Imre Kertész : Roman eines Schicksallosen

Roman eines Schicksallosen
Erstausgabe: Sorstalanság Budapest 1975 Roman eines Schicksallosen Übersetzung: Christina Viragh Berlin Verlag, Berlin 1996 Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 2004 ISBN 3-499-23917-5, 288 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Imre Kertész wurde 1944, mit vierzehneinhalb Jahren, von Budapest nach Auschwitz und von dort weiter nach Buchenwald deportiert. Er überlebte sowohl die Selektion im Vernichtungslager als auch die Gefangenschaft im Konzentrationslager und kehrte 1945 nach Budapest zurück.
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Kritik

Imre Kertész versucht im "Roman eines Schicksallosen" nicht, das Grauen auszumalen, sondern er schildert den Alltag im Konzentrationslager aus der Sicht eines fünfzehnjährigen Häftlings, ohne zu werten oder nach Erklärungen zu suchen.
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Budapest 1944. György Köves wird bald fünfzehn. Seine Eltern sind geschieden. Ein Gericht sprach das Sorgerecht für den Jungen dem Vater zu, aber die Mutter hat Anspruch auf Besuche zu festgelegten Zeiten. Györgys Stiefmutter sorgte dafür, dass er vom Internat nach Hause kam.

Einen Tag bevor der Vater sich beim Arbeitsdienst melden muss, weil er Jude ist, verspricht Herr Sütö, sein früherer Buchhalter und Verwalter, der jetzt offiziell als Inhaber seines Holzlagers fungiert, regelmäßige Zahlungen an Györgys Stiefmutter. Dann kommen Familienmitglieder, um sich von Györgys Vater zu verabschieden: die Schwester der Stiefmutter und ihre Mutter, die Großeltern, Onkel Vili und Onkel Lajos. Dem Jungen ist so viel Rührung und Anteilnahme peinlich.

Sechs Wochen nach dem Abschied des Vaters muss György das Gymnasium verlassen und wird zwangsweise als Hilfsarbeiter beim Wiederaufbau der durch einen Bombenangriff zerstörten Gebäudeteile einer kriegswichtigen Fabrik eingesetzt. Anderen jüdischen Jungen in seinem Alter geht es ebenso. Aber der Einsatz dauert nur zwei Wochen; dann werden sie eines Morgens von einem Gendarm aus den Bussen geholt, mit denen sie zur Arbeit fahren und in einen Pferdestall gebracht. Später kommen sie in die Ziegelei von Budakalász, wo auch tausende von erwachsenen Juden auf ihren Abtransport warten.

Wohin ich auch trat, stolperte ich über Decken, Rucksäcke, allerlei Koffer, Packen, Bündel. Das alles, und dann auch die vielen kleinen Klagen, Bosheiten und Keifereien, die offenbar mit einem solchen gemeinschaftlichen Leben unvermeidlich einhergehen, haben mich natürlich bald ermüdet. Dazu kam die Untätigkeit, das dumme Gefühl des Stillstands, ja und dann die Langeweile; deshalb erinnere ich mich an die fünf Tage, die ich hier verbracht habe, auch nicht einzeln, doch selbst im Ganzen weiß ich von ihnen nur noch ein paar wenige Einzelheiten. (Seite 102)

Nach einer mehrtägigen Fahrt zu je sechzig Menschen in einem Viehwaggon ohne Wasser hält der Zug in Auschwitz-Birkenau. Männer in Sträflingskleidung öffnen die Schiebetüren. Erstmals sieht György einen „Sträfling“ vor sich, und er würde gern wissen, was dieser verbrochen hat. Noch ahnt er nicht, dass es sich um einen Leidensgenossen handelt. Die „Sträflinge“, die beim Aussteigen der neu Angekommenen dabei sind, schärfen den Jungen ein, ihr Alter mit „sechzehn“ anzugeben, wenn sie gefragt werden.

All diese Bilder, Stimmen und Begebenheiten haben mich einigermaßen verwirrt und schwindlig gemacht, in diesem sich am Ende zu einem einzigen Eindruck vermengenden, seltsamen, bunten, verrückten Wirbel; andere, möglicherweise wichtigere Dinge konnte ich deshalb weniger aufmerksam verfolgen. So wüsste ich nicht recht zu sagen: lag es an uns, an den Soldaten, an den Sträflingen oder war es das Ergebnis unserer gemeinsamen Anstrengung, dass sich schließlich doch eine lange Menschenkolonne ergab, jetzt schon aus lauter Männern, schon aus geordneten Fünferreihen bestehend, die sich um mich herum und mit mir langsam, aber nun doch gleichmäßig, Schritt für Schritt vorwärts bewegte. (Seite 118)

Greise, Kinder unter sechzehn Jahren, Schwache und Kranke werden ausgesondert. Innerhalb von Sekunden trifft ein Arzt die jeweilige Entscheidung: Die Brauchbaren nach links, die Unbrauchbaren nach rechts.

