Jonas Karlsson : Das Zimmer

Das Zimmer
Originalausgabe: Rummet in "Den Perfekta Vännen" Wahlström & Widstrand, Stockholm 2009 Das Zimmer Übersetzung: Paul Berf Luchterhand Literaturverlag, München 2016 ISBN: 978-3-630-87460-9, 172 Seiten ISBN: 978-3-641-18707-1 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Björn entdeckt bald nach seiner Versetzung in eine andere Behörde zwischen Aufzug und Toiletten ein unbenutztes Zimmer. Dort ruht er sich nun gern ein paar Minuten aus, wenn er von der Arbeit im Großraumbüro erschöpft ist. Aber die Kollegen behaupten, es gebe das Zimmer gar nicht und er stehe nur am Korridor herum. Haben sie sich einen Streich ausgedacht oder handelt es sich um systematisches Mobbing?
mehr erfahren

Kritik

Aus einem originellen Plot hat Jonas Karlsson mit immer neuen Einfällen und Wendungen, aber auch mit sicherem Gespür für Dramaturgie den faszinierenden, grotesken und umwerfend komischen Roman "Das Zimmer" komponiert.
mehr erfahren

Der Ich-Erzähler Björn fängt neu an

Björn wird auf Anraten seines Chefs zu einer anderen Behörde in Stockholm versetzt. Er sitzt nun als einer von 23 Beamten in einem Großraumbüro in der dritten Etage.

Abends und am Wochenende beschäftigte ich mich mit den internen Strukturen der Behörde und versuchte herauszufinden, welche informellen Kommunikationskanäle es in meiner Abteilung möglicherweise gab.

Eine Gehaltserhöhung ist mit der neuen Position nicht verbunden. Aber Björn gibt sich Mühe, zumal er überzeugt ist, dass er berufen ist, die Leitung der Abteilung von Karl zu übernehmen.

Erkannte ich eventuell schon damals, dass er als Chef keine Idealbesetzung war und stattdessen ich eines Tages die Kontrolle über die Abteilung übernehmen würde?

Gewöhnliche Menschen können immer nur eine Sache auf einmal in Angriff nehmen. Ich dagegen kann alles Mögliche gleichzeitig in Angriff nehmen.

Björn entdeckt ein Zimmer

Nach zwei Wochen entdeckt Björn ein Zimmer zwischen Aufzug und Toiletten, das ihm zuvor noch nicht aufgefallen ist.

Es war ein relativ kleines Zimmer. Ein Tisch in der Mitte. Ein Computer, Aktenordner in einem Regal. Stifte und sonstiges Büromaterial.

Dass der Lichtschalter außen angebracht ist, wundert Björn. Beim vierten Betreten des Zimmers nimmt er Håkan mit, der ihm am Schreibtisch gegenüber sitzt und den er erst zwei Tage zuvor ermahnte, nicht immer wieder Akten über die Schreibtischgrenzen zu schieben.

Eine kurze Romanze

Während der Weihnachtsfeier hält sich Björn eine halbe Stunde lang mit der ihm vom ersten Augenblick an sehr sympathischen Empfangsdame Margareta in dem Zimmer auf.

Wir betraten das Zimmer um kurz nach elf, und ich würde schätzen, dass es gegen halb zwölf war, als wir es wieder verließen. Was in der Zwischenzeit geschah, ist bis heute weitestgehend unklar.

Die Romanze endet allerdings, bevor sie richtig begonnen hat, denn Margarete fragt ihn am nächsten Tag, ob er Drogen nehme.

Wie meinte sie das? Warum fragte sie mich das? Nahm sie selbst etwa Drogen? Wollte sie meine Gesellschaft bei irgendwelchen Drogeneskapaden?

Dieses ständige Lächeln. Diese optimistische Ausstrahlung. Das war natürlich eine hart erkämpfte, chemische Freundlichkeit. Ich war schnurstracks in ihre Falle getappt. Sich von der Fassade des Drogenabhängigen blenden zu lassen, war die Kehrseite davon, ein offener und ehrlicher, ein argloser Mensch zu sein.
Ich begriff, dass ich mich in Zukunft von ihr würde fernhalten müssen.

Diese aufgedonnerte Fassade, dieses schöne Wesen, das sich, schneller als man makellos sagen kann, als eine Drogenabhängige herausstellt.

Die Kollegen behaupten, es gebe das Zimmer nicht

Håkan fragt ihn schließlich am Schreibtisch: „Was tust du, wenn du da so herumstehst?“ Björn versteht nicht, was sein Gegenüber meint. Sein Kollege versucht es zu erläutern:

„Du bist völlig weg. Es ist irgendwie, als wärst du ganz woanders. Total weg. Scheiße, dein Handy hat doch sogar in der Jacketttasche geklingelt. Ich habe dich gefragt, ob du nicht drangehen willst, aber du hast dich keinen Millimeter gerührt. Als hättest du mich gar nicht gehört. Als wärst du sonstwo.“
„Wann habe ich das getan?“
„Vor ein paar Tagen. Du wolltest, dass ich mitkomme. Dann hast du dich da einfach hingestellt.“
„Und wie lange bleibe ich dann so stehen?“
„Das ist unterschiedlich.“

Björn geht mit Håkan hinaus und zeigt auf die Tür des Zimmers, aber der Kollege sieht dort nur eine Wand. Einen Kollegen nach dem anderen fordert Björn auf, zu bestätigen, dass sich zwischen Aufzug und Toiletten noch eine Tür befindet, aber alle behaupten, nur die Wand zu sehen.

Ich war mit absoluter Sicherheit das Opfer eines sehr umfassenden und ausgeklügelten Streichs geworden.

Als ich zum achten Mal das Zimmer betrat, nahm ich außer Karl die ganze Abteilung mit. Jeder Einzelne trat über die Schwelle und als ich sie alle darin versammelt hatte, machte ich ihnen klar, dass ich ihren kleinen Scherz durchschaut hatte. Ich sagte ihnen, dass ich nicht wisse, wer sie zu der Aktion angestiftet habe, aber dass ich ihnen inzwischen auf die Schliche gekommen sei.

Daraufhin versammelt sich die gesamte Abteilung in Karls Büro. Björn hält das Verhalten seiner Kolleginnen und Kollegen für „systematisches Mobbing“.

„Ich würde mal meinen, der Auslöser für das Ganze dürfte darin zu suchen sein, dass dem einen oder anderen aufgefallen ist, dass ich mir die Freiheit genommen habe, mich bei zwei, drei Gelegenheiten davonzustehlen und aus dem Alleinsein neue Kraft zu schöpfen. Dass ich mich in dem kleinen Zimmer neben dem Aufzug ein wenig ausgeruht habe.“

Karl versucht, die Situation zu retten, indem er Björn „unabhängig davon, ob es da nun ein Zimmer gibt oder nicht“ auffordert, nicht mehr hinzugehen.

Ich ging nochmals durch den kleinen Flur, um mich zu vergewissern, dass die Tür nicht plötzlich verschwunden war und ich mir das Ganze nur eingebildet hatte. Aber die Tür war noch da.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


 

Spoiler

Als Björn es nicht mehr aushält und sich für eine Weile in die Nähe der Tür stellt, wird er von Ann ertappt, und sie ruft daraufhin die Abteilung zusammen.

„Er war wieder da“, sagte sie etwas später, als wir beide in Karls Büro standen.
„Das war ich nicht“, widersprach ich.
„Ich habe dich doch gesehen.“
„Nein.“
„Ich habe dich gesehen. Du hast da wieder so gestanden.“
„Nein, ich stand da nur.“
„Sag ich doch.“
„Man wird ja wohl noch irgendwo stehen dürfen, oder? Es kann einen ja wohl keiner daran hindern, einen Moment lang irgendwo stehen zu bleiben?“

[…] ich merkte, wie einsam man sich fühlt, wenn man ständig der Einzige ist, der in dieser so leicht zu täuschenden Welt die Wahrheit sieht.

Beschränkte Menschen sehen die Welt nicht, wie sie ist. Sie sehen nur, was sie sehen wollen. Sie nehmen keine Nuancen wahr. Diese kleinen Dinge, die den Unterschied ausmachen.
Viele, deutlich mehr, als man meinen sollte, glauben, alles wäre gut. Sie sind zufrieden mit dem Stand der Dinge, so, wie er ist. Sie entdecken die Fehler nicht, weil sie zu faul sind, um sich aus dem Alltagstrott herausreißen zu lassen. Sie glauben, wenn man nur stets sein Bestes gibt, wird sich für alles eine Lösung finden.
Sie muss man ermahnen. Solchen Menschen muss man ihre Unzulänglichkeiten vor Augen führen.

Nachdem Björn die Telefonliste aktualisiert hat, erhält der den Auftrag, die Drucker zu überprüfen und mit Papier zu befülllen.

Als Håkan erneut Akten auf seinen Schreibtisch schiebt, nimmt Björn sie unbemerkt an sich und versteckt sie in seiner Schublade. Am Abend, als alle bis auf ihn gegangen sind, geht er mit dem Vorgang 1636 ins Zimmer.

Karl lobt am nächsten Morgen Håkan mit dem Vorgang 1636 in der Hand:

„Suuuuuper […]. So habe ich mir das vorgestellt“, sagte Karl. „Das ist klasse, Håkan, verdammt, das ist genial. Sachlich und stringent.“

Håkan erklärt jedoch, er habe den Vorgang nicht bearbeitet.

Als Björn die dritte Akte auf Karls Schreibtisch legt, achtet er darauf, dass Ann ihn dabei beobachtet. Wie erwartet, berichtet sie Karl nach dessen Eintreffen sofort darüber. Zur Rede gestellt, leugnet Björn, dass er die Akten gestohlen habe.

„Ich bin davon ausgegangen, dass es meine Aufgabe sein sollte, weil die Akten auf meinem Tisch lagen.“

Wie Björn an die Akten kam, spielt allerdings keine Rolle, denn Karl und dessen Vorgesetzte sind begeistert. Die von Björn verfassten Texte sollen als Muster für alle weiteren Rahmenbeschlüsse auf kommunaler Ebene dienen. Er macht also weiter.

Im Lauf der Zeit beginnt er sich allerdings darüber zu ärgern, dass er seinen eigentlichen Arbeitsplatz verheimlichen und nachts arbeiten muss. Um seine Lage zu verbessern, droht er Karl, dass er sich versetzen lassen könnte, falls er nicht freien Zugang zu dem Zimmer bekomme.

„Gelinde gesagt“, begann ich, „könnte man sagen, dass ich rein arbeitstechnisch den größten Beitrag von uns allen leiste. Ich muss sagen, dass ich es deshalb mehr als angemessen finde, wenn ich Zugang zu einem eigenen Raum bekomme, und das Zimmer ist ein Ort, an dem ich das Gefühl habe, gut arbeiten zu können.“

Karl geht zum Direktor, um dessen Entscheidung einzuholen. Als er zurückkommt, behauptet er, der Direktor habe ihm die Baupläne gezeigt und damit bewiesen, dass es zwischen Aufzug und Toiletten in der dritten Etage kein Zimmer gibt.

Ich versuchte zu ergründen, ob der Direktor in diese Verschwörung verwickelt sein könnte, oder ob Karl einfach gelogen hatte.

Zwischen Aufzug und Toiletten wird ein Absperrband angebracht. Aber als Björn zwei Männer in schwarzen Mänteln kommen sieht, missachtet er die Absperrung und versteckt sich im Zimmer. Es klopft an der Tür, und er hört seinen Namen rufen. Daraufhin schließt er die Augen, atmet tief durch und verbirgt sich in der Wand.

Hier findet ihr mich nie.

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Der Roman „Das Zimmer“ von Jonas Karlsson spielt fast ausschließlich in einem Großraumbüro. Dort arbeitet eine Abteilung einer Behörde, deren Aufgabe es ist, nicht näher beschriebene Rahmenbeschlüsse zu formulieren: eine kafkaeske Kulisse.

Skurril, ja grotesk ist auch die Handlung, die im Wesentlichen aus der Un­verein­barkeit der Wahrnehmung des Ich-Erzählers und der seiner Kollegen besteht. Björn ist überzeugt, dass es auf der Etage ein Zimmer gibt, dessen Existenz von allen anderen aus welchen Gründen auch immer geleugnet wird. Vielleicht handelt es sich um einen Scherz oder aber auch um systematisches Mobbing. Obwohl wir nur die subjektive Darstellung des Ich-Erzählers kennen, lesen wir zwischen den Zeilen, dass auch seine Selbsteinschätzung von der seiner Kollegen deutlich abweicht.

Aus diesem originellen Plot hat Jonas Karlsson mit immer neuen Einfällen und Wendungen, aber auch mit sicherem Gespür für Dramaturgie einen faszinierenden, umwerfend komischen Roman komponiert.

Sven Bert Jonas Karlsson wurde am 11. März 1971 in Södertälje geboren. Nachdem er bereits als Jugendlicher vor Fernsehkameras gestanden hatte, studierte er 1994 bis 1998 an der Schauspielschule Teaterhögskolan in Stockholm. Für seine Rollen wurde er mehrfach ausgezeichnet. 2007 debütierte er mit dem Roman „Als der Zufall sich zwischen die Stühle setzte“ als Schriftsteller.

Den Roman „Das Zimmer“ von Jonas Karlsson gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Mark Bremer (ISBN 978-3-945986-26-4).

 

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2017
Textauszüge: © Luchterhand Literaturverlag

Simone Lappert - Der Sprung
Simone Lappert stellt in ihrem Roman "Der Sprung" kurze Erzählungen über mehr als 15 gut beobachtete Figuren zusammen, deren Beziehungen teils eng verzahnt, teils lose verknüpft sind. Daraus ergibt sich ein gesellschaftskritisches, durch Humor und Tragikomik auch unterhaltsames Panorama.
Der Sprung