sie sich ihm, überschüttete ihn mit Bitten, mit leidenschaftlichen Tränen, mit allumfassender Verzeihung: der andere Fels blieb ungerührt. „Das alles ist gut und schön“, sagte er, „aber es ist nun mal deine Schuld, und was mich angeht, so gedenke ich so zu zerfallen, wie es mir beliebt.“

Geoff überlegt:

„Und vielleicht gedieh die Seele im Leid, und die Seele seiner Frau war in dem Leid, das er ihr zugefügt hatte, nicht nur gediehen, sondern aufgeblüht.“

Yvonne fragt nach seinem jüngeren Bruder Hugh, der zeitweise ihr Liebhaber war. Seit seiner Rückkehr aus den USA wohnt er bei Geoff; er ist gerade in Mexiko-Stadt, wird aber noch am Vormittag zurückerwartet. Yvonne erfährt, dass ihr Exmann inzwischen seinen Dienst als britischer Konsul quittiert hat.

Sie erreichen das Haus.

Ein hässlicher Straßenköter folgte ihnen hinein.

Geoffs Haushälterin Concepta begrüßt Yvonne und führt sie in ihr Zimmer. Das Gepäck ist bereits angekommen. Der Konsul blickt von der Terrasse in den verwahrlosten Garten und trinkt Tequila.

Direkt unter ihnen füllte sich das kleine glucksende Schwimmbecken immer noch aus einem undichten Schlauch, der an einen Hydranten angeschlossen war, doch war es nahezu voll. Sie hatten Seitenwände und Boden einmal selbst gestrichen, blau; die Farbe war kaum verblichen, und das Wasser, das den Himmel spiegelte, ihn nachäffte, schien tief türkis. Hugh hatte den Rasen um das Becken herum geschoren, aber dahinter verlor der Garten sich in einer unbeschreiblichen Wildnis von Gestrüpp, von der der Konsul den Blick abwandte: das angenehme, leicht trunkene Gefühl begann sich zu verlieren …

Während Yvonne ein Bad nimmt, läuft Geoff heimlich fort, um rasch in einer Cantina Tequila zu trinken. Unterwegs schlägt er der Länge nach auf den Boden, aber er verletzt sich nicht ernsthaft. Als er zurückkehrt, liegt sie im Bett und blättert in einer Zeitschrift.

Ihr Nachthemd war ein wenig verrutscht und zeigte, wo die warme Sonnenbräune in die weiße Haut ihrer Brust überging.

Er vergräbt sein Gesicht an ihrer Schulter, fühlt, wie sie sich versteift, aber dann gibt sie nach. Während des Vorspiels („kleine Einfingerintroduktion“) glaubt er wie in einem Film Bilder aus einer Cantina zu sehen. „Tut mir Leid, es hat keinen Zweck, fürchte ich.“ Von der Terrasse aus hört er Yvonne weinen.

Hugh

Hugh trifft ein und wundert sich, dass Yvonne da ist. Sie arbeitet im Garten. Der Konsul schläft.

„Ist der Garten nicht entsetzlich verkommen?“, fragte Yvonne plötzlich.
„Dafür, dass Geoffrey so lange keinen Gärtner gehabt hat, finde ich ihn wunderschön.“

Hugh spielte bereits in der Schule Gitarre und komponierte Schlager. Er war 16, als die jüdische Firma Lazarus Bolowski & Sons zwei davon annahm. Da träumte er vom großen Erfolg, ging von der Schule ab und heuerte auf der S. S. Philoktet an. Nach seiner Rückkehr von einer längeren Schiffsreise begriff er, dass Bolowski seine Schlager zwar gegen eine Kaution gedruckt hatte, jedoch nichts unternahm, um sie auch zu vertreiben. Er wurde Journalist. Jetzt, mit 29, träumt er noch immer davon, die Welt zu verändern. In ein paar Tagen will der entwurzelte Abenteurer in Vera Cruz an Bord der S. S. Noemijolea gehen. Das Schiff soll der Volksfront in Spanien TNT bringen.

Er fragt Yvonne geradeheraus, ob sie und Geoff geschieden sind.

„O doch, ich – ich bin von ihm geschieden“, antwortete sie unglücklich.
„Aber du weißt nicht, ob du zu ihm zurückgekehrt bist oder nicht?“
„Ja. Nein … ja. Doch, ich bin wirklich zu ihm zurückgekehrt.“

Ausflug nach Tomalín

Geoff, Yvonne und Hugh brechen zu einem Ausflug nach Tomalín auf. Auf dem Weg zum Bus begegnen sie Jacques Laruelle, der in der gleichen Gasse wohnt. Er lädt sie in sein Haus ein. Zufällig kommt gerade der Briefträger vorbei und händigt dem ehemaligen Konsul eine Postkarte aus. Yvonne schickte sie vor einem Jahr ab. Offensichtlich ein Irrläufer.

„Liebster, warum bin ich fortgegangen? Warum hast Du es zugelassen? Komme wahrscheinlich morgen in USA an, zwei Tage später in Kalifornien. Hoffe dort Nachricht von Dir vorzufinden. Alles Liebe Y.“

Geoff hat sich vor wenigen Wochen geschworen, das Haus Laruelles nicht mehr zu betreten, denn er weiß inzwischen, dass auch sein ehemaliger Freund ein Verhältnis mit Yvonne hatte. Vermutlich betrogen sie ihn hier in diesem Haus. Aber er schweigt und folgt den anderen. Während Hugh auf den Mirador hinaufsteigt und der Gastgeber sich um die Getränke kümmert, fällt ihm die Ansichtskarte wieder ein und er macht eine Bewegung zu Yvonne hin, möchte ihr etwas Liebevolles sagen, sie küssen.

Aber dann merkt er, dass er ihr aus Scham über den Morgen nicht in die Augen sehen konnte, ehe er nicht etwas zu trinken bekam.

„Hast du denn kein bisschen Zärtlichkeit oder Liebe für mich übrig?“, fragte Yvonne plötzlich fast kläglich; sie wandte sich zu ihm um, und er dachte: Ja, ich liebe dich, ich habe alle Liebe der Welt für dich übrig, nur scheint diese Liebe so fremd und so weit weg von mir, ich glaube sie fast zu hören, ein Summen oder Weinen, aber weit, weit weg, ein trauriger verlorener Ton, ich weiß nicht, ob er näher kommt oder entschwindet.

Hugh Firmin und Jacques Laruelle kannten sich noch nicht. Der Filmproduzent hält den Jüngeren für eitel, romantisch extravertiert, für einen „verantwortungslosen Schwätzer“ und „Salonmarxisten“.

Geoff schafft es, seinen Cocktail stehen zu lassen.

Bevor der Bus abfährt, möchte Yvonne Hugh noch die Fiesta zeigen, aber Geoff kommt trotz ihres flehentlichen Blickes nicht mit. Sobald Laruelle mit ihm allein ist, geht er ihn an:

„Bist zu verrückt geworden? Ist es denn möglich, dass deine Frau zu dir zurückgekehrt ist, etwas, worum du vor meinen Augen gebetet und unter dem Tisch geheult hast – wirklich unter dem Tisch … und dass du sie jetzt so gleichgültig behandelst und immer noch nichts weiter im Kopf hast als den nächsten Drink?“

Plötzlich gerät Geoff in Panik. Er stürmt zurück zur Dachterrasse, leert sein Glas, dann die halbvollen Gläser der anderen und trinkt schließlich den Cocktailshaker aus.

Wach auf, sie ist wiedergekommen! Liebste, Liebling, ich liebe dich! Ein Verlangen packte ihn, sie sofort zu finden und mit ihr nach Hause zu gehen (wo im Garten noch die ungeleerte weiße Flasche Tequila Añejo de Jalisco lag), diesen sinnlosen Ausflug abzubrechen und vor allem mit ihr allein zu sein; und auch ein Verlangen, unverzüglich wieder ein normales, glückliches Leben mit ihr zu beginnen …

Am Busbahnhof geht er in die Terminal Cantina El Bosque (Der Wald) der fatalistischen Witwe Señora Gregorio und bestellt einen Tequila und dann noch einen.

Mit einem klapprigen alten Bus aus dem Jahr 1918 geht es los. Geoff, Yvonne und Hugh sitzen zwischen Indiofrauen mit Körben und lebendem Geflügel.

