Christoph Hein : Von allem Anfang an

Von allem Anfang an
Von allem Anfang an Erstausgabe: Aufbau-Verlag, Berlin 1997
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die Episoden spielen Mitte der Fünfzigerjahre in der DDR. Ein pubertierender Pastorensohn entdeckt auf verschiedene Weise die Sexualität und wird mit der Antinomie zwischen dem Glauben seines Vaters und dem politischen System unmittelbar konfroniert.
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Kritik

"Von allem Anfang an" besteht aus neun Episoden, die aus der Perspektive eines Pubertierenden – und dementsprechend in einer einfachen, lakonischen Jungensprache – erzählt werden.
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Die Geschichte spielt Mitte der Fünfzigerjahre in der DDR. Daniels Vater ist protestantischer Pfarrer. Er hat einen älteren Bruder, eine jüngere Schwester – sie heißt Dorle – und vier weitere Brüder. Die Hausaufgaben machen er und Dorle bei ihrer Nenntante Magdalena, die unverheiratet blieb, weil ihr Verlobter im Krieg gefallen war. Von ihr stammt der Spruch: „Dem Leben muss man von allem Anfang an ins Gesicht sehen.“

Im Familienalbum findet Daniel das Foto einer Frau, die er nicht kennt. Aus der Bildunterschrift ist ersichtlich, dass sie Lucia heißt. Er fragt seine Mutter, wer das sei, aber sie meint unwirsch, er solle seinen Vater fragen, der werde es schon wissen.

Dr. Rudolph, der in der Schule Versuche mit flüssigem Sauerstoff vorführt, wird von Daniels Mitschüler Bernd hinter vorgehaltener Hand als „schwule Sau“ bezeichnet. Er trage vermutlich auch Frauenkleider wie der alte Barmer vom Friedhof. „Der läuft so schwul, als ob bei ihm die Beine verkehrtrum eingeschraubt sind.“ Dem gebe er nie die Hand, und sein Vater meine, das sei auch besser so. – Am Nachmittag fragt Daniel seinen Vater, was „schwul“ bedeute, und der antwortet ihm: „Hör zu, Daniel, die Leute, von denen du redest, das sind arme, kranke Menschen, die unser Mitleid verdienen.“

Einen Teil der Sommerferien verbringen Dorle und Daniel bei den Großeltern mütterlicherseits auf dem Land. Großvater Wilhelm verwaltete vor dem Krieg ein Rittergut in Schlesien; jetzt ist er Inspektor auf einem sehr erfolgreichen Staatsgut in Holzwedel.

Als Daniel sich über das Summen eines Elektrokastens wundert, erklärt ihm seine Großmutter: „Die Elektrik summt gern, sie summt im ganzen Haus. Aber das ist ungefährlich, man darf da nur nicht anfassen.“

Die Erklärung befriedigte mich nicht. Eines Morgens nämlich – ich lag noch im Bett, um mir eine Ausrede auszudenken, weil ich am Tag zuvor die Katze aus dem ersten Stock des Treppenhauses auf die Steinfliesen des Hausflurs hatte fallen lassen, erwischt und in mein Zimmer geschickt worden war, ich hatte feststellen wollen, ob Katzen wirklich jeden Sturz überlebten, ob sie, wie mein Großvater sagte, tatsächlich sieben Leben hätten, doch das konnte ich nicht gestehen, wenn ich einer weiteren Strafe entgehen wollte –, an jenem Morgen sah ich eine dicke Spinne aus dem schwarzen summenden Kasten kriechen. Ich sah, wie sie sich aus dem schmalen Spalt an der Vorderfront zwängte, zur Decke hinauflief, dort minutenlang bewegungslos verharrte, um danach auf dem gleichen Weg zum Kasten zurückzulaufen und in ihm zu verschwinden. Seit diesem Tag wusste ich, dass es kein Elektrokasten war, denn wenn ich ihn wegen der Elektrizität nicht anfassen durfte, wie sollte da eine fette Spinne eine Berührung mit ihm überleben. Der Kunststoffkasten war ein großes Spinnennest, ich war davon überzeugt, dass unendlich viele dieser widerlichen Tiere mit behaarten Beinen in dem Kasten herumkrabbelten, so wie im Stülpkorb der Imkerei Tausende von Bienen über die Waben kletterten und unablässig übereinander krochen. Das Summen wurde nicht von der Elektrizität verursacht, es kam von den Spinnen.

Jochen, ein etwas älterer Freund, ist wenig begeistert, als er mit dem Fahrrad zum Russensee fährt und Daniel ihn begleiten will. Der wiederum versteht die Abweisung durch Jochen nicht.

„Und warum soll ich nicht mitkommen?“
„Weil ich nicht allein geh. Ich bin mit einem Mädchen verabredet, verstehst du. Da brauch ich keine kleinen Jungs dabei.“
„Ich stör euch doch nicht.“

Daniel lässt nicht locker und – um Jochens Interesse zu wecken – erzählt er, dass sein Großvater ins Landratsamt musste und als Verwalter entlassen wurde, weil er nicht in die Partei eintreten will. Schließlich gibt Jochen seinen Widerstand auf und nimmt den Jüngeren mit. Seine Freundin Pille – eigentlich heißt sie Hilde Buschke – ärgert sich über den unerwarteten Begleiter, aber dann fahren sie alle drei zum Russensee. Daniel folgt dem Beispiel Jochens, zieht sich nackt aus und legt sich auf den Bauch. Pille ziert sich zunächst, aber dann entledigt auch sie sich ihrer Kleidung – und Daniel sieht zum ersten Mal eine nackte Frau. Jochen schickt ihn nach einiger Zeit zurück in den Wald; wo er auf die Fahrräder aufpassen soll. Bei der Erinnerung an den nackten Körper des Mädchens erlebt er seine erste Ejakulation. Etwas davon spritzt auf Pilles Sattel, und weil er sich über die beiden ärgert, wischt er es nicht ab.

Dorle und Daniel werden vorzeitig von den Eltern abgeholt und erfahren, dass die Großeltern bald nachkommen und ebenfalls bei ihnen wohnen werden.

Einige Zeit später fragt Daniel seine Großmutter nach Pille und erfährt, dass „dieses dumme Ding“ sich ein Kind habe machen lassen. „Und natürlich hat sie keinen Vater dazu, sie ist ja viel zu jung. Diese Trine hat sich für ihr Leben ruiniert.“ Entsetzt denkt Daniel an die Spermaspritzer auf ihrem Sattel und rechnet nun jeden Augenblick damit, dass sie kommt und ihn als Vater benennt. Wissenschaftler, so hat er gehört, können so etwas ganz genau feststellen.

Bei einem Gastspiel der „Veltronis“ hilft Daniel einem der Artisten beim Aufbau des Hochseils und erhält dafür eine Freikarte. Er bewundert den Seiltänzer, läuft immer wieder hin, um mit „Kade“ (Karl) zu reden und glaubt schließlich, ihn als Freund gewonnen zu haben. Einmal, als er ihn sucht, schicken ihn die anderen Artisten feixend in Kades Wohnwagen. „Er ist drinnen, aber für dich hat er wohl jetzt keine Zeit. … frag ihn selbst. Geh einfach rein, du musst nicht anklopfen.“ Daniel kauert staunend vor dem Radiogerät, da kommt aus dem Nebenraum rückwärts eine Frau, die offenbar den Strumpfhaltergürtel sucht, der auf dem Tisch liegt. Sie zieht ihren Rock hoch, und Daniel sieht, dass sie keinen Schlüpfer trägt; er starrt aus nächster Nähe auf „ihren weißen, großen, nackten Hintern“, und beim Anlegen des Strumpfhaltergürtels wackeln ihre Schenkel hin und her. Sie verschwindet noch einmal nebenan. Dann kommt sie wieder heraus und entdeckt Daniel. Es ist Kathrin Blüthgen, seine Lehrerin, eine verheiratete Frau mit Kindern.

Als sie mich sah, nickte ich und murmelte Guten Tag, aber Frau Blüthgen antwortete mir nicht. Ihre Augen wurden ganz groß, sie stieß einen Schrei aus, einen kurzen, schrillen Schrei, der plötzlich abbrach. Dann floh sie in das Zimmer zurück, sie stürzte dabei fast hin.

Nach einem mit Tante Magdalena einstudierten Balladenvortrag während des Unterrichts wird Daniel von Fräulein Kaczmarek, der Lehrerin, überredet, sich dem Dramatischen Zirkel der Schule anzuschließen. Die ihm angetragene Hauptrolle übernimmt er jedoch nicht, weil der Held zum Schluss eines der Mädchen küssen muss und er befürchtet, von seinen Klassenkameraden als „Kussmaul“ verlacht zu werden.

Als er auf einer Parkbank sitzt, nähern sich zwei Mädchen und sagen ihm, die in der Nähe wartende Mitschülerin Mareike wolle mit ihm befreundet sein.

„Warum will sie denn mit mir befreundet sein?“
„Na, warum schon? Sie ist in dich verschossen.“

Er hat nichts dagegen, dass sie zu ihm kommt. Die Botschafterinnen winken ihr. Daniel und Mareike gehen spazieren. Im Wald bleibt sie mehrmals stehen. Dann fordert sie ihn zu einem Kuss auf, aber danach meint sie, er müsse noch viel lernen. Beim Schulbesuch einer Kunstausstellung zeigt Mareike auf Gemälde nackter Frauen und fragt ihn, was er davon halte. Sie malt sich aus, wie es sei, einem Maler nackt Modell zu stehen. Einige Tage später findet eine „Solidaritätssammlung für irgendein Land oder für einen Befreiungskrieg“ im Schullandheim statt. Mareike kommt mit der Sammelbüchse zu Daniel ins Zimmer und setzt sich – obwohl es gemäß Hausordnung verboten ist – auf sein Bett, erzählt ihm, sie wolle zum Ballet und tanze zu Hause auf dem Dachboden gern nackt. Bei der Vorführung einiger Tanzschritte stolpert sie. Hier sei es zu eng, meint sie, und außerdem sei sie nicht richtig angezogen. Aber er bittet sie, es noch einmal zu versuchen: „Nur noch ein bisschen, Mareike. Und wenn dich das Kleid dabei stört, das Kleid kannst du ja ausziehen. Ich meine nur, wenn es dich beim Tanzen stört.“ Sie geht darauf ein. „Aber vollkommen ausziehen, das mache ich nicht. Nur so, dass ich mich richtig bewegen kann.“ Außerdem müsse er sich dann auch ausziehen. „Und Anfassen gibt es nicht, ist das klar?“ Verlegen sitzen die beiden im Slip auf dem Bett, Mareike mit verschränkten Armen. Dann steht sie auf, lässt die Arme sinken und beginnt zu tanzen. Er bittet sie, auch das Höschen auszuziehen: „Das sieht irgendwie blöd aus. Das stört.“ Aber da klopft es an der Tür.

Trotz der guten schulischen Leistungen erlaubt die Kreisschulbehörde Daniels älterem Bruder David nicht, auf die Oberschule zu wechseln. Die Eingaben des Vaters sind vergeblich. Deshalb bringen die Eltern David in ein Internat in Westberlin. Die Mutter erzählt nach ihrer Rückkehr, sie habe in Westberlin ein Eis gegessen, „das vollständig mit einer dünnen Schicht Schokolade umgeben war“.

Einige Wochen später fahren alle zusammen mit dem Auto los, um David zu besuchen. Unterwegs prüft ein Polizeiposten die Papiere und untersucht den Kofferraum. Dann fragt er nach dem Reiseziel. Der Vater antwortet, er fahre mit der Familie nach Potsdam und von dort aus mit der S-Bahn zu einem der Söhne in Berlin.

„In welchem Berlin?“, fragte der Beamte.
„In welchem Berlin?“, wiederholte mein Vater überrascht und fügte dann, noch ehe der Beamte etwas sagen konnte, hinzu: „Im demokratischen Berlin. Im demokratischen Berlin selbstverständlich.“

Er freut sich, dass er nicht lügen musste. Aber bei einer weiteren Kontrolle in der S-Bahn bleibt ihm nichts anders übrig, als eine Ostberliner Adresse zu nennen.

In Westberlin sehen sie eine Leuchtschrift. Es geht um einen Aufstand in Ungarn.

Am nächsten Tag spricht die Klassenlehrerin das Thema an. Die meisten Schüler äußern sich nicht. Nur drei Mädchen melden sich und erklären „wie sehr sie die Konterrevolution in Ungarn verabscheuten und wie froh sie seien, dass die Sowjetunion wieder zur Hilfe bereit sei wie damals gegen die deutschen Faschisten“. Die Lehrerin will schon das Thema beenden, da meldet sich Lucie („Lucie war nicht nur die Klassenbeste und eine fromme Katholikin, sie war auch bei den Thälmannpionieren“) und verrät, dass Daniel am Sonntag in Westberlin gewesen sei und auf dem Schulhof „feindliche Propaganda“ verbreitet habe.

Daniel hofft darauf, wie sein Bruder in Westberlin aufs Gymnasium gehen zu dürfen. Für entscheidend hält er nicht nur seine schulischen Leistungen, sondern vor allem das Verhalten seines Vaters.

