Elisabeth Herrmann : Das Kindermädchen

Das Kindermädchen
Das Kindermädchen Originalausgabe: Rotbuch-Verlag, Hamburg 2005 ISBN: 3-434-53138-6, 432 Seiten Wilhelm Goldmann Verlag, München 2012 ISBN: 978-3-442-47545-2, 446 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Kurz bevor sich die Berliner Senatorin Sigrun Zernikow mit dem Rechtsanwalt Joachim Vernau verlobt, behauptet eine Ukrainerin, sie sei Zwangs­arbeiterin gewesen und 1943 der Familie von Zernikow als Kindermädchen zugeteilt worden. Sigruns Vater Utz von Zernikow erklärt, sein Kindermädchen sei 1944 wegen Diebstahls hingerichtet worden, bei der Bittstellerin müsse es sich also um eine Betrügerin handeln. Joachim Vernau geht der Sache nach ...
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Kritik

NS-Zwangsarbeit und -Raubkunst sind die zentralen Themen des Kriminalromans "Das Kindermädchen". Elisabeth Herrmann erzählt eine spannende, in der Gegenwart spie­lende Geschichte, deren Wurzeln in die letzten Kriegsjahre zurück­reichen. Zur Unterhaltung tragen auch Humor und Ironie bei.
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Der angesehene, 72 Jahre alte Rechtsanwalt Utz von Zernikow wohnt mit seiner auf einen Rollstuhl angewiesenen Mutter Irene Freifrau von Zernikow, geborene von Hollwitz, in einer prächtigen Villa aus der Gründerzeit im Grunewald. Seine Frau Regina starb im Alter von 36 Jahren an Brustkrebs. Seine 37-jährige Tochter Sigrun, die den Adelstitel aus PR-Gründen abgelegt hat, amtiert als Berliner Senatorin für Familie und Soziales. Außerdem kandidiert sie bei der bevorstehenden Wahl des stellvertretenden Bürgermeisters. Ihr fester Freund, der aus einfacheren Verhältnissen stammende Rechtsanwalt Joachim Vernau, ist in der ebenfalls in der Villa untergebrachten Kanzlei ihres Vaters beschäftigt.

Dort versammeln sich nach der Beerdigung des 91-jährigen Familienfreundes Abel von Lehnsfeld im Dahlemer Waldfriedhof die Hinterbliebenen, um über das Erbe zu sprechen: Abels Enkel Aaron von Lehnsfeld will gegen den Rat seines Vaters, des Architekten Abraham von Lehnsfeld, das Erbe einer leer stehenden und heruntergekommenen Villa im Stadtteil Grünau antreten.

„Opa hat mir einen persönlichen Brief hinterlassen. Er will, dass ich mich um das Haus kümmere.“

Abraham von Lehnsfeld hält die Immobilie für ein Kuckucksei. Sein Vater hatte sie 1933 von dem jüdischen Zuckerfabrikanten Felix Glicksberg für ein Spottgeld erworben, war aber 1945 von den Russen enteignet worden. 1953 ging der Besitz in Volkseigentum der DDR über und wurde seitdem von einem antifaschistischen Ruderclub genutzt. Der geriet nach der Wende in finanzielle Schwierigkeiten, und Abel von Lehnsfeld konnte vor acht Jahren seinen Restitutionsanspruch durchsetzen. Inzwischen meldeten sich jedoch Felix Glicksbergs Erben und schalteten die Jewish Claims Conference ein.

Eine alte Frau aus der Ukraine, die sich als Olga Warschenkowa vorstellt, möchte zu Utz von Zernikow. Sie wird abgewiesen, hinterlässt aber bei Joachim Vernau eine Bescheinigung ihrer in Kiew lebenden, aus gesundheitlichen Gründen nicht reisefähigen Freundin Natalja Tscherednitschenkowa, die Utz von Zernikow unterschreiben soll. Der zerreißt allerdings das Papier und wirft die Fetzen in den Papierkorb.

Aaron von Lehnsfeld mietet bereits am Tag nach der Testamentseröffnung einen Bagger und fängt mit zwei Hilfsarbeitern mit Ausschachtungen neben einer Kellerwand der Villa in Grünau an. Weil er damit gegen Auflagen des Liegenschaftsfonds verstößt, wird ein sofortiger Baustopp verhängt und ein gerichtliches Verfahren gegen ihn eingeleitet.

In der Zeitung liest Joachim Vernau, dass Olga Warschenkowas Leiche aus dem Landwehrkanal geborgen wurde. Da erinnert er sich wieder an die Bittstellerin und faxt die von dem Dokument in russischer Sprache angefertigte Kopie seiner Kollegin Marie-Luise Hoffmann, mit der er während des Studiums ein Verhältnis hatte. Während Joachim auf dem Weg in die Oberschicht ist, kümmert Marie-Luise sich nach wie vor in ihrer Kanzlei am Prenzlauer Berg um Sozialfälle. Da sie Russisch kann, soll sie ihm sagen, worum es in dem Brief geht. Olga Warschenkowa behauptet, sie sei als Zwangsarbeiterin nach Berlin verschleppt und schließlich der Familie von Zernikow als Kindermädchen zugewiesen worden. Nun möchte sie die ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern versprochene Entschädigung bei der Ukrainischen Nationalstiftung bzw. dem Deutschen Stiftungsfonds beantragen, benötigt dafür aber noch eine Bestätigung ihrer Angaben, und die erhofft sie sich von Utz von Zernikow.

Sigrun Zernikow kann sich nicht vorstellen, dass ihr Vater etwas damit zu tun haben könnte. Bei Kriegsende war er elf Jahre alt.

Nicht zuletzt, weil sie sich davon im Wahlkampf Vorteile verspricht, schlägt Sigrun ihrem Freund vor, noch vor den Wahlen zu heiraten.

Am selben Tag wird Joachim Vernau von einer jungen, mit einer Pistole bewaffneten Frau überfallen. Sie nennt sich Milla Tscherednitschenkowa, gibt sich als Nataljas Tochter aus und behauptet, Olga Warschenkowa sei ermordet worden. Die Polizei geht zwar von einem Unfall aus, aber Milla weist darauf hin, dass Olga, die beste Freundin ihrer Mutter, eine hervorragende Schwimmerin war. Milla ist nach Berlin gekommen, um das Anliegen ihrer Mutter zu unterstützen.

Als zwei wegen der Prügelei alarmierte Streifenbeamte klingeln und Milla fragen, ob sie verletzt sei, antwortet sie spontan:

„Nur im Herzen. Hat versprochen, mich zu heiraten. Holt mich nach Deutschland und hat andere Frau. Schwein.“

Joachim Vernau wendet sich an Utz von Zernikow und drängt ihn, eine entsprechende Erklärung aufzusetzen, aber Irene Freifrau von Zernikow erhebt dagegen Einspruch, und Utz behauptet, sein Kindermädchen Natalja sei wegen Diebstahls am 15. November 1944 in Berlin hingerichtet worden, bei der Bittstellerin müsse es sich also um eine Betrügerin handeln.

Kurz darauf richtet Utz von Zernikow die Verlobungsfeier für seine Tochter Sigrun und Joachim Vernau aus. Bei dieser Gelegenheit bietet er seinem Mitarbeiter an, ihn zum Partner zu machen: „In Zukunft also: Zernikow & Vernau“. Da platzt Milla mit einer Pistole in der Hand in die Familienfeier. Bei der herbeigerufenen Streifenwagenbesatzung handelt es sich ausgerechnet um dieselbe, die auch in Joachims Wohnung war, und einer der beiden Beamten berichtet der Senatorin, dass die junge, jetzt festgenommene Ukrainerin von dem anwesenden Herrn Vernau mit einem Heiratsversprechen nach Deutschland gelockt worden sei. Daraufhin widerruft Sigrun die Absicht, sich mit Joachim trauen zu lassen, und ihr Vater bringt ihn dazu, einen Auflösungsvertrag zu unterschreiben. Aus Zernikow & Vernau wird erst recht nichts. Stattdessen wechselt Joachim als Partner in Marie-Luise Hoffmanns Kanzlei und zieht wieder zu seiner Mutter.

Marie-Luise Hoffmann, die sich von Joachim überreden lässt, Milla juristischen Beistand zu leisten, bekommt ihre Mandantin rasch aus der Haft frei, aber am nächsten Tag wird die Ukrainerin beim Überqueren einer Straße von einem Auto angefahren und schwer verletzt. Es sieht nach einem Mordanschlag aus, denn der Fahrer bremste nicht, machte auch keinen Ausweichversuch und raste unerkannt davon. Außerdem stellt sich heraus, dass sowohl Olga Warschenkowa als auch Milla Tscherednitschenkowa zuletzt jeweils von einem dunklen Jaguar abgeholt worden waren.

Während Milla im Rudolf-Virchow-Klinikum liegt, lernt Marie-Luise eine Frau namens Ekaterina Mahler kennen, die sich mit dem Schicksal von Zwangs­arbeite­rinnen beschäftigt und herausfindet, dass Natalja Tscherednitschenkowa zwar am 14. November 1944 zum Tod verurteilt worden war, aber vor der Hinrichtung fliehen konnte. Marie-Luise fährt mit Joachim zu dem verwitweten Bauern Kähnrich im Havelland, auf dessen Hof Natalja und ihre Freundin Olga im Winter 1944/45 lebten. Im Stall graben sie die Arbeitsbücher der beiden Frauen aus. Damit kann bewiesen werden, dass die am 14. Juni 1931 in Kiew geborene Natalja Tscherednitschenkowa von 1943/44 als Zwangsarbeiterin bei der Familie von Zernikow im Dienst war und berechtigt ist, eine Entschädigung zu fordern.

Joachim vertraut den Schlüssel zu dem Schließfach am Bahnhof Zoo, in dem er die Arbeitsbücher deponiert hat, trotz allem Sigrun Zernikow an, und zwar in der Erwartung, dass sie ihren Vater damit konfrontiert. Stattdessen gelangt ihre Großmutter in den Besitz der Dokumente – und wirft sie ins Kaminfeuer.

Obwohl Joachim Vernau nicht mehr für Utz von Zernikows Kanzlei arbeitet, erhält er die von ihm wegen der Rückübertragung der Villa in Grünau angeforderten Pläne aus den Jahren 1922 und 1955 vom Grundbuchamt zugeschickt, irrtümlich an seine Privatadresse.

Einige Zeit später wird er in der Kanzlei von zwei maskierten Männern überfallen und zusammengeschlagen. Zunächst kann er sich nicht vorstellen, warum sie es taten, aber dann merkt er, dass sie den Bauplan aus dem Jahr 1922 gegen eine Fälschung auswechselten. Der Keller ist nun ebenso wie im Plan von 1955 kleiner als das Erdgeschoss eingezeichnet. Joachim erinnert sich jedoch, dass das Haus auf dem Plan, den er vom Grundbuchamt bekam, auf der gesamten Grundfläche unterkellert war. Nun fehlen schätzungsweise 33 Quadratmeter. Was hat das zu bedeuten?

Um es herauszufinden, brechen Joachim und Marie-Luise in die Villa ein. Von dem Kellerraum, in den sie vordringen, wurde offenbar ein Teil abgetrennt und zugemauert. Auf einem Tisch liegt ein Akku-Schlagbohrer, und in der Zwischenwand klafft bereits ein Loch in der Größe eines Gully-Deckels, durch das Joachim in den anderen Raum blicken kann, in dem Holzkisten stehen. Der Einbruch blieb nicht unbemerkt: Zwei Männer tauchen auf. Joachim und Marie-Luise fliehen in verschiedene Richtungen. Joachim springt in die nahe Dahme und rettet sich auf die Fähre, die daraufhin beschossen und von einem Motorboot verfolgt wird. Als die Wasserschutzpolizei eintrifft, springt Joachim erneut ins Wasser, schwimmt ans Ufer und telefoniert mit Marie-Luise, die ihn bald darauf mit dem Wagen abholt.

Millas Verlobter Horst Cahlow reist an und weicht nicht von ihrem Krankenhausbett. Als sie endlich zu sich kommt, verständigt er Joachim Vernau. Sie erinnert sich, dass ein männlicher Anrufer ihr mitteilte, sie werde im Hotel abgeholt und bekomme die von ihrer Mutter gewünschte Unterschrift. Den Fahrer, der eine Sonnenbrille trug, kannte sie nicht. Am Kurfürstendamm hielt er an und sagte ihr, man erwarte sie auf der anderen Straßenseite. Als sie ausstieg und losging, wurde sie überfahren.

Die von Joachim und Marie-Luise mit Unterstützung des Praktikanten Kevin durchgeführten Nachforschungen ergeben, dass Abel von Lehnsfeld als Kunsthändler für Hermann Göring und andere Nazi-Größen im Einsatz war. Unterschlug er Kunstwerke und versteckte sie in dem geheimen Keller seiner Villa in Grünau? Weiß Aaron von Lehnsfeld das – etwa durch den bei der Testamentseröffnung erwähnten Brief seines Großvaters – und versuchte deshalb, eine Außenmauer des Kellers zu öffnen, um den Schatz abtransportieren zu können?

Nach einem weiteren Gespräch mit Joachim begreift Sigrun, dass da etwas aufgeklärt werden muss und geht mit ihrem früheren Verlobten zu ihrem Vater, um diesen zur Rede zu stellen. Utz von Zernikow meint bitter:

„Dein Großvater, Sigrun, war ein Fahnenflüchtiger und ein Dieb. Deine Großmutter war eine Hure, die es mit jedem getrieben hat, der eine Uniform trug. Und ich war ein verblendeter, überzeugter Hitler-Junge, der voll hinter Führer und Vaterland gestanden hat. Das ist deine Familie. Ein Haufen egoistischer, gieriger Barbaren.“

Utz war neun Jahre alt, als Natalja Tscherednitschenkowa 1943 als Kindermädchen zur Familie kam. Sie war gerade einmal drei Jahre älter als er. Während die Mutter sich kaum um ihn kümmerte, auch nicht als er an Diphtherie erkrankte, kühlte Natalja ihm die Stirn, wenn er Fieber hatte und wärmte ihn, wenn er fröstelte. Im Sommer 1944 beschloss seine Mutter, ihn wegen der Luftangriffe gegen Berlin der Kinderlandverschickung zu überlassen. Ob er denn nicht auf dem Gut seiner Großeltern gewesen sei, fragt Sigrun.

Utz lächelte. „Das hat’s nie gegeben. Die ganze wohlhabende Familie der Freifrau von Hollwitz war ein versprengter Haufen armer Kirchenmäuse. Das durfte natürlich niemand wissen. Und deshalb hieß es immer, der Junge ist auf unserem Gut in Pommern.“


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Im Herbst 1944 erhielt Utz auf Umwegen einen Brief von Natalja. Weil die Villa der Familie von Zernikow getroffen worden war, lebte die Freifrau mit ihrem Sohn und der Zwangsarbeiterin bei der befreundeten Familie von Lehnfeld in Grünau. Natalja teilte dem Jungen mit, dass sie seinen zuletzt in Belgien stationierten, seit dem 3. September als vermisst gemeldeten Vater im Haus der Lehnfelds gesehen habe. Die Nachricht, dass sein Vater lebte, sollte ihm Freude machen. Utz brach sofort nach Berlin auf. (Bisher hieß es, er sei im Februar 1945 zurückgekommen.) Während er bei den Lehnfelds war, wurde Berlin bombardiert, und er verbrachte die Nacht mit Natalja im Keller.

Kurz darauf durchsuchte die Gestapo aufgrund eines anonymen Hinweises Nataljas Zimmer, fand ein goldenes Kreuz und nahm sie fest. Am 14. November wurde die inzwischen 14 Jahre alte Zwangsarbeiterin Natalja Tscherednitschenkowa wegen Diebstahls von einem Sondergericht zum Tod verurteilt. Und einer Mitteilung an Irene Freifrau von Zernikow zufolge wurde sie am nächsten Tag hingerichtet.

Einige Wochen später traf die Nachricht ein, dass Wilhelm von Zernikow am 18. Dezember 1944 in der Ardennen-Offensive gefallen war.

Joachim Vernau fasst zusammen:

„Was wäre, wenn Wilhelm von Zernikow, der offiziell als vermisst galt, in dieser Rette-sich-wer-kann-Zeit im Auftrag des obersten Kunsträubers Lehnsfeld unterwegs gewesen war, um aus Kellern und Salzbergwerken ein paar Wagenladungen kostbares Strandgut auf die sichere Seite zu bringen? Natalja sieht ihn durch Zufall. Wilhelm schenkt ihr das Kreuz und verpflichtet sie zu strengstem Stillschweigen. Doch Natalja weiß, wie sehr Utz an seinem Vater hängt, und schreibt, dass er in Berlin ist. Als Utz erscheint, geht den Lehnsfelds der Arsch auf Grundeis. Sie wissen, woher das Kreuz kommt, das Natalja trägt. Sie hat sich bei Utz verplappert. Sie hat vielleicht unwissentlich noch mehr gesehen als in diesen paar Stunden im Keller. Sie müssen sie mundtot machen und erstatten Anzeige. Abel von Lehnsfeld gegen eine Ostarbeiterin. Jedes Kind weiß, wie das ausgehen wird. Utz macht man klar, dass er einer Lüge auf den Leim gegangen ist. Sein Vater ist nicht heimgekommen, Natalja hat gelogen oder sich selbst getäuscht. Und weil alles andere undenkbar ist, verdrängt Utz die Zweifel und glaubt schließlich selbst, was man ihm erzählt hat. Perfekt. […]
Und nun passiert Folgendes. Die Russen kommen. Abel kann gerade noch eine Mauer im Keller hochziehen und den neuen Grundriss als Bombenschaden ausgeben, dann muss er gehen. Keine Chance, jemals wieder an den Schatz heranzukommen. Die ganzen langen, bitteren Jahre der DDR-Zeit. […]
Dann kommt die Wende. Abel verlangt die Rückübertragung, vergisst aber, dass das Haus schon längst der Allgemeinheit gehört. Auch elitäre Ruderclubs sind Sportvereine, die besonderen Schutz genießen. Er streitet sich einige Jahre und stellt dabei fest, dass sein eigener Sohn ein Weichei ist. Dem kann er nicht mit Kriegsbeute kommen. Der würde sofort alles dem nächsten Museum schenken. Aber der Enkel. Aaron ist aus dem gleichen Holz geschnitzt wie der Alte. Die beiden verstehen sich. In seinem Testament schreibt er, wo Abel graben muss. […]
Aber Aaron ist nicht so schlau wie sein Großvater. Er kann nicht warten. Er holt sich einen Bagger und fängt einfach an. Natürlich wird er erwischt, und der Liegenschaftsfonds erzwingt den Baustopp. Aaron ist außer sich. Es geht um Millionen. Er ist so nah dran. Er ist der Einzige, der weiß, was im Keller verborgen ist. Er versucht es sogar heimlich mit dem Schlagbohrer. Doch da passiert das Unfassbare. Die tot geglaubte Natalja taucht auf. Die Zeugin.“

„Aaron hat Olga ermordet“, fuhr ich fort. „Wahrscheinlich hat er gehofft, dass nach diesem vermeintlichen Unfall erst einmal Ruhe einkehren würde. Aber dann ist Milla aufgetaucht. Sie wusste nicht, was geschehen war. Sie wollte einfach nur die Unterschrift.“

Obwohl er den Einbruch in die Villa in Grünau beinahe mit dem Leben bezahlt hätte, beschließt Joachim Vernau, sich noch einmal dort umzusehen, und weil der 72-jährige Utz von Zernikow dabei sein will, kommt auch Sigrun trotz ihrer Bedenken gegen das Vorhaben mit. An der Villa in Grünau treffen sie auf Marie-Luise Hoffmann, der Joachim am Telefon von seinem Plan erzählte.

Durch einen zweiten Kellereingang gelangen sie ins Haus. Gerade als die Eindringlinge festgestellt haben, dass der abgeteilte Keller inzwischen leer geräumt wurde, hören sie den Motor eines Baufahrzeugs, und der Gang, durch den sie gekommen sind, stürzt ein. Sie sind eingeschlossen, und ihre Handys haben kein Netz.

In dieser aussichtslosen Lage gesteht Utz von Zernikow leise, dass er Natalja verraten habe.

„Es hatte einen schweren Luftangriff gegeben. Meine Mutter hatte den Keller verschlossen, wie so oft, wenn nachts ein Auto vorgefahren kam, und etwas ausgeladen wurde. Wir waren wohl so etwas wie die angesehensten Hehler vom Grunewald. Der Keller blieb so lange zu, bis ein anderes Auto kam, um abzuholen, was dort gelagert war. Aber die Angriffe kamen immer häufiger, und meine Mutter war immer seltener zu Hause. An diesem Abend war das Bombardement so heftig, dass Natalja entgegen jeder Anweisung die Kellertür aufbrach, um uns in Sicherheit zu bringen. Wir hatten riesiges Glück. Es war die Nacht, in der der Blindgänger in die Kartoffeln fiel. […] Wir verließen den Keller unversehrt. Aber ich war neugierig. In der Nacht bin ich noch einmal hinuntergeschlichen.“

In dem Keller lagerten Gemälde und Schmucksachen. Utz nahm ein goldenes Kreuz und schenkte es Natalja.

„Als sie nach Grünau kam, haben die Lehnsfelds es entdeckt. Heute weiß ich, dass alle deshalb dachten, Natalja wüsste Bescheid über das einträgliche Geschäft, das sie in ihren Kellern betrieben. Sie haben Angst bekommen. Natalja wurde angezeigt. Und sie tat etwas, das ich bis heute nicht begreife: Sie schwieg. Sie hat niemandem verraten, von wem sie das Kreuz hatte. Damit hat sie ihr Todesurteil unterschrieben. Die Gestapo kam ins Haus. Ich wurde verhört. Das allein hat schon gereicht, um vor Zähneklappern den Mund nicht mehr aufzukriegen. Natalja hatten sie schon abgeholt. Also habe ich nichts gesagt. Ich wusste damals nicht, dass auch das Stillsein Konsequenzen hat.“

Auf der anderen Seite der eingezogenen Wand macht sich jemand mit einem Schlagbohrer zu schaffen: Kevin. Der Praktikant befreit die Eingeschlossenen.

Joachim fährt mit Marie-Luise zu Cornelia („Connie“) Schumacher, die er gut kennt, weil sie als Sekretärin in der Kanzlei Utz von Zernikows beschäftigt ist. Er vermutet, dass die 26-Jährige seit kurzer Zeit eine Geliebte Aarons ist. Nun will er von ihr wissen, wo der Verbrecher zu finden sein könnte.

„Er hat heute Nacht versucht, uns umzubringen. Sigrun, Utz, meine Kollegin und mich.“

Connie sagt zögernd, Aaron habe sie einmal in ein Wochenendhaus am Großen Döllnsee mitgenommen. Als Joachim und Marie-Luise hinkommen, steht ein Lastwagen mit laufendem Motor vor dem zugehörigen Schuppen. Aaron von Lehnsfeld taucht mit einer Schusswaffe in der Hand auf und nimmt Joachim die Pistole ab, die dieser von Utz bekam. Freimütig erzählt er den beiden Juristen, dass zwei der Waggons, die Hermann Görings Kunstsammlung von Carinhall nach Berchtesgaden bringen sollten, nach Belgien umgeleitet und dort von Wilhelm von Zernikow in Empfang genommen wurden. Bevor die Alliierten Belgien besetzten, ließ er die Beute nach Berlin zurückbringen und versteckte sie im Keller seines Freundes Abel von Lehnsfeld. Nun befindet sich der Schatz in diesem Schuppen, und Aaron von Lehnsfeld führt Joachim und Marie-Luise hinein, damit sie vor ihrem Tod noch einen Blick auf seinen Reichtum werfen können. Joachim nutzt die Chance, um eine Petroleumlampe neben alte, bröselige Holzwolle zu stellen.

Im Laderaum des Lastwagens liegen Milla Tscherednitschenkowa und ihr Verlobter Horst Cahlow. Sie sind bewusstlos, denn die Atemluft ist mit den Abgasen des Fahrzeugs vermischt. Hier sollen nun auch Joachim und Marie-Luise sterben. Außerdem ist der Sorbe Walter Herzog, das Faktotum der Familie von Zernikow, in Aarons Auftrag unterwegs nach Kiew. Er soll dort Natalja aus dem Fenster ihrer Wohnung stürzen.

Plötzlich rennt Connie auf die Gruppe zu. Ihr unerwartetes Auftauchen bringt Aaron aus dem Konzept. Fast gleichzeitig sieht er Rauch, der aus den Bretterwänden des Schuppens quillt. Dass er Connie beschimpft, ist ein Fehler. Sie schießt mit der Pistole auf ihn, die er Joachim abnahm und hört erst auf, als das Magazin leer ist.

Inzwischen hat Kevin in Berlin die Polizei alarmiert. Milla und Horst werden rechtzeitig aus dem Lastwagen gerettet. Für Aaron von Lehnsfeld kommt jede Hilfe zu spät. Und der Schuppen brennt mit den unwiederbringlichen Originalgemälden und wertvollen Schmucksachen vollständig nieder.

Walter Herzog kann noch vor dem Abflug auf dem Flughafen verhaftet werden.

In der Villa der Familie von Zernikow konfiszieren die Behörden alle Gemälde, wertvollen Möbelstücke und Schmucksachen, deren Herkunft nicht einwandfrei geklärt ist. Irene Freifrau von Zernikow hatte allerdings schon kurz nach dem Krieg einiges aus der Beute ihres Mannes und seines Freundes Abel von Lehnsfeld verkauft und war erst dadurch reich geworden.

Sigrun Zernikow tritt von allen Ämtern und der Kandidatur zurück. Aufgrund der Ereignisse hätte sie ohnehin keine Chance gehabt, als stellvertretende Bürgermeisterin gewählt zu werden.

Milla und Horst wollen heiraten. Im Reisegepäck haben sie eine von Utz von Zernikow unterschriebene Bescheinigung, dass Natalja Tscherednitschenkowa eineinhalb Jahre lang als Zwangsarbeiterin bei seiner Familie gewesen war.

Utz von Zernikow will aber auch selbst nach Kiew fliegen und Natalja besuchen. Inzwischen weiß er, dass sie ihm regelmäßig Briefe schrieb, die jedoch alle von seiner Mutter abgefangen wurden.

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Durch einen Artikel von Ekkehard Schwerk im Berliner Tagesspiegel vom 17. Dezember 1999 unter dem Titel „Ein Zeichen setzen gegen den schäbigen Kleinmut“ erfuhr die Rundfunk- und Fernsehjournalistin Elisabeth Herrmann (* 1959), dass Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter im Zweiten Weltkrieg nicht nur in Fabriken und in der Landwirtschaft eingesetzt worden waren, sondern beispielsweise auch als Kindermädchen. Das machte sie einige Jahre später zum zentralen Thema ihres Debütromans.

In ihrem Kriminalroman „Das Kindermädchen“ geht es aber auch um Raubkunst, „ewig Gestrige“, den „Mantel des Vergessens“, Großbürgertum und Standesdünkel, gesellschaftlichen Aufstieg, den Kampf für das Recht unterprivilegierter Menschen, Politik und Selbstverleugnung aus PR-Gründen. Zu allen Themen gibt es entsprechende Romanfiguren, bei denen es Elisabeth Herrmann allerdings nicht auf die Ausleuchtung der Charaktere ankommt.

Die komplexe Geschichte, die Elisabeth Herrmann in „Das Kindermädchen“ erzählt, spielt zwar in der Gegenwart, geht jedoch auf Ereignisse gegen Ende des Zweiten Weltkriegs zurück. Schauplatz ist Berlin, und durch konkrete Ortsangaben bekommt „Das Kindermädchen“ auch Züge eines Regionalkrimis. Die Lektüre ist spannend und bewegend. Humor und Ironie tragen ebenfalls zur Unterhaltung bei.

„Das Kindermädchen“ wurde von der Jury der „KrimiWelt-Bestenliste“ (seit 2010: „KrimiZEIT-Bestenliste“) unter die besten deutschsprachigen Kriminalromane des Jahres 2005 aufgenommen (Platz 6).

Für die Verfilmung des Romans durch Carlo Rola verfasste Elisabeth Herrmann selbst das Drehbuch: „Das Kindermädchen“ (2012).

Aufgrund des Erfolgs veröffentlichte Elisabeth Herrmann drei weitere Kriminalromane mit der Hauptfigur Joachim Vernau: „Die siebte Stunde“ (2007), „Die letzte Instanz“ (2009) und „Versunkene Gräber“ (2013). Sie schrieb auch andere Thriller, historische Romane, Hörspiele und ein Jugendbuch.

Den Roman „Das Kindermädchen“ von Elisabeth Herrmann gibt es in einer gekürzten Fassung auch als Hörbuch, gelesen von Roeland Wiesnekker (Bearbeitung: Joachim Hoell, Regie: Bernadette Joos, ISBN 978-3-8371-0434-9).

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2015
Textauszüge: © Elisabeth Herrmann

Carlo Rola: Das Kindermädchen

Elisabeth Herrmann: Zeugin der Toten

Sten Nadolny - Die Entdeckung der Langsamkeit
Man kann "Die Entdeckung der Langsamkeit" als historischen Roman, Abenteuerroman, Entwicklungsroman und Romanbiografie lesen. Wüsste man es nicht besser, könnte man glauben, es handele sich um ein Werk aus dem 19. Jahrhundert.
Die Entdeckung der Langsamkeit