Arnon Grünberg : Phantomschmerz

Phantomschmerz
Originalausgabe: Fantoompijn, 2000 Phantomschmerz Übersetzung: Rainer Kersten Diogenes Verlag, Zürich 2003
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der Schriftsteller Robert G. Mehlman ist Mitte 30, als sein Abstieg einsetzt und die ersten seiner Kreditkarten gesperrt werden. Über seine Lage versucht er sich und andere mit Lügen und Galgenhumor hinwegzutäuschen. Obwohl er sich längst von seiner Ehefrau trennen möchte, bezeichnet er sie als Märchenprinzessin, und seiner langjährigen Geliebten Rebecca spielt er den reichen Erfolgsmenschen vor, dem es nichts ausmacht, im Kasino 5000 Dollar zu verspielen ...
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Kritik

Arnon Grünberg springt zwischen verschiedenen Orten und Zeiten hin und her und baut die Geschichte auch noch in eine Rahmenhandlung ein. Der tragikomische Roman "Phantomschmerz" ist kein besonders tiefschürfendes Buch, aber eine recht unterhaltsame Satire.
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Der Schriftsteller Robert G. Mehlman ist Mitte dreißig. Den Durchbruch erzielte er mit dem Roman „Platz 268 der Weltrangliste“. Der Titel bezog sich auf seinen Vater Aron, von dem Robert geglaubt hatte, er sei ein berühmter Tennisspieler gewesen – bis er dahintergekommen war, dass er es nur auf Platz 268 auf der Weltrangliste geschafft hatte.

Schreiben war natürlich das Mittel par excellence, nicht leben zu müssen und doch die Illusion zu wahren, mittendrin zu stehen, im Leben meine ich, in all seiner Wildheit daran teilzunehmen. (Seite 54)

Seine Ehefrau – die er „Märchenprinzessin“ nennt – hatte Robert G. Mehlman kennen gelernt, als er in einem nachts geöffneten Laden in Amsterdam angestellt gewesen war. Als sie ihr Studium und ihre Ausbildung zur Psychotherapeutin beendet hatte, nahm sie ein Angebot in einer Tagesklinik für psychisch Gestörte in New York an, und Robert ging mit ihr mit. Sie heirateten in Miami im engsten Familienkreis; nur Roberts Mutter, eine seiner Tanten, seine Schwiegereltern und sein Zahnarzt, der zufällig gerade im selben Hotel wohnte, nahmen daran teil.

Ihr Sohn Harpo Saul wurde geboren, als sie gerade ein paar Tage in Montauk Urlaub machten. Robert betrank sich in der Hotelbar, während seine Frau das Kind zur Welt brachte. Später wird Harpo Saul Mehlman schreiben:

Mein Vater arbeitete an seinem Opus magnum, meine Mutter in einer Tagesklinik für psychisch Gestörte. Ihr berühmtester Patient war ein Mann, der mit der Wand redete, in der Annahme, dem Geheimdienst auf diesem Wege Nachrichten zu übermitteln. Als der Geheimdienst nicht auf seine Berichte einging, wurde er destruktiv. So landete er bei meiner Mutter. Über diesen Mann hat sie promoviert. Dank meiner Mutter erkannte er, dass er zwanzig Jahre lang umsonst mit einer Wand geredet hatte. Diese Erkenntnis war zuviel für ihn, und er stürzte sich in einen Fahrstuhlschacht. Das war ein Wermutstropfen in der Promotionsfeier meiner Mutter, schließlich war er dort als Ehrengast geladen geworden. (Seite 14)

Eine Affäre hat Robert G. Mehlman mit Evelyn, einer Bedienung des Cafés, in dem er mit seiner Frau zu frühstücken pflegt. Evelyn stammt aus Puerto Rico, ist in zweiter Ehe mit einem Busfahrer verheiratet und hat zwei Söhne im Alter von neun bzw. eineinhalb Jahren.

In einer anderen, vollkommenen Welt hätten wir vielleicht Käsefondue zusammen gegessen, in dieser etwas weniger vollkommenen Welt jedoch vögelten wir zusammen. (Seite 153)

Die perfekte Affäre ist eine Illusion. Angebot und Nachfrage stimmen selten überein, vielleicht auch nie. (Seite 154f)

[…] perfektionierte ich das Lügen. Ich erhob es zur Kunstform. Das Vögeln verschwand hinter dicken Vorhängen raffinierter Worte […]
Meine Geschichten zum Zwecke des täglichen Vögelns mit Evelyn erreichten ein ungeahntes Niveau, und sie ließen, das muss ich zugeben, meine belletristischen Beiträge für Zeitungen, Literaturzeitschriften und Erzählbände weit hinter sich. Alle waren sie für die Märchenprinzessin bestimmt, und eine Geschichte war schöner als die andere.
Ich erlebte die tollsten Abenteuer, während ich in Wirklichkeit in einem Hotelzimmer vögelte. Witzige und rührende Geschichten waren es, mit denen ich meine Frau während des Abendessens amüsierte. Manchmal dachte ich: Das ist so gut, das müsstest du eigentlich aufschreiben, doch es kam nie dazu. Lügen wurde eine Vollzeitbeschäftigung, selbst mein Essen wurde zur Lüge. Es ging schon gar nicht mehr um etwas so Banales wie ein Alibi – es war ein Mittel, die Welt, die meinen Gesetzen nicht gehorchen wollte, auf Distanz zu halten. (Seite 155f)

Robert und Evelyn treiben es in der winzigen Toilette des Cafés. Einmal sagt sie dabei zu ihm:

„Mein Mann […] Wenn er uns findet, ermordet er zuerst mich und dann dich.“ […]
„Und wenn er uns jetzt ermordet?“
„Ist mir egal, wenn ich nur meine Kinder mitnehmen darf.“ (Seite 223)

Nach einer Weile schläft die Affäre ein. Evelyn taucht auch nicht mehr im Café auf. Später erfährt Robert, dass sie sich von ihrem Mann trennte, nach Puerto Rico zurückging und dort als Dienstmädchen arbeitet.

Robert, der überhaupt nur geheiratet hatte, um seiner Mutter eine Freude zu machen – was allerdings misslang – ist seiner Ehe längst überdrüssig, unternimmt jedoch nichts.

Seit dem Tag, an dem die Bücherschränke gekommen waren, hoffte ich, dass meine Frau mich verlassen würde. (Seite 175)

Inzwischen bleiben die Erfolge aus. Sein niederländischer Lektor Frederik van der Kamp ruft an und teilt mit, dass Roberts Tantiemen fürs letzte Quartal nicht mehr als 137 Gulden und 54 Cent betragen. Danach dauert es nicht lang, bis ihn ein gewisser Steve Williams davon in Kenntnis setzt, dass seine Visa-Karte so lange gesperrt bleiben würde, bis er sein überzogenes Konto aufgefüllt habe. Das macht allerdings nichts, denn Robert besitzt noch fünf andere Kreditkarten. Immerhin beauftragt er seinen Buchhalter in Amsterdam am Telefon, seine Aktien zu verkaufen, aber Maurice erinnert ihn daran, dass er das Aktiendepot schon vor einigen Monaten aufgelöst habe. Dass sich seine Schulden allein bei American Express auf 50 000 Dollar belaufen, hindert Robert nicht daran, das fehlende Geld mit vollen Händen auszugeben.

So bestellt er beispielsweise aus einer Laune heraus bei Josef Capano eine Stretchlimousine mit Chauffeur, um von New York nach Atlantic City zu fahren, während seine Frau in Wien an einem Kongress über Träume teilnimmt.

Capano hatte einmal viel Geld im Kunsthandel verdient, doch der Marktwert der Künstler, die er vertrat, war unerwartet in den Keller gegangen, und damit hatte sich auch sein eigenes Vermögen in Luft aufgelöst. Danach war er in die Dienste einer steinreichen, älteren Schauspielerin getreten, die der Meinung war, dass ein Leben ohne Sekretär ein nutzloses, auf jeden Fall ein unvollständiges Leben sei. Als die Schauspielerin wegen eines Leberleidens ins Krankenhaus musste, begann Capano für mich zu arbeiten […]
Wenn es abends regnete, klapperte er am nächsten Morgen die teuren New Yorker Restaurants ab und sagte: „Gestern Abend habe ich hier gegessen und meinen Schirm liegenlassen.“ So sammelte er an einem Vormittag gut vierzig Regenschirme ein, die er später wieder verkaufte.
Auch übernahm er das Catering für wohlhabende Damen, die alle nach ihm verrückt waren. Die teuersten Flaschen Wein nahm er hinterher in Plastiktüten mit nach Hause und verkaufte sie weiter – oder trank sie selbst, wenn er trübseliger Stimmung war, was ziemlich häufig vorkam.
Für die Waren hatte er so seine Bezugsquellen. Bei einem Bäcker bekam er kostenlos Kekse, die einen Tag alt waren, manchmal auch älter, und darum nicht mehr zu verkaufen. Am Ende des Dinners sagte er zu seinen Kunden: „Und jetzt die Kekse, die besten Kekse von New York! Ich hab neunzig Dollar dafür bezahlt, so was Göttliches bekommen Sie im Leben nicht mehr zu essen.“
Und dann nickten die Leute; so etwas Göttliches hatten sie in der Tat noch nie gegessen.
„Und das sagen sie aus tiefster Überzeugung“, versicherte mir Capano, „sie denken an das viele Geld, das sie für die Kekse bezahlt haben, und schmecken etwas Göttliches.“ (Seite 105f)