Nur wenn er sich weiterhin mit dem Schuldirektor, dem Bürgermeister und den Funktionären der Partei herumstreiten würde, wenn er den Behörden der Stadt und des Kreises gegenüber weiterhin so standhaft bliebe, dass die Lehrer gelegentlich auch mir gegenüber eine bissige Bemerkung machten, wäre gesichert, dass mein Antrag auf Besuch der Oberschule abgelehnt werden würde.

Endlich ist es so weit: Daniel geht zu seiner Tante Magdalena, um sich von ihr zu verabschieden, bevor er seinem Bruder nach Westberlin folgt. Auf dem Weg begegnet er Lucie, die ihn bedauert, weil er trotz seiner guten Noten nicht zum Besuch der Oberschule zugelassen wird. Ob er nun vorhabe, wie sein Bruder in den Westen zu gehen? Inzwischen hat Daniel seine Lektion gelernt und antwortet nur mit einer Gegenfrage: „Wie kommst du denn darauf?“

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„Von allem Anfang an“ besteht aus neun Episoden, die Mitte der Fünfzigerjahre in der DDR spielen. Zu Beginn verabschiedet sich der Pastorensohn Daniel von seiner geliebten Tante Magdalena: Er geht zum Besuch eines Gymnasiums nach Westberlin, weil man ihn wegen der „politischen Unzuverlässigkeit“ seines Vaters in der DDR nicht auf die Oberschule lässt. Auf dem Weg zur Tante begegnet ihm die Mitschülerin Lucie, aber er verrät ihr nichts von seinen Plänen. Chronologisch müsste diese Episode am Schluss des Buches stehen, aber durch die Umstellung ergibt sich ein Bogen. Der Roman endet nämlich damit, dass Daniel von einem Besuch bei seinem kurz zuvor von einem Westberliner Internat aufgenommenen älteren Bruder David zurückkehrt und Lucie arglos davon erzählt. Während des Unterrichts denunziert sie ihn.

Als politisch unangepasster Pastor und Schwiegersohn eines Gutsverwalters, der nicht in die Partei eintritt, ist Daniels Vater den Behörden verdächtig. Wegen des Berufs seines Vaters gilt auch Daniel unter seinen Mitschülern als Außenseiter, und er erfährt unmittelbar die Antinomie zwischen dem christlichen Glauben und der sozialistischen Staatsdoktrin. (Leider geht Christoph Hein nicht näher auf das Verhältnis Daniels zu seinen Eltern ein.)

Ein Schüler entdeckt auf verschiedene Weise die Sexualität, und schließlich wird ihm die Heimatstadt zu eng. Diese Erlebnisse werden in den Kontext des politischen Systems in der DDR zwischen dem Volksaufstand im Juni 1953 und dem Ungarnaufstand im Oktober/November 1956 gestellt.

Erzählt wird aus der Ich-Perspektive des Pubertierenden und dementsprechend in einer einfachen, lakonischen Jungensprache.

Die autobiografischen Elemente in „Von allem Anfang an“ sind unübersehbar.

Christoph Hein wurde 1944 in Schlesien als Sohn eines Pastors geboren und wuchs in Bad Düben bei Leipzig auf. Da er wegen „politischer Unzuverlässigkeit“ in der DDR nicht auf die Oberschule durfte, besuchte er 1958 bis 1960 ein Gymnasium in Westberlin, schloss aber die Schulausbildung nicht ab, sondern ging vor dem Bau der Mauer nach Ostberlin. Einige Jahre verdiente er seinen Lebensunterhalt als Buchhändler, Journalist, Schauspieler, Regieassistent, Kellner und Arbeiter. Währenddessen holte er das Abitur in Abendkursen nach. Nach dem Philosophiestudium von 1967 bis 1971 engagierte ihn die Volksbühne Berlin (Ost) als Dramaturg und Hausautor. Heute lebt Christoph Hein als freier Schriftsteller in Berlin. 2007 erschien sein Roman „Frau Paula Trousseau“.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2002/2007
Textauszüge: © Aufbau-Verlag

Christoph Hein: Willenbrock

Martin Walser - Ein sterbender Mann
Der Protagonist äußert sich in Briefen, Mails, Postings, Selbst­ge­sprächen ... Eingestreut sind auch Texte anderer Figuren. Daraus ergibt sich eine heterogene Mixtur selbst­ironischer, tragikomischer, sarkas­tischer, grotesker, satirischer Passa­gen: "Ein sterbender Mann" von Martin Walser.
Ein sterbender Mann