Dann schob er mich weg, mit der einen Hand noch auf meinem Gesicht, während er mir mit der anderen die Richtung wies, auf die andere Seite der Straße, zu den Tauglichen. Die Jungen erwarteten mich schon triumphierend, vor Freude lachend. Und beim Anblick dieser strahlenden Gesichter war es vielleicht, dass ich den Unterschied verstand, welcher unsere Gruppe von denen auf der anderen Seite wirklich trennte: es war der Erfolg, wenn ich es richtig empfand. (Seite 122)

Wie die anderen Männer und Jugendlichen auch, muss György sich ausziehen, seine Kleidung an einen nummerierten Haken hängen und sich die Nummer merken, angeblich, um seine Sachen nach dem Duschen wiederzufinden. Eine angedrohte Röntgenuntersuchung bringt die Häftlinge dazu, ihre letzten, am Körper versteckten Wertsachen abzuliefern, deren Besitz ihnen längst schon bei Strafe verboten wurde. Unvermittelt strömt Wasser aus den Duschköpfen. Ebenso plötzlich wird das Wasser wieder abgedreht. Ein Mann, der sich gerade eingeseift hat, schaut vergeblich nach oben. Anschließend geht es nicht zu den Kleiderhaken zurück, sondern weiter nach vorne, wo „Friseure“ den Neuankömmlingen das Kopfhaar, die Bärte, Achsel- und Schamhaare abrasieren.

Dann folgte ein Gang, auf der rechten Seite zwei ausgeleuchtete Öffnungen, und schließlich ein dritter Raum ohne Tür: in jeder der Öffnungen stand ein Sträfling und verteilte Kleidungsstücke. Ich nahm – wie alle anderen auch – ein Hemd in Empfang, das früher bestimmt einmal blau-weiß gestreift gewesen war und am Halsausschnitt wie bei meinem Großvater weder Kragen noch Knöpfe hatte, ebenso Beinlinge, die höchstens für Greise gedacht sein konnten, mit einem Schlitz über den Knöcheln und zwei richtigen Hosenbändern, einen schon abgetragenen Anzug, jedoch genau dem der Gefangenen entsprechend, aus Drillich und mit blau-weißen Streifen – einen regelrechten Sträflingsanzug, ich konnte es drehen und wenden, wie ich wollte; und in dem dritten Raum durfte ich mir dann selbst aus einem Haufen komischer Schuhe, mit Holzsohlen und einem Leinenoberteil mit drei Knöpfen an der Seite statt Schnürsenkeln, die auswählen, die mir in der Eile so ungefähr an die Füße zu passen schienen. […] Ich zögerte ein bisschen – doch ich konnte ja, während von allen Seiten Stimmen zur Eile mahnten, während sich alles um mich herum in fieberhafter Eile anzog, nicht einfach dastehen, wenn ich nicht hinter den anderen zurückbleiben wollte, natürlich. Die Hose musste ich – denn sie war zu weit und ein Gurt oder irgendwelche Träger fehlten – im Laufen verknoten, während sich bei den Schuhen die unerwartete Eigenschaft herausstellte, dass die Sohlen sich nicht bogen. Und zwischendurch habe ich mir, um die Hände frei zu haben, die Mütze auf den Kopf gesetzt. (Seite 130f)

György findet bald heraus, dass die qualmenden und stinkenden Schornsteine zu Krematorien gehören und dort nicht nur Tote verbrannt werden.

Da, gegenüber, verbrannten in diesem Augenblick unsere Reisegefährten aus der Eisenbahn (Seite 139)

Abends ist er froh, als es „Abtreten!“ heißt.

Dann: „Abtreten“, und ich hatte auch schon einigermaßen Hunger, doch dann erfuhr ich, dass unser Abendessen eigentlich das Brot gewesen war, und das hatte ich ja schon am Morgen gegessen. (Seite 143)

Das ganze Ausmaß dessen, was ihn erwartet, ahnt György zu Beginn noch nicht. Es wäre auch gar nicht zu ertragen gewesen.

Doch immer ein Stück mehr, das konnte man schaffen.

Am vierten Abend muss György wieder in einen Viehwaggon klettern. Drei Tage dauert die Fahrt in das Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar. Von dort wird er in das Nebenlager Zeitz überstellt und zum Arbeiten eingeteilt. Auch in Zeitz befolgt György eifrig die Anordnungen der Wachmannschaft, um nicht unnötig leiden zu müssen.

