Helen Garner : Das Zimmer

Das Zimmer
Originalausgabe: The Spare Room The Text Publishing Company, Melbourne 2008 Das Zimmer Übersetzung: Nora Matocza, Gerhard Falkner Berlin Verlag, Berlin 2009 ISBN: 978-3-8270-0833-6, 174 Seiten Berliner Taschenbuch Verlag, Berlin 2010 ISBN: 978-3-8333-0665-5, 174 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Nicola ist unheilbar an Krebs erkrankt. Nachdem die Schulmediziner sie aufgegeben haben, fliegt sie für drei Wochen zu ihrer Freundin Helen nach Melbourne, um sich einer alternativen Behandlung mit Ozon und Vitamin C zu unterziehen. Helen hält die Therapie für Scharlatanerie, aber Nicola klammert sich an die Hoffnung auf einen Erfolg. Die Selbsttäuschung Nicolas und ihre eigene Überforderung machen Helen zornig, und zugleich schämt sie sich deshalb ...
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Kritik

In dem ergreifenden Roman "Das Zimmer" schildert Helen Garner einfühlsam, facettenreich und zugleich schonungslos die widersprüchlichen Gefühle einer Frau, die eine todkranke Freundin pflegt und dabei in Zorn gerät.
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Von Helen erfahren wir zunächst nur, dass sie Mitte sechzig ist, ihren Lebensunterhalt als Schriftstellerin und Journalistin verdient, in Melbourne lebt und verheiratet war. Im Nachbarhaus wohnen ihre Tochter Eva und ihr Schwiegersohn Mitch mit der fünfjährigen Tochter Bessie und dem Baby Hughie.

Helen hat viele Freunde und Freundinnen. Seit fünfzehn Jahren ist Nicola eine von ihnen. Bei ihr handelt es sich um eine eigenständige Frau, die zwar für einige Zeit mit einem Mann namens Hamish zusammenlebte, aber nie verheiratet war und keine Kinder hat. Früher führte sie ein Bohemien-Leben und nahm LSD. Auch jetzt noch, mit fünfundsechzig, trägt sie weder Slip noch Büstenhalter. Ihr Haus hinter den Stränden im Norden von Sydney ist nur mit einem Boot zu erreichen.

Vor einiger Zeit diagnostizierte ein Arzt bei Nicola einen Darmtumor. Sie wurde operiert, bestrahlt und unterzog sich einer Chemotherapie. Um sich im St. Vincent Krankenhaus behandeln zu lassen, wohnt Nicola seit Monaten bei ihrer Nichte Iris, einer Lehrerin, und deren Lebensgefährten Gab in einer kleinen Mietwohnung im Stadtteil Elizabeth Bay. Die beiden haben ihr das Bett zur Verfügung gestellt und schlafen im Wohnzimmer auf dem Fußboden.

Als ihr die Ärzte erklären, dass sich die Metastasen überall im Körper ausgebreitet haben und man sie nur noch palliativ behandeln kann, wendet Nicola sich verzweifelt an einen „Biochemiker“. Zum Glück findet Helen gerade noch rechtzeitig heraus, dass ihre Freundin auf einen der Polizei bekannten Betrüger hereinzufallen droht und kann sie vor Schaden bewahren.

Nun will Nicola sich drei Wochen lang im Theodore Institute in Melbourne alternativ behandeln lassen. Helen richtet das Gästezimmer her und fährt mit ihrer Nichte Bessie zum Flughafen, um Nicola abzuholen. Als sie ihre Freundin erstmals nach ein paar Monaten wiedersieht, ist sie entsetzt über ihren Gesundheitszustand: Nicola kann kaum stehen, geschweige denn gehen. Helen muss erst einen Rollstuhl besorgen, bevor sie ihre Freundin zum Auto bringen kann.

Beim Frühstück am nächsten Morgen fällt ihr auf, dass Nicola eine Banane nur mit den Schneidezähnen kaut. Sie fragt nach dem Grund.

„Sie haben mir ein paar Backenzähne gezogen.“
„Lass mal sehen.“
[…] Auf beiden Seiten klaffte ungefähr in der Mitte ein rosiges, schwammiges Loch. Ganz tief drinnen sah ich etwas Weißes hervorlugen.
„Ist das Eiter? Hast du eine Entzündung?“
„Nein, Liebste“, sagte sie und wischte sich die Lippen mit einer Serviette ab. „Das ist einfach der Knochen. Das Zahnfleisch ist über den Löchern nicht mehr zugewachsen. Ich kann nur noch mit den Vorderzähnen kauen, wie ein Kaninchen.“ Sie lachte. (Seite 26f)

Als sie zum Institut fahren, heißt es, Professor Theodore habe zu einem Ärztekongress nach China reisen müssen. Auf Dr. Tuckey, der ihn vertritt, müssen sie vier Stunden warten, obwohl sie einen Termin haben. Nicola soll in einer Ozonsauna schwitzen und jeden zweiten Tag eine Vitamin-C-Infusion bekommen. Dafür verlangt das Institut 2000 Dollar pro Woche von ihr, die im Voraus zu bezahlen sind. Helen, die gegenüber alternativen Behandlungsmethoden skeptisch ist, hält eine Krebstherapie mit Ozon und Vitamin C für Scharlatanerie. Heimlich wirft sie einen Blick in die von Dr. Tuckey angelegte Krankenakte und liest: „Letal. 1 – 3 Jahre“. Sie ist empört darüber, dass man ihrer Freundin trotz dieser Diagnose Grund zur Hoffnung auf Heilung gibt, statt sie über die Wahrheit aufzuklären. Aber sie selbst will auch nicht die Person sein, die Nicola die letzte Hoffnung nimmt.

Sterben machte Angst. (Seite 70)

Nach der Vitamin-C-Infusion leidet Nicola unter starken Schmerzen, aber sie meint:

„Keine Sorge […] Die Schmerzen kommen ja nur von der Behandlung – daran merkt man, dass sie wirkt. Das sind einfach die Gifte, die ausgetrieben werden.“ (Seite 49)

In der Nacht uriniert sie ins Bett und schwitzt mehrere Nachthemden durch. Helen hat alle Hände voll zu tun und findet selbst kaum Schlaf. Schlimmer als die Belastung durch die Pflege ist es für Helen, mit ansehen zu müssen, dass Nicola das Sterben nicht wahrhaben will und sich die Möglichkeit einer Heilung einredet. Von Palliativmedizin will sie nichts wissen.

„Weil das die letzte Stufe vor dem Tod ist.“ (Seite 65)

Immerhin lässt sie sich vor dem nächsten Termin im Theodore Institute zu der Ärztin Naomi Caplan bringen und Morphium-Tabletten verschreiben.

Während eines Besuchs bei Helens Freundin Peggy im Stadtteil Fitzroy erklärt Nicola sich endlich bereit, einen Palliativmediziner zur Voruntersuchung ins Haus kommen zu lassen.

„Ich bin ganz sicher, dass diese Behandlung den Krebs austreibt – in zehn Tagen werde ich schon wieder topfit und auf dem Wege der Heilung sein. Dieses Palliativzeugs ist nur, damit Hel sich nicht so völlig alleingelassen und hilflos fühlt – meine arme alte Hel.“ (Seite 81)

Professor Theodore kommt aus China zurück. Nach einer ersten Untersuchung verordnet er Nicola Einläufe mit Bio-Kaffee und rät ihr, täglich ein Dutzend Aprikosenkerne zu kauen. Als Helen Zweifel an den Behandlungsmethoden äußert, entgegnet Nicola:

„Aber das ist die einzige Möglichkeit […] Wenn ich nicht daran glaube, ist die einzige Alternative, mich hinzulegen und zu sagen, okay, ich gebe auf. Ich sterbe. Krebs, komm her und pack mich.“ (Seite 97)

„Kannst du nicht mal dein Gehirn einschalten? Sieh dir doch mal an, was sie machen. Diese Behandlungen sind ein Schwachsinn, Nicola. Sie nehmen dich aus. Damit können sie keinen Krebs heilen.“
„Können sie wohl.“ (Seite 125)

Übers Wochenende kommen Iris und Gab aus Sydney. Gab recherchiert im Internet und findet heraus, dass es sich bei „Professor“ Theodore um einen Veterinärmediziner handelt. Helen klagt:

„Ich habe kaum eine Nacht geschlafen, seit sie da ist […] Ich kaufe ein, ich koche, ich putze. Ich wimmle die Telefonate ab, die sie nicht annehmen will. Ich bin Dienstmädchen. Und Waschfrau. Ich schleppe ihre Scheißmatratze durch die Gegend und stelle sie in die Sonne. Und das ist alles in Ordnung – völlig in Ordnung – ich würde wirklich alles für sie tun. Aber dann hat sie mir vorige Woche mehr als deutlich zu verstehen gegeben, dass sie ‚keine Pflegerin braucht‘.“ (Seite 121)

Ich hatte immer geglaubt, dass die Sorge das Gefühl sei, das am stärksten an einem zehrt. Jetzt erkannte ich, dass es der Zorn war. (Seite 122)

Als die Packung Morphium-Tabletten verbraucht ist, wenden Helen und Nicola sich erneut an Naomi Caplan. Die Ärztin wundert sich darüber, dass die Patientin keinen Arztbrief aus Sydney bei sich hat und überweist sie an den Onkologen John Maloney, der sie für eine Magnetresonanztomographie und ein Knochen-Szintigramm in die benachbarte Mercy Private Clinic schickt. Nachdem er sich die Aufnahmen angeschaut hat, erklärt er den beiden Frauen, dass bei Nicola ein Halswirbel zerfressen und praktisch durch Tumorgewebe ersetzt ist. Jede heftige Bewegung kann zur Querschnittlähmung führen. Er hält deshalb eine sofortige Operation für erforderlich.

Nicola lässt sich von Dr. Maloney überzeugen und bricht die Behandlung im Theodore Institute ab. Doch als sie von einer anderen Patientin erfährt, dass man auch Alkohol in den Tumor injizieren kann, überlegt sie, ob sie sich nicht doch Professor Theodore weiter anvertrauen soll. Am Ende entscheidet sie sich dafür, sich im Epworth Hospital einer Operation durch den von Maloney empfohlenen Neurochirurgen Hathaway zu unterziehen.

Der Gedanke, Nicola etwa drei Monate lang pflegen zu müssen, entsetzt Helen. Sie fühlt sich überfordert und teilt dies ihrer Freundin schonungslos mit: „Ich schaffe das nicht.“

Mir war ganz schlecht vor Scham, ich wütete gegen mich selbst wegen meiner Wut, wütete gegen den Tod, weil es ihn gab, weil er sich bei ihr so viel Zeit ließ und so grausam war. (Seite 173)

Nicola weiß sogleich Rat: Sie wird ins Windsor Hotel umziehen und sich dort von früheren Schulfreundinnen pflegen lassen, die in Melbourne leben.

Zehn Tage nach der Operation fliegt Nicola zurück nach Sydney. In der Wohnung ihrer Nichte wird sie von Freundinnen gepflegt, die sich dabei abwechseln. Auch Helen fliegt regelmäßig nach Sydney. Erst ganz zum Schluss lässt Nicola sich dazu überreden, in ein Hospiz zu gehen. Während einer Autorenversammlung in Adelaide erhält Helen die Nachricht, dass ihre Freundin im Sterben liegt. Sie nimmt den nächsten Flug nach Sydney.

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In ihrem Roman „Das Zimmer“ veranschaulicht Helen Garner, wie sich die todkranke Patientin Nicola an alternative Therapien klammert, weil sie die Hoffnung nicht aufgeben und das Sterben nicht wahrhaben will. Ebenso authentisch wirkt der Zorn, mit dem ihre Freundin Helen – die wohl nicht zufällig den Vornamen der Autorin trägt – auf Nicolas Selbsttäuschung und ihre eigene Überforderung reagiert. Nebenbei geht es um Scharlatane, die viel Geld mit dubiosen Behandlungsmethoden verdienen und die Verzweiflung ihrer Patienten skrupellos ausnutzen. Nicht zuletzt handelt „Das Zimmer“ auch von einer engen Freundschaft.

Helen Garner lässt die Protagonistin Helen in der Ich-Form erzählen. Einfühlsam und zugleich schonungslos schildert sie Nicolas Krankheit und die widersprüchlichen Gefühle der Freundin. Auch wenn es sich bei „Das Zimmer“ um einen fiktiven Roman handelt, glaubt man als Leser zu spüren, dass Helen Garner ähnliche Erfahrungen wie die Ich-Erzählerin gemacht hat. Die zwar schnörkellose, aber facettenreiche Darstellung ist frei von Kitsch, Pathos und Larmoyanz. Gerade deshalb ist „Das Zimmer“ ein sehr trauriger und bewegender Roman.

Den Roman „Das Zimmer“ von Helen Garner gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Marlen Diekhoff (Regie: Margrit Osterwold, Hamburg 2009, 4 CDs, ISBN: 978-3-89903-680-0).

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2010
Textauszüge: © Berlin Verlag

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