Neben einem Indio, der offenbar verletzt am Boden liegt, hält der Bus. Ein paar Männer steigen aus. Geoff und Hugh erkennen den Indio, der ihnen unterwegs begegnete. Da ritt er auf seinem mit der Nummer 7 gebrandmarkten Pferd und sang. Einer nimmt ihm den Hut ab. Darunter kommt eine grässliche Wunde an der Schläfe zum Vorschein. Der Mann wird sterben. Niemand unternimmt etwas. Die Frauen sind im Bus geblieben.

Ihre Gesichter wirkten nicht verhärtet, nicht grausam. Den Tod kannten sie besser als das Gesetz, und ihre Erinnerungen reichten weit zurück. Jetzt saßen sie bewegungslos erstarrt, wortlos, versteinert in einer Reihe. Es war natürlich, die Sache den Männern überlassen zu haben.

Der Bus fährt weiter nach Tomalín. Einer der Männer hält das Geld des Sterbenden in der Hand und versteckt es nicht einmal.

In der Arena von Tomalín sehen Geoff, Yvonne und Hugh zu, wie ein mutiger Mann auf dem Rücken eines Stiers solange wie möglich zu reiten versucht. Plötzlich wirft Hugh sein Jackett hin, springt in die Arena und auf den nächsten Stier.

Yvonne sagt zu ihrem Exmann:

„Ach, Geoffrey. Wir könnten glücklich werden, wir könnten –“
„Ja … Wir könnten.“

Während Hugh und Yvonne in dem von einer Kaskade gespeisten Teich von Tomalín schwimmen gehen, sucht Geoff den Salón Ofélia auf, in dem sie später essen wollen. Den ganzen Tag über hat er es vermieden, Mescal zu trinken. Er weiß, wenn er erst einmal zu diesem billigen, nach Äther riechenden Fusel greift, gibt es kein Halten mehr. (Mescal wird wie Tequila aus Agavensaft gebrannt, aber er braucht nicht aus dem Ort Tequila zu kommen und ist gewöhnlich von schlechterer Qualität: Jeder Tequila ist ein Mescal, aber nicht jeder Mescal ist ein Tequila.)

Aus allen Poren Alkohol schwitzend, stand der Konsul an der offenen Tür des Salón Ofélia. Wie vernünftig, einen Mescal getrunken zu haben. Wie vernünftig! Denn es war unter diesen Umständen das richtige, das einzige Getränk. Zudem hatte er sich nicht nur bewiesen, dass er keine Angst davor hatte, sondern er war jetzt auch wieder hellwach, völlig nüchtern und sehr wohl imstande, es mit allem aufzunehmen, was ihm in den Weg kommen mochte. Wäre nicht dieses fortwährende leichte Zucken und Hüpfen in seinem Gesichtsfeld gewesen – wie von unzähligen Sandflöhen –, er hätte sich einreden können, dass er seit Monaten nichts getrunken hätte. Nur eines störte ihn: ihm war zu heiß.

Schließlich kommen auch Hugh und Yvonne in den Salón Ofélia.

„Was wollt ihr essen? Blumenköpfchen oder Fischfinger?“, begrüßte der Konsul sie unschuldig stirnrunzelnd in einer Nische, in der er ohne Drink am Tisch saß. Das Abendmahl von Emmaus, dachte er, während er sich bemühte, den Mescal-Ton aus seiner Stimme zu verbannen.

Zuerst scheint alles gut zu gehen, aber als gebackene Muscheln aufgetragen werden, wird ihm übel. Er setzt sich auf die Toilette und lässt sich Mescal bringen. Gedanken, Erinnungen, Gesprächsfetzen von vorhin, Auszüge aus Reiseführern und dem Fahrplan der Mexican National Railways bilden ein „quirrliges Gedankenchaos“. Dann sitzt er plötzlich wieder bei den beiden anderen am Tisch.

Der Nebel hatte sich gelichtet, aber Yvonne war blass, und ihre Augen schwammen in Tränen.
Irgend etwas stimmte nicht, stimmte ganz und gar nicht. Vor allem schienen Hugh und Yvonne ganz erstaunlich beschwipst zu sein.

Schließlich attackiert Geoff seinen Halbbruder:

„Ihr seid alle gleich, ihr alle, Yvonne, Jacques, du, Hugh, ihr alle wollt euch in anderer Leute Leben einmischen, einmischen, einmischen – … Was hast du je für die Menschheit getan, Hugh, mit all deiner oratio obliqua über das kapitalistische System, außer zu reden und dich daran zu mästen, bis deine Seele zum Himmel stinkt.“

Plötzlich ist Geoff fort. Hugh und Yvonne suchen ihn. Über ihnen kreisen Geier.

Es waren Geier, die sich auf Erden so eifersüchtig bekämpfen, mit Blut und Dreck besudeln und doch imstande waren, so über die Stürme aufzusteigen zu Höhen, die nur ihnen und dem Kondor gehören, über den Gipfel der Anden hinaus –

Geoffrey

Vergeblich fragen sie in einer Catina nach Geoffrey. Bei einer weiteren Cantina versucht es Hugh allein, während Yvonne draußen bleibt. Sie stößt aus Versehen gegen einen Holzkäfig und entdeckt darin einen jungen Adler. Mit bebenden Händen öffnet sie den Käfig. Der Adler zögert, fliegt dann auf das nächste Dach und schließlich immer höher in den „tiefen dunklen blauen reinen Himmel über ihr“. In einer dritten Cantina bestellen Hugh und Yvonne zwei Mescal, und während Hugh einem Mexikaner die Gitarre abkauft, trinkt Yvonne auch sein Glas fast leer. Er hat es inzwischen aufgegeben, noch an diesem Abend nach Mexiko-Stadt zu reisen.

Beim Weitergehen hören sie drei Pistolenschüsse über der Barranca Malebolge. Vermutlich Schießübungen. Ein reiterloses Pferd sprengt vorbei. Yvonne sieht deutlich die eingebrannte Nummer 7.

Geoff hatte es bis zur Farolito-Bar geschafft. Dort trinkt er Mescal. Vom Fenster aus blickt er fast senkrecht hinein in die Schlucht. Der Wirt Diosdado wirft ihm ein mit einem Gummiband zusammengehaltenes Bündel Briefe auf die Theke: Yvonnes Briefe, die er alle nicht beantwortet hat. Geoff malt die Umrisse der Iberischen Halbinsel auf den Tisch und zeigt Diosdado, wo Granada ist. Da habe er Yvonne kennen gelernt.

„Quiere María?“, fragt leise ein Mädchen hinter ihm und zieht ihn in ein Hinterzimmer, an dessen Wand ein Monatskalender hängt, auf dem das November-Blatt bereits abgerissen ist. Er dringt in die Prostituierte ein, kommt zum Orgasmus. „Dir gefallen María?“, krächzt anschließend der Zuhälter in der Toilette.

Geoff verlässt die Cantina und sieht, dass an dem kleinen Baum davor ein Pferd angebunden ist, das Perd des tödlich verletzten Indios: deutlich ist die eingebrannte „7“ in der Kruppe zu sehen. Er nähert sich dem Tier, aber ein Mann, der wie ein mexikanischer Polizeisergeant aussieht, reißt ihm die Zügel aus der Hand und fragt ihn, was er vorhabe.

„Da die Welt sich dreht, warte ich hier so lange, bis mein Haus vorbeikommt.“

Der Andere drängt ihn in die Cantina zurück. Nach einer kurzen Unterredung mit Diosdado beschuldigt er Geoff, weder für „Meßikanisch Whisky“ noch für „Meßikanisch Mädchen“ bezahlt zu haben. Und wieso er vorhin eine Karte von Spanien auf den Tisch gemalt habe. Er sei wohl ein Mitglied der Brigade Internationale, ein „Bolschewistenschwein“, das hier Unruhe stiften wolle. Der Mann gibt sich als „Propagandachef“ aus und bezeichnet einen sich gleichgültig gebenden Mann im Tweedanzug als „Jefe de Jardineros“ (Chef der öffentlichen Gärten). Sie sprechen sich am Telefon mit jemand ab. Nach seinem Namen gefragt, antwortet Geoff: „William Blackstone“, und behauptet, Schriftsteller zu sein. Aber sie glauben ihm nicht, zumal sie in seinem Jackett – in dem Hugh an diesem Morgen aus Mexiko-Stadt zurückkehrte –, eine Landkarte der „Federación Anarquista Ibéria“ mit dem Namen „Sr. Hugo Firmin“ und ein Telegramm Hughs an den „Daily Globe“ über eine antisemitische Kampagne in Mexiko finden. Die Männer, die offenbar einer faschistischen Gruppierung angehören, halten ihn für einen Spitzel.

„Du kein Schreiber, du sind Spitzel, und in Méjico wir erschießen Spitzel.“

Der „Propagandachef“ nimmt einen Geldschein aus Geoffs Brieftasche, wirft ihn auf die Theke und steckt die Brieftasche ein. Die Männer wollen ihn mitnehmen. Eine Turmuhr schlägt 7. Der ehemalige Konsul stolpert rückwärts auf die Straße, will das Pferd losmachen, zerrt am Zügel. Der „Propagandachef“ zieht seine Pistole, stößt Geoff ins Licht und schießt dreimal. Das Pferd reißt sich los, bäumt sich auf und geht durch.

Geoff sinkt auf die Knie, dann flach aufs Gesicht. Er weiß, sie haben ihn erschossen, fühlt sich wunderlich erleichtert und überlegt verdutzt: „Mein Gott, was für eine schäbige Art zu sterben.“

Er erwartete unter sich den herrlichen Dschungel zu sehen, die Höhen des Pico de Orizabe, des Malinche, des Cofre de Perote – wie jene Gipfel seines Lebens, die er Stück für Stück bezwungen hatte, bevor er diesen großartigsten aller Aufstiege mit Erfolg, wenn auch auf ungewöhnliche Art geschafft hatte. Aber dort unten war nichts: keine Gipfel, kein Leben, kein Aufstieg. Und dieser Gipfel war auch eigentlich kein Gipfel: er hatte keine Substanz, keine feste Grundlage. Was er auch sein mochte – er zerbröckelte, er brach zusammen, während er selbst fiel, in den Vulkan fiel, er musste ihn also doch erklommen haben, obwohl jetzt das Geräusch sich heranwälzender Lava in seinen Ohren war, entsetzlich, das war ein Ausbruch, doch nein, das war nicht der Vulkan, die Welt selbst zerbarst, zerbarst in schwarze Lavaspritzer von Dörfern, die in den Weltraum geschleudert wurden, während er selbst durch alles hindurchfiel, durch die unbegreifliche Hölle von einer Million Panzern, durch das Flammenmeer von zehn Millionen brennenden Leibern, in einen Wald fiel und fiel –

Sie werfen seinen Leichnam in die Schlucht und einen toten Hund hinterher.

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Malcolm Lowry hat seinen am Fuße der beiden mexikanischen Vulkane Popocatepetl und Ixtaccihuatl spielenden Roman in zwölf Kapitel gegliedert. Im ersten Kapitel werden wir aus der Perspektive des französischen Filmproduzenten Jacques Laruelle mit der Landschaft, den Figuren und der Thematik bekannt gemacht. Das Kapitel setzt den langsamen Rhythmus und stimmt in die traurige Atmosphäre ein. Kapitel 2 beginnt auf den Tag genau zwölf Monate früher, am Tag der Toten im November 1938 um 7 Uhr morgens. Wir begleiten den ehemaligen britischen Konsul von Mexiko zwölf Stunden lang durch den Tag, bis er um 19 Uhr erschossen wird.

Geoffrey Firmin ist ein stolzer und kraftvoller, polyglotter, zynischer und einsamer Mensch, der sich von seiner Umwelt, seinen Mitmenschen entfremdet hat, nicht mehr zur Liebe fähig ist und in einer selbst gewählten Isolation lebt.

Am Morgen trinkt er nur, was er zur Vermeidung des Zitterns für „therapeutisch notwendig“ hält und er glaubt noch, seinen Alkoholkonsum kontrollieren zu können. Einige Stunden später hält er stolz fest, wieviele Minuten er ohne einen Drink auskommt. Am Nachmittag geht es ihm nur noch darum, keinen Mescal zu bestellen, sondern bei dem etwas edleren Tequila zu bleiben. Schließlich findet er auch eine Ausrede, wieso es Mescal sein muss. Danach gibt es kein Halten mehr (Alkoholkrankheit).

„Ihn ein oder zwei Tage ausnüchtern hilft gar nichts. Lieber Gott, wenn unsere Zivilisation zwei Tage nüchtern wäre, würde sie am dritten an Gewissensbissen sterben …“,

sagt Hugh einmal zu Yvonne. Die zunehmende Trunkenheit und der Verfall des ehemaligen Konsuls symbolisiert die Situation der Welt und soll als Menetekel aufgefasst werden. Es geht um die Verlorenheit und Heimatlosigkeit des aus dem Garten Eden vertriebenen Menschen.

Landschaften, Tiere, Sonnenuntergänge und Gewitter symbolisieren das Gesagte. Die Barranca (Schlucht, Abgrund, Gosse), in die Geoffreys Leichnam am Ende geworfen wird, taucht bereits zu Beginn drohend auf und wird immer wieder erwähnt. Ein Riesenrad steht für das Rad der Zeit und die ewige Wiederkehr.

Innere Monologe, Zeit- und Ortssprünge in den Erinnerungen veranschaulichen die Verfassung der Protagonisten. Einmal reißt bei Geoffrey regelrecht der Film, ein anderes Mal erleben wir, wie er in Panik gerät, und einige Zeit später geraten bei einem „quirrligen Gedankenchaos“ Elemente aus verschiedenen Zeiten und Zusammenhängen durcheinander.

Malcolm Lowry ist ein großartiger Erzähler. Er schafft eine außergewöhnlich dichte und packende Atmosphäre und lässt den Leser die eigentliche – sich in den Köpfen der Protagonisten abspielende – Handlung intensiv miterleben.

Ich schätze „Unter dem Vulkan“ als einen der ganz großen Romane.

John Huston verfilmte den Roman „Unter dem Vulkan“ 1984.

Unter dem Vulkan – Originaltitel: Under the Vulcano – Regie: John Huston – Drehbuch: Guy Gallo, nach dem Roman „Unter dem Vulkan“ von Malcolm Lowry – Kamera: Gabriel Figueroa – Schnitt: Roberto Silvi – Musik: Alex North – Darsteller: Albert Finney, Jacqueline Bisset, Anthony Andrews, Ignacio López Tarso, Katy Jurado, James Villiers, Dawson Bray, Carlos Riquelme, Jim McCarthy, José René Ruiz, Eliazar García jr., Salvador Sánchez, Sergio Calderón, Araceli Ladewuen Castelun u. a. – 1984; 110 Minuten

Clarence Malcolm Lowry wurde am 27. Juli 1909 in Wallasey bei Liverpool als Sohn einer Kapitänstochter und eines wohlhabenden Baumwollkaufmanns geboren. 1927 heuerte er für ein halbes Jahr als Schiffsjunge an. 1929 bis 1932 studierte er am St. Catherine’s College in Cambridge englische Literatur. Seine 1934 geschlossene Ehe mit der amerikanischen Journalistin Jan Gabriel wurde nach drei Jahren geschieden. 1940 heiratete er die Schauspielerin und Schriftstellerin Margerie Bonner. Mit ihr lebte er in einer Strandhütte in Kanada, und baute sie nach einem Brand im Jahr 1944 (bei dem einige seiner Manuskripte verbrannten) wieder auf. 1954 zog das Paar nach Europa. Im Jahr darauf begab sich Malcolm Lowry – der bereits 20 Jahre zuvor in New York wegen Delirium tremens behandelt worden war – freiwillig in eine psychiatrische Klink in England, aber nach zwei Monaten entließ man den Alkoholkranken, weil man ihn für unheilbar hielt. Seine unkontrollierbaren Gewaltausbrüche zwangen Margerie zeitweise, aus der gemeinsamen Wohnung auszuziehen. Am 27. Juni 1957 fand sie ihn tot auf. Als Todesursache wurde eine Vergiftung durch Alkohol und Schlafmittel festgestellt.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2002
Textauszüge: © Rowohlt Verlag

Elisabeth Florin - Commissario Pavarotti trifft keinen Ton
Mit überbordender Fabulierlaune und spürbarer Liebe zu Südtirol ent­wickelt Elisabeth Florin eine unter­halt­same Kriminalgeschichte. Allerdings sind einige Zusammen­hänge in dem überfrachteten Krimi "Commissario Pavarotti trifft keinen Ton" unplausibel.
Commissario Pavarotti trifft keinen Ton