[…] Es bestand kein Zweifel, das war unser Interesse, das verlangten die Umstände, dazu zwang uns hier, wie soll ich sagen, das Leben selbst. Waren zum Beispiel die Reihen mustergültig ausgerichtet und stimmte der gegenwärtige Bestand, dann dauerte der Appell weniger lange – anfangs zumindest. Waren wir zum Beispiel bei der Arbeit fleißig, dann konnten wir Schläge vermeiden – öfter zumindest. (Seite 162)

Erst in Zeitz bin ich dahinter gekommen, dass auch die Gefangenschaft ihren Alltag hat, ja, dass echte Gefangenschaft im Grunde aus grauem Alltag besteht. (Seite 157)

Trotz allem bewundert György die Deutschen, die im Lager für eine akkurate Ordnung und effiziente Organisation sorgen.

Ein dickes, entzündetes Knie zwingt ihn, sich von zwei anderen Häftlingen zum Revier tragen zu lassen. Es handelt sich um eine Phlegmone. Ein Arzt schneidet ihm ohne Betäubung Öffnungen ins Fleisch, damit der Eiter abfließen kann und verbindet die Wunde mit Papier. Einige Zeit später muss György auch an der Hüfte geschnitten werden. Als arbeitsunfähiger Kranker wird er nach Buchenwald zurückgebracht.

[…] ließ sich ein früher oft gehörter Ausdruck wie „sterbliche Überreste“ nach meinem vormaligen Wissen ausschließlich auf einen Verstorben beziehen. Ich jedoch, daran war kein Zweifel, lebte noch, wenn auch flackernd, ganz hinuntergeschraubt gewissermaßen, aber etwas brannte noch in mir, die Lebensflamme, wie man so sagt – andererseits war da mein Körper, ich wusste alles von ihm, nur war ich selbst irgendwie nicht mehr in ihm drin. […] Als dann am Ende auf einmal – ich weiß nicht, wie, wann und vermittels welcher Hände – statt der Bretter des Eisenbahnwagens die von einer Eishaut überzogenen Pfützen eines gepflasterten Bodens unter meinem Rücken waren, da bedeutete es mir allerdings nicht mehr viel, glücklich in Buchenwald angekommen zu sein […] Auf jeden Fall schien mir, dass ich lange so lag, und ich war einfach da, friedlich, sanft, ohne Neugier, voller Geduld, einfach da, wo sie mich hingelegt hatten. Ich spürte weder Kälte noch Schmerz, und auch dass mir irgendwie ein stechender Niederschlag, zwischen Schnee und Regen, das Gesicht nass machte, wurde mir eher von meinem Verstand als von meiner Haut vermittelt. […] Aber da hatten sie sich schon über mich gebeugt, und ich musste zwinkern, weil sich eine Hand irgendwie in der Gegend meiner Augen zu schaffen machte, bevor sie auch mich auf die Ladung eines kleinen Karrens fallen ließen und mich irgendwohin zu schieben begangen, wohin, darauf war ich gar nicht so neugierig. Nur eines beschäftigte mich, ein Gedanke, eine Frage, die mir eben erst gekommen war. Mag sein, es war mein Fehler, dass ich es nicht wusste, aber ich war nie so vorausblickend gewesen, mich nach den Buchenwalder Gebräuchen, nach der Ordnung, der Verfahrensweise zu erkundigen, nämlich, mit einem Wort, wie sie es hier eigentlich machten: mit Gas, wie in Auschwitz, oder vielleicht mit Hilfe von Medikamenten, wovon ich dort ebenfalls gehört hatte; vielleicht mit der Kugel, vielleicht anderswie, mit einer der tausenderlei Methoden, für die meine Kenntnisse nicht ausreichten – ich wusste es einfach nicht. Auf jeden Fall hoffte ich, das würde nicht wehtun, und es mutet vielleicht seltsam an, aber diese Hoffnung war genauso echt, erfüllte mich genauso wie andere, wirklichere Hoffnungen – um es so zu sagen –, die man an die Zukunft knüpft. (Seite 192ff)

Als der Fünfzehnjährige in ein Krankenbett gelegt wird, argwöhnt er, als Opfer für medizinische Versuche ausgesucht worden zu sein, denn er kann es nicht glauben, dass jemand ihn einfach so pflegt.

Schließlich ist in der Ferne ein dumpfes Grollen zu hören. Dann heißt es über Lautsprecher: „An alle SS-Angehörigen. Das Lager ist sofort zu verlassen!“ Anschließend meldet sich der Lagerälteste: „Wir sind frei!“ Die Botschaft wird in mehreren Sprachen wiederholt, auch auf Ungarisch.

