Christina Chiu : Schwarze Schafe und andere Heilige

Schwarze Schafe und andere Heilige
Originalausgabe: Troublemaker and other Saints G. P. Putnam's Sons, New York 2001 Schwarze Schafe und andere Heilige Übersetzung: Angela Praesent DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln 2002 ISBN 3-8321-7801-5, 300 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Kriminell, schwul, bisexuell, promiskuitiv, magersüchtig, selbstmordgefährdet sind die Kinder chinesischer Einwanderer in New York. Die "schwarzen Schafe" verletzen in den Augen ihrer Eltern die Familienehre. Während die Älteren den chinesischen Traditionen verhaftet bleiben, gehen die Jüngeren ihre eigenen Wege.
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Kritik

Der Roman "Schwarze Schafe und andere Heilige" setzt sich aus elf Episoden mit wechselnden Ich-Erzählern zusammen, denen Christina Chiu unterschiedliche Stimmen verliehen hat. Einige der tragikomischen Erzählungen sind schlichtweg brillant.
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Null

Laurel (Ich-Erzählerin), die elf- oder zwölfjährige Tochter chinesischer Einwanderer in New York, trauert um ihre vor drei Wochen verstorbene Großmutter. Sie kann nicht begreifen, dass ihre Mutter das Zimmer der Verstorbenen ausräumt und die Sachen fortwirft. Ohne ihre geliebte Großmutter fühlt sie sich einsam. Sie hat nur noch ihren Goldfisch, den sie Yu (chinesisch: Fisch) nennt. Einen Hund, den sie sich sehnlich wünscht, bekommt sie von ihren Eltern nicht.

Vom Liegestuhl der Großmutter aus beobachtet sie die Nachbarstochter Sarah, die mit dem etwas älteren Mitschüler Evan geht, dem es gar nicht gefällt, dass sein Mädchen eifrig die Rolle der Julia aus „Romeo und Julia“ von William Shakespeare einstudiert, um sich an einem Vorsprechen zu beteiligen. Sarahs Bruder Todd gilt übrigens als der größte Sportler in der Schule.

Als Laurel eine Klassenarbeit leer abgibt und zum Lehrer sagt, dass sie ohnehin sterben wolle, bittet dieser ihre Eltern zu einem Gespräch. Der Vater ist wütend, denn nach seiner Auffassung wurde durch Laurels Verhalten die Familienehre beschmutzt. „Du undankbares Schwein!“, schreit er zu Hause.

„Deine Mutter“, sagt Dad nun zu Mama. „Siehst du, wie sie das Mädchen verzogen hat?“
Ich springe auf. „Sprich nicht so über sie! Du hast kein Recht …“
Dad schnellt hoch und kippt den Tisch um. Alles fliegt runter. Ich stolpere rückwärts und sitze plötzlich wieder. Geschirr trifft mich an der Brust und zerschellt am Boden. Die runde Tischkante landet auf meinem Schoß. (Seite 21)

Am nächsten Morgen läuft Laurel aus dem Haus. Sie will sich von einer Eisenbahnbrücke stürzen, dann vor den Zug werfen, bringt jedoch beides nicht fertig.

Beim Abendessen sagt der Vater kein Wort. Die Mutter bittet Laurel mit Blicken, sich bei ihm zu entschuldigen.

Meinetwegen, denke ich, was soll’s. „Tut mir Leid“, sage ich und stochere mit einem Stäbchen an einem Stück Huhn herum.
„Was war das?“, fragt er.
„Tut mir Leid, hab ich gesagt.“
„Zu wem?“, fragt Dad und schaufelt Reis in den Mund.
Ich schaue Mama an und denke: Siehst du? Er führt sich nur wie ein Blödmann auf, ich hab’s dir ja gesagt.
Sie stupst mich unter dem Tisch mit dem Fuß.
„Tut mir Leid, Dad.“
Er stellt seine Schale ab und legt die Stäbchen hin. Er kaut, er schluckt. „Wollen wir mal eins klarstellen. Wenn du dich hier so unglücklich fühlst, kannst du jederzeit gehen. Niemand zwingt dich zu bleiben …“
Mama ruft laut Dads chinesischen Namen, aber er tut das mit einer Handbewegung ab.
„Keiner zwingt dich, an meinem Tisch zu essen und unter meinem Dach zu schlafen“, sagt er. „Wenn du also sterben willst, nur los, tu, was dir gefällt. Aber mach nie wieder deiner Mutter oder mir vor Fremden Schande. Kapiert?“
Ich spieße meine Stäbchen in den Reis und schiebe die Schale beiseite. „Kapiert.“ (Seite 36f)

Erneut läuft Laurel zum Bahndamm. Diesmal reißt Sarah sie im letzten Augenblick vor dem Zug von den Schienen.