Begleitet wird Robert auf der Fahrt nach Atlantic City von Rebecca, einer Frau, die er keine vierundzwanzig Stunden zuvor im Museum of Natural History zum ersten Mal gesehen hatte. Mit 5000 Dollar, die er sich nach einem Telefongespräch mit Mastercard im Spielkasino in bar ausbezahlen lässt, versucht er sein Glück. Als nach knapp zwei Stunden nur noch 500 Dollar übrig sind, ruft er seine Mutter in Amsterdam an und fragt sie nach der Nummer, die sie in Auschwitz getragen hatte, aber die bringt ihm auch kein Glück.

In einem Telefongespräch mit seiner Frau in Wien behauptet er, in Atlantic City „Feldforschung“ zu betreiben.

Von Atlantic City fahren Robert und Rebecca mit einem Mietauto weiter nach Albany.

Von dort aus telefoniert er mit seinem Freund David in Chicago und bittet ihn, die Märchenprinzessin anzurufen. David soll ihr mitteilen, dass Robert sich von ihr getrennt habe. Stattdessen rät David jedoch seinem Freund, in Albany einen Arzt zu konsultieren.

Eigentlich wäre Robert vertraglich verpflichtet gewesen, schon vor zwei Jahren bei seinem Verlag in Deutschland ein Kochbuch abzuliefern. Der Verleger droht am Telefon, den Vertrag zu annullieren. Daraufhin gibt Robert von Albany aus eine Anzeige in der „New York Times“ auf, in der es heißt, er suche Kenner der polnisch-jüdischen Küche.

Die vielversprechendste Antwort erhält er von einer Mrs Fischer in Yonkers, New York. Robert fährt zu ihr und gibt Rebecca als seine Sekretärin aus. Die verwitwete alte Jüdin, die in einer Villa wohnt und überzeugt ist, dass sie in einem früheren Leben einmal Indianerin war, stammt aus Lodz und hat eine umfangreiche Rezeptsammlung ihrer Mutter aufgehoben. Um sich täglich mit Mrs Fischer zusammensetzen zu können, die durch das unerwartete Interesse eines Schriftstellers noch einmal auflebt, quartieren sich Robert und Rebecca im Motel „Silver Lake“ ein. Mrs Fischer vertraut Robert nicht nur die Rezepte an, sondern darüber hinaus 45 000 Dollar für die Gründung der Stiftung „Karpfen in Aspik“, die die Erinnerung an ihre Mutter wachhalten soll. In Wirklichkeit begleicht Robert mit dem Geld einen Teil seiner Schulden.

Nach drei Wochen und zwei Tagen ist das Kochbuch fertig. Ein halbes Jahr später erscheint es in Deutschland unter dem Titel „Die polnisch-jüdische Küche in 69 Rezepten. Kochen nach Auschwitz“. Die Kritiker loben es überschwänglich. In einem deutschen Wochenmagazin heißt es unter der Überschrift „Frisch aus dem Ofen“:

Wir brauchten einen Robert G. Mehlman, um zu erkennen, dass Juden und Deutsche sich tatsächlich wiederbegegnen können, und zwar in der polnisch-jüdischen Küche, aus deren Öfen, trotz aller Schrecknisse der Vergangenheit, sich immer noch köstliche Speisen hervorzaubern lassen. (Seite 326)

Das Kochbuch wird ein Bestseller. Rebecca – die von Roberts Frau für eine „hohle Nuss“ gehalten wird – begleitet den Erfolgsautor auf seinen Lesereisen nach Europa und Australien.

In Palermo hat er eine Erektionsstörung. Während Rebecca ihn darauf hinweist, dass sie es durchschnittlich sechsmal am Tag miteinander machten, und eine einmalige Schwäche nicht schlimm findet, regt Robert sich darüber so auf, dass er beim anschließenden Opernbesuch vor Beginn der Vorstellung in der Toilette verschwindet, sich den Penis blutig rubbelt und darüber „Wozzeck“ versäumt. Danach schreibt er Rebecca einen Abschiedbrief und gibt ihn ihr beim Abendessen im Restaurant zu lesen.

Während sie nach Amsterdam zieht, fliegt Robert zu seiner Frau nach New York, aber nur, um sich auch von ihr zu trennen. Bevor er nach Kanada aufbricht, überzeugt sie ihn, dass er ihr ein Kind schulde. Also schläft er zum Abschied noch zwei Mal mit ihr. Kurz darauf ruft er sie aus Kanada an und erkundigt sich, ob sein Sperma schon gewirkt habe.

– – –

Soweit der Roman „Die hohle Nuss und andere Juwelen“ von Robert G. Mehlman, den sein Sohn Harpo Saul Mehlman hier erstmals veröffentlicht.

Harpo Saul Mehlman erzählt uns auch, dass sein Vater nach drei Tagen aus Kanada zu seiner Frau zurückgekehrt sei und noch weitere zwölf Jahre gebraucht habe, um sich von ihr zu trennen.

Während die Märchenprinzessin mit ihrem Sohn nach Amsterdam zog, vagabundierte Robert durch Europa. In Sabaudia, neunzig Kilometer südöstlich von Rom, bedrohte er die Badegäste am Strand mit einem Küchenmesser. Zwei Carabinieri forderten ihn auf, die Waffe fallen zu lassen, aber er beschimpfte sie in schlechtem Italienisch und fuchtelte weiter mit dem Messer herum, bis sie ihm mit drei Schüssen die Beine und den rechten Arm zertrümmerten und ihn darüber hinaus mehrmals in den Bauch trafen. Mit einem Hubschrauber wurde der Schwerverletzte in ein Krankenhaus in Rom gebracht.

Seine Frau und sein Sohn eilten aus Amsterdam herbei, und nach zwei Tagen erwachte er aus dem Koma, aber er würde gelähmt bleiben. Als Harpo in seinen Sachen ein Paket aus Papier und Notizbüchern fand, trug sein Vater ihm auf, es David nach Chicago zu schicken. Der ordnete die Aufzeichnungen und korrigierte das Manuskript. Es handelte sich um den Roman „Die hohle Nuss und andere Juwelen“.

Rebecca wohnt inzwischen in Amsterdam. Sie ist verheiratet und hat zwei Töchter. Harpo besucht sie und erfährt, dass sein Vater ihr zwar in Sizilien einen Abschiedsbrief geschrieben hatte, sich jedoch nicht entscheiden konnte, wirklich mit ihr Schluss zu machen. Zwölf Jahre später lernte Rebecca ihren jetzigen Mann kennen und trennte sich endgültig von Robert.

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Arnon Grünberg springt in seinem Roman „Phantomschmerz“ mitunter absatzweise zwischen verschiedenen Orten und Zeiten hin und her und baut die Geschichte auch noch in eine Rahmenhandlung ein. Aus der Ehe von Robert G. Mehlman mit seiner „Märchenprinzessin“, seinem langjährigen Verhältnis mit Rebecca und seiner Affäre mit Evelyn macht Arnon Grünberg drei parallele Erzählstränge. „Phantomschmerz“ weist keinen komplexen Plot auf, sondern besteht aus einem Episoden-Kaleidoskop. Während die Rahmengeschichte von Harpo Saul Mehlman in der Ich-Form erzählt wird, handelt es sich bei der eigentlichen Geschichte um einen ebenfalls in der ersten Person Singular geschriebenen Roman im Roman: „Die hohle Nuss und andere Juwelen“ von Robert G. Mehlman.

Der tragikomische Roman „Phantomschmerz“ handelt vom Niedergang, Wiederaufstieg und endgültigen Absturz eines Schriftstellers. Lange Zeit gelingt es Robert G. Mehlman, sich und andere durch Lügen und Galgenhumor über Misserfolge und Schulden hinwegzutäuschen. „Als Schnäppchenjäger [rast er] durch den Ausverkauf des Lebens“ (Elke Heidenreich). Daraus ergeben sich wahnwitzige Szenen. Arnon Grünberg schreckt aber auch nicht vor Klamauk und Geschmacklosigkeiten zurück. „Phantomschmerz“ ist kein besonders tiefschürfendes Buch, aber eine recht unterhaltsame Satire.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2009
Textauszüge: © Diogenes Verlag

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