„Das ungarische Lagerkomitee …“, und ich dachte: nun, sieh an, das hätte ich auch nicht geglaubt, dass es so etwas gibt. Aber ich konnte noch so Acht geben, auch bei ihnen war, wie bei allen anderen vorher, nur von Freiheit die Rede und keine Andeutung, kein Wort von der noch ausstehenden Suppe. Auch ich war, natürlich, äußerst erfreut, dass wir frei waren, aber ich konnte halt nichts dafür, ich musste andererseits einfach denken: gestern hätte so etwas zum Beispiel noch nicht vorkommen können. Draußen war der Aprilabend schon dunkel, auch Pjetka war wieder da, erhitzt, aufgewühlt, voll von unverständlichen Worten, als sich der Lagerälteste endlich über den Lautsprecher wieder meldete. Diesmal wandte er sich an die ehemaligen Mitglieder des Kartoffelschälkommandos und bat sie, so freundlich zu sein und ihre alten Plätze in der Küche wieder einzunehmen, die anderen Bewohner des Lagers hingegen ersuchte er, wach zu bleiben, und wenn es sein müsse, bis Mitternacht, denn man sei im Begriff, sich an die Zubereitung einer kräftigen Gulaschsuppe zu machen: da erst sank ich erleichtert auf mein Kissen zurück, da erst löste sich langsam etwas in mir, da erst dachte auch ich – wohl zum ersten Mal ernstlicher – an die Freiheit. (Seite 228)

„In einem der wohnlichen, mit einem Spiegel eingerichteten Zimmer des SS-Krankenhauses“ sieht György sein Gesicht. Es überrascht ihn etwas, denn von früher her hat er ein anderes Gesicht in Erinnerung. (Seite 229)

Er schlägt sich nach Budapest durch und klingelt an der Tür seiner Eltern. Eine fremde Frau mittleren Alters öffnet die Tür soweit es die vorgelegte Sperrkette zulässt. „Ich wohne hier“, erklärt er, aber da erwidert sie: „Nein, hier wohnen wir.“ Und drückt die Tür wieder zu. György klingelt bei den Nachbarn. Sie bestätigen, dass in die Wohnung seiner Eltern andere Leute eingezogen sind. Sein Vater starb im Arbeitslager. Seine Stiefmutter heiratete wieder, offenbar Herrn Sütö.

„Vor allem“, sagte er [Herr Steiner], „musst du die Gräuel vergessen.“ Ich war noch mehr überrascht und habe gefragt: „Wieso?“ – „Damit du“, antwortete er, „leben kannst“, und Herr Fleischmann nickte und fügte hinzu: „Frei leben“, worauf der andere Alte nickte und hinzufügte: „Mit einer solchen Last kann man kein neues Leben beginnen“, und da hatte er bis zu einem gewissen Grad Recht, das musste ich zugeben. Nur verstand ich nicht ganz, wie sie etwas verlangen konnten, was unmöglich ist, und ich habe dann auch bemerkt, was geschehen sei, sei geschehen, und ich könne ja meinem Erinnerungsvermögen nichts befehlen. Ein neues Leben – meinte ich – könnte ich nur beginnen, wenn ich neu geboren würde oder wenn irgendein Leiden, eine Krankheit oder so etwas meinen Geist befiele, was sie mir ja hoffentlich nicht wünschten. (Seite 243)

Weder versteht György die Nachbarn, noch können diese sich in seine Lage versetzen. Er wirft ihnen vor, sich von seinem Vater verabschiedet, sonst jedoch nichts unternommen zu haben.

„Was?“, fuhr dieser [Steiner] mich an, mit hochrotem Gesicht, sich mit der Faust auf die Brust schlagend. „Am Ende sind wir noch die Schuldigen, wir, die Opfer?“, und ich versuchte, ihm zu erklären: es gehe nicht um Schuld, sondern nur darum, dass man etwas einsehen müsse, schlicht und einfach, allein dem Verstand zuliebe, des Anstands wegen, sozusagen. (Seite 246)

György macht sich auf den Weg zu seiner Mutter. Weil er kein Geld hat, geht er zu Fuß.

[…] es gibt keine Absurdität, die man nicht ganz natürlich leben würde, und auf meinem Weg, das weiß ich schon jetzt, lauert wie eine unvermeidliche Falle das Glück auf mich. Denn sogar dort, bei den Schornsteinen, gab es in der Pause zwischen den Qualen etwas, das dem Glück ähnlich war. Alle fragen mich immer nur nach Übeln, den „Gräueln“: obgleich für mich vielleicht gerade diese Erfahrung die denkwürdigste ist. Ja, davon, vom Glück der Konzentrationslager, müsste ich ihnen erzählen, das nächste Mal, wenn sie mich fragen.
Wenn sie überhaupt fragen. Und wenn ich es nicht vergesse. (Seite 247)

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Imre Kertész wurde am 9. November 1929 in Budapest geboren. Seine Eltern wollten sich gerade scheiden lassen. Nach der Grundschule kam er 1940 aufs Gymnasium, in eine Klasse speziell für jüdische Kinder. 1944 deportierte man ihn nach Auschwitz, später in das Konzentrationslager in Buchenwald. Im Juli 1945 kehrte er nach Budapest zurück, holte das Abitur nach und begann, sich als Journalist, Schriftsteller und Übersetzer zu betätigen. Zwischendurch verdiente er seinen Lebensunterhalt in einer Fabrik und leistete seinen Wehrdienst. Von 1960 bis 1973 arbeitete er an dem „Roman eines Schicksallosen“, für den er 1975 einen staatlichen Verlag in Ungarn fand. Doch erst durch die Neuauflage von 1985 und besonders die deutsche Erstausgabe von 1996 wurde Imre Kertész einem größeren Publikum bekannt.

Der „Roman eines Schicksallosen“ ist ein Buch über einen Fünfzehnjährigen, der wie 900 000 andere jüdische Ungarn im Zweiten Weltkrieg deportiert wird. Zwei Drittel von ihnen kommen ums Leben. Der Junge überlebt den Holocaust in Auschwitz und Buchenwald.

Im Roman eines Schicksallosen besteht seine den Leser schier um den Verstand bringende Überlebensstrategie darin, sich in die Sichtweise der Täter einzufühlen, das KZ-Leben Schritt für Schritt anzunehmen, zu beteuern, „ein bisschen möchte ich noch leben in diesem schönen Konzentrationslager“, und am Ende gar vom „Glück der Konzentrationslager“ zu sprechen. Diesem erschütterndem Kunstgriff verdankt der Roman seinen Weltruhm.
(Iris Radisch, Die Zeit, 2. Juni 2005)

Nach der Rettung aus dem Konzentrationslager braucht György nur eien einzigen Tag in Budapest, um zu begreifen, dass er sich nirgendwo mehr heimisch fühlen kann, denn zwischen ihm und den zu Hause Gebliebenen hat sich eine unüberbrückbare Kluft des Unverständnisses aufgetan.

Der Roman wird chronologisch und konsequent aus der subjektiven Ich-Perspektive des Protagonsten György erzählt.

Imre Kertész zeigt den Holocaust nicht als Tragödie des Judentums oder des 20. Jahrhunderts, sondern als Bankrott der christlich-europäischen Kultur. Er versucht nicht, das Grauen auszumalen, sondern er schildert den Alltag in einem Konzentrationslager aus der Sicht eines Kindes, ohne zu werten oder nach Erklärungen zu suchen. Gerade das macht den „Roman eines Schicksallosen“ zu einer erschütternden Lektüre.

Roman eines Schicksallosen gilt gemeinhin als sein Hauptwerk. Das mag stimmen. Dieser scheinbar schlichte, nüchterne und bescheidene Bericht über das Leben und Leiden eines Jungen in Auschwitz, Zeitz und Buchenwald besitzt eine Gewichtigkeit und eine Unwiderlegbarkeit, die ihn nicht nur innerhalb des Schaffens des Autors, sondern der zeitgenössischen europäischen Literatur insgesamt herausragen lassen.
(Torgny Lindgren in seiner Rede zur Verleihung des Literaturnobelpreises an Imre Kertész am 10. Dezember 2002 in Stockholm. © The Nobel Foundation, Stockholm 2002)

2002 erhielt Imre Kertész den Nobelpreis für Literatur und wurde Ehrenbürger von Budapest.

Für die von Lajos Koltai inszenierte Verfilmung des Romans schrieb Imre Kertesz das Drehbuch: „Roman eines Schicksallosen“.

Imre Kertész starb am 31. März 2016 im Alter von 86 Jahren.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2003 / 2009 / 2016
Textauszüge: © Berlin Verlag. Die Seitenangaben beziehen sich auf den 2003
im Verlag Coron bei Kindler, Berlin, veröffentlichten Band 97 der Reihe „Nobelpreis für Literatur“.

Lajos Koltai: Roman eines Schicksallosen

Buchenwald
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Holocaust
Eugen Kogon: Der SS-Staat

Imre Kertész: Detektivgeschichte
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