Frau Doktor

Die Ich-Erzählerin Dr. Georgianna („Georgie“) Wong ist achtundzwanzig Jahre alt und arbeitet seit dem Abschluss ihres Medizinstudiums in Harvard in einer auf die Behandlung von Essstörungen spezialisierten Klinik an der Upper East Side in New York. Sie war früher selbst Bulimikerin und weiß deshalb aus eigener Erfahrung, was die Patientinnen durchmachen. Zum Entsetzen ihrer aus China stammenden Familie und ihrer nach Hongkong zurückgekehrten Eltern hat sie einen Afroamerikaner geheiratet. Er heißt Mark.

Eine ihrer Patientinnen wurde ihr von einer Freundin ihrer Mutter Lucy gebracht; es handelt sich um deren sechzehnjährige Nichte Laurel, die bei 1,63 Meter Körpergröße nur noch 36 Kilogramm wiegt. Als Georgie nach Laurel sieht, liest diese „Romeo und Julia“. Auf dem Nachttisch steht ein Goldfischglas.

Georgie muss sich zwischendurch um ihren verkalkten Onkel kümmern, der in einem heruntergekommenen Hotel für Fürsorgeempfänger wohnt, in dessen Treppenhaus Georgie sich zu ihrer eigenen Sicherheit jeweils vom Hausmeister begleiten lässt. Zweimal fährt sie vergeblich hin, und obwohl sie beim zweiten Mal bis fast vor seine Tür übers Handy mit ihrem Onkel telefoniert, öffnet er seine Tür nicht. Als sie zum dritten Mal kommt, steht er vor dem Gebäude auf der Straße, und sie geht mit ihm in ein nahes Schnellrestaurant. Er hat nicht noch nicht erfahren, dass seine Nichte inzwischen verheiratet ist. Sie holt ein Hochzeitsfoto aus ihrer Tasche und zeigt es ihm.

„O mein Gott.“
„Ja, er ist schwarz.“ (Seite 65)

Matriarchin

Tai-Tai Wong (Ich-Erzählerin), eine vornehme Greisin in Hongkong, lässt sich von ihrer Zofe Ah Ming regelmäßig zum Friedhof fahren, damit sie die Gräber ihres Mannes L. Y. und ihrer Schwester Ah Fang besuchen kann. Seit ihrem Schlaganfall spricht sie mit ihrem Mann am Grab und erzählt ihm beispielsweise, dass ihre Enkelin Rai-Cho – die von den in die USA ausgewanderten Familienmitgliedern Rachel genannt wird – vom College Wellesley in Boston angenommen wurde. Tai-Tai kann sich nicht verzeihen, dass sie ihrer Schwester den Mann weggenommen hatte, in den diese verliebt gewesen war. Sie wird nie vergessen, wie sie Ah Fang von der Deckenlampe schnitt, an der diese sich erhängt hatte.

Ah Ming, die am Friedhofstor wartete, drängt zum Aufbruch, denn sie soll Rai-Cho pünktlich zum Zahnarzt fahren. Rai-Cho wartet bestimmt schon vor dem Landmark-Gebäude auf sie.

Ein Unfall gleich nach Lane Crawford führt zu einem Stau von zwanzig Minuten. Ein Teenager im Porsche ist in einen Mercedes hineingefahren, der […] im Halteverbot stand […] Die Klimaanlage seufzt […]
Ich halte den Rosenkranz zwischen Daumen und Zeigefinger. „Gegrüßet seist du Maria, voll der Gnaden, der Herr ist mit dir …“
„Keine Sorge, Tai-Tai“, sagt Ah Ming. „Wir sind fast da.“
Ich suche das Trottoir ab. Wo ist sie? Rai-Cho müsste nun wirklich längst vor dem Landmark stehen. Wir warten und warten […]
„Also, jetzt gehe ich selbst Rai-Cho suchen“, sage ich und mache die Wagentür auf.
„Tai-Tai!“
Die Tür schwingt auf und prallt mit einem dumpfen Bums an den Jaguar neben uns. Rasch ziehe ich sie zu und lehne mich zurück. Der Chauffeur des Jaguar rollt sein Fenster hinunter, und Ah Ming – leise brummelnd – tut das Gleiche. Der Chauffeur steckt den Kopf zum Fenster heraus, um den Schaden zu betrachten. Er nimmt seine Chauffeurmütze ab, und feuchte, schlaffe Haare kommen zum Vorschein.
„Tut mir furchtbar Leid“, brüllt Ah Ming. Sie reckt den Hals, um durchs Beifahrerfenster hinauszugucken. „Was passiert?“
Der Mann schüttelt den Kopf. „Nichts zu sehen.“ Sie wechseln noch ein paar Worte, dann gehen die Fenster wieder hoch. Zum Glück hat niemand im Fond des Jaguar gesessen. Ich schließe die Augen und tue so, als wäre ich eingenickt […] (Seite 72f)

Zum Entsetzen ihrer Großmutter erscheint Rai-Cho in der Begleitung eines Filipinos. Obwohl Tai-Tai während der Fahrt einnickt, bekommt sie mit, dass Rai-Chos Freund in Harvard Medizin studieren will und ihre Enkelin von ihm schwanger ist.

Rai-Cho ist froh, dass sie einen Studienplatz in Boston bekommen hat und in der Nähe ihres Freundes sein kann, aber sie fühlt sich hin und her gerissen, weil sie dann ihre Großmutter Tai-Tai und ihre Eltern Esther und Philip Sheng in Hongkong zurücklassen muss.

Mama

Mary Tung (Ich-Erzählerin) fährt mit ihrer Tochter Chrissy, die gerade einen Studienplatz an der juristischen Fakultät in Harvard erhalten hat, zum Flughafen John-F.-Kennedy, um ihren Ehemann Sam abzuholen, der von einer Geschäftsreise aus Hongkong zurückkehrt. (Sams Bruder ist übrigens Laurels Vater.) Mary freut sich, dass Chrissy an der Eliteuniversität studieren wird wie Georgie, die Tochter ihrer Schulfreundin Lucy. Esthers Tochter Rai-Cho hat es dagegen nur nach Wellesley geschafft. Unglücklich ist Mary nur, weil Chrissy bisexuell ist.

Da Mary weiß, dass Sam gern in Chinatown isst, fährt sie mit ihm und ihrer Tochter dorthin. Sie ist froh, dass Chrissy nicht von Elaine begleitet wurde, aber die junge Frau taucht nun im Restaurant auf: Chrissy hat ihr offenbar Bescheid gesagt.

Als sie nach dem Essen zum Auto gehen, scheppert es in der Nähe und ein alter Mann stürzt auf die Straße, direkt vor Elaines Füße.

Schwarzes Schaf

In der Nähe des Restaurants, in dem Mary, Sam, Chrissy und Elaine aßen, wohnen Eric Tsui (Ich-Erzähler) und dessen Freund Seymour. Sobald Erics Eltern die Wohnung verlassen haben, rasen die beiden Jungen mit ihren Skateboards durch die Zimmer. Wegen des Lärms klopft der darunter wohnende Greis Lao Gong mit seinem Stock gegen die Zimmerdecke, aber Ruhe gibt es erst, als Erics älterer Bruder Jonathan („Johnnie“) nach Hause kommt. Da verziehen Eric und Seymour sich mit einem Sixpack Bier aufs Dach und setzen sich an die Kante.

Als sie Lao Gong aus dem Haus kommen sehen, wettet Seymour mit seinem Freund, dass dieser den alten Mann nicht mit einer zerknüllten Bierdose treffen könne. Eric nimmt die Wette an und wirft. Der Greis, der sich mit einer Hand am Geländer neben den Stufen des Hauseingangs festhält und mit der anderen auf seinen Stock stützt, greift sich ans blutende Ohr, stürzt auf die Straße und prallt gegen eine Passantin (von der wir wissen, dass es sich um Elaine handelt).

Eine Stunde später werden Eric und Seymour von zwei Polizisten abgeführt.

Erics Mutter, die ihren Sohn vom Polizeirevier abholt, verlangt von ihm, dass er Lao Gong etwas zu essen bringt und ihn fragt, was er für ihn einkaufen könne. Der Junge ekelt sich vor dem Greis und den Gerüchen, die aus dessen Wohnung kommen, aber es bleibt ihm nichts anderes übrig: Er muss dort klingeln. Als Lao Gong öffnet, stellt Eric erstaunt fest, dass die gesamte Wohnung mit Zeitungsstapeln verstellt ist. Der alte Mann liest die zum Teil Jahrzehnte alten Zeitungen eine nach der anderen mit einer Lupe und regt sich über die Ereignisse auf, als seien sie aktuell.

Gentleman

Henry Wong II (Ich-Erzähler) ist der Eigentümer des 1949 in Hongkong gegründeten Unternehmens Royalty Decorating Ltd. Am 30. Juni 1997, einen Tag vor der Rückgabe der britischen Kronkolonie an die Volksrepublik China, findet ein großes Bankett statt, doch obwohl Henry 10 000 Hongkong Dollar pro Platz bezahlt hat, kommt seine Ehefrau Judy wegen ihrer Arthritis-Beschwerden nicht mit. Seine in den USA lebende Nichte Amy, die auf Familienbesuch in Hongkong ist, holt ihn ab.

Henry fordert seinen Butler und Chauffeur Fernando auf, noch einen Abstecher zum Lager seiner Firma zu machen. Er ärgert sich über seine Schwester Esther, die es inzwischen übernommen hat. Um ihm sein Lebenswerk abzujagen, wie er annimmt. Amy hat dagegen gehört, dass Royalty Decorating nahezu bankrott ist und nach dem Abzug der Briten keine Überlebenschance mehr hat. Henry ist so verärgert, dass er Amy beinahe gefragt hätte, ob sie wisse, dass Esther ihren ersten Mann und ihren vierjährigen Sohn im Stich ließ. In dem Lager zeigt er seiner Nichte vor allem einen Thron. Der gehöre der englischen Königin, erklärt er, und sehe genauso aus wie der im Buckingham-Palast. Wenn der Thron in London einmal abgenützt sei, stehe dieses Pendant bereit.

Nach dem Bankett lässt Henry sich noch einmal von Fernando zum Lager fahren. Da fällt ihm ein, dass er Amy den Schlüssel gegeben hat. Aber die Tür ist nur angelehnt. Henry tritt verwundert ein. Er hört Amy und einen jungen Mann namens Jonathan stöhnen. Sie treiben es auf dem Thron. Unbemerkt zieht Henry sich wieder zurück.

Star

Steven Wong (Ich-Erzähler), der einzige Enkelsohn von Tai-Tai Wong, verbringt einen Abend mit seiner Mutter Virginia in seiner Wohnung in New York, die er sich mit seinem Geliebten Jack teilt. Virginia Wong findet sich nicht damit ab, dass ihr Sohn schwul ist und versucht immer wieder, ihn mit einer Frau zu verkuppeln.

Sie kündigt ihm den Besuch ihrer Schwester Esther aus Hongkong an. Sie werde ihn sehen wollen und er dann hoffentlich nicht seinen Freund mitbringen. Als Virginia darauf zu sprechen kommt, dass Esthers Tochter Rai-Cho inzwischen am College Wellesley in Boston studiert, fragt Steven, ob das Mädchen wirklich eine Abtreibung hinter sich habe.

Virginia und Steven verabreden sich mit Esther in einem Restaurant. Steven weiß, dass seiner Tante aufgrund einer Krebserkrankung eine Brust amputiert wurde, aber er kann nicht erkennen, welche. Esther legt ihrem Neffen eine Visitenkarte der freiberuflichen Autorin Chrissy Tung hin und nimmt ihm das Versprechen ab, die junge Frau anzurufen. Er nimmt die Karte zwar an sich, aber er hat nicht vor, sich verkuppeln zu lassen.

Inzwischen hat am Nebentisch ein Paar Platz genommen. Die „Dame“ beugt sich herüber und fragt nach den Speisen. Steven stellt verärgert fest, dass es sich bei dem Transvestiten um Jack und bei dessen Begleiter um einen anderen schwulen Freund namens Fred handelt. Die beiden amüsieren sich prächtig über ihren Streich.

Nach einer Weile flüstert Esther ihrem Neffen fassungslos zu: „Die Frau da, das ist … ein Mann.“

Händler

Jonathan (Ich-Erzähler) reist mit seiner Frau Justine zu den Global Meetings seiner Firma nach Sydney. Justine fühlt sich unwohl, als die angetrunkenen Männer in einer Kneipe ordinäre Witze zum Besten geben und ärgert sich, dass Jonathan nichts unternimmt, als Thomas, sein australischer Chef, ihr vor allen Leuten zum Spaß einen Knutschfleck an den Hals lutscht.

Deshalb hat sie auch keine Lust, am nächsten Tag mit Thomas und dessen Ehefrau Helen einen kleinen Segeltörn zu machen, aber Jonathan überredet sie, mitzukommen.

Jonathans dreiundzwanzigjähriger Bruder Eric ruft aus New York an. Das schwarze Schaf der Familie hat eine neue Freundin. Sie heißt Melissa.

Schönheit

Nachdem Helen ihn verlassen hat, lebt Thomas in New York. Er geht mit Amy (Ich-Erzählerin) aus und fährt sie nach dem Essen in seinem silberfarbenen Mercedes nach Hause. Amy will mit ihm schlafen, aber vor ihrer Tür geraten sie in Streit, und er kommt nicht mit in ihr Apartment.

Kurz darauf trifft sie ihren früheren Freund Jim, den ihr Angel Yang, ihre beste Freundin, bei einem Klassentreffen ausgespannt hatte. Jim versichert Amy, das mit Angel sei nicht ernst gewesen und begleitet sie unaufgefordert nach Hause. In ihrer Wohnung legt sie sich ausgezogen vor ihm aufs Bett und spreizt die Beine. Als sie merkt, dass er kurz vor dem Orgasmus ist, beginnt sie zu singen und verspottet ihn. Es kommt zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung.

Angel klopft an Amys Wohnungstür. Sie sucht verzweifelt nach Jim. Dann klingelt auch noch das Telefon und Thomas spricht eine Entschuldigung aufs Band.

Seelengefährtin

Philip Shengs Schwester Aggie (Ich-Erzählerin) hatte mit ihrem Ehemann Gary Stevenson zusammen zwei Kinder: Todd und Sarah. Die Tochter erschoss sich vor Jahren in ihrem Zimmer. Um sich endlich von der Vergangenheit zu befreien, möchte Aggie das Haus verkaufen, aber Gary, der nicht über Sarahs Tod hinwegkommt, entfernt das Schild aus dem Vorgarten und ruft den Makler an, um ihm abzusagen.

Todd, der vorbeikam, als er von der Verkaufsabsicht erfuhr, um sich noch einmal in seinem Elternhaus umzusehen und die Poster aus seinem Zimmer mitzunehmen, wird von Eric und Melissa mit dem Auto abgeholt.

Dieb

Als Seymour (Ich-Erzähler) vier Jahre alt gewesen war, hatte seine Mutter Esther ihn und seinen Vater verlassen. Sie hatten damals in der Chinatown von New York gewohnt.

Vor fünf Jahren lernte Seymour in New York Laurel kennen, eine junge Frau, die im Alter von elf, zwölf Jahren ihre Großmutter verloren hatte, darüber krank geworden war und zwei Jahre lang unter einer Anorexie gelitten hatte. Während einer Urlaubsreise entdeckt Seymour in Hongkong in einer Tageszeitung das Foto einer korpulenten älteren Dame, die auf einem großen Ball ein wunderbares Collier trägt, das 2 Millionen Dollar wert sein soll. Es handelt sich um eine Kette von Lotusblüten aus Jade. Um Laurel endlich einen wertvollen Brillantring schenken und sich mit ihr verloben zu können, bricht Seymour nachts in die Villa ein, in der die Trägerin des Colliers wohnt.

Nachdem er im Schlafzimmer das Telefonkabel aus der Wand gezogen hat, weckt er das Ehepaar Sheng und verlangt von Philip Sheng, dass er aufsteht und den Safe öffnet. Vor Aufregung kann Sheng sich nicht mehr an den Code erinnern. Seine Frau nennt ihm die Ziffern vom Bett aus. Sie hat sich dazu aufgesetzt, und Seymour bemerkt trotz des Nachthemds, dass ihr eine Brust fehlt.

Tick-tick-tick; tick-tick-tick; tick-tick-tick. Sheng probierte es mit der Kombination, aber der Safe wollte sich nicht öffnen. Frustriert rüttelte er an dem Griff. „Si le“ – tot – keuchte er.
„Genau, Alter. Si le – verstanden?“ Ich zerrte seine Frau aus dem Bett, zwang sie aufzustehen und fasste sie an der Gurgel. Ich setzte ihr die Mündung an die Schläfe und fragte mich, ob es nicht einfacher wäre, wenn ich versuchte, den Safe selbst zu öffnen.
„Nehmen Sie das Collier. Nehmen Sie alles. Nur tun Sie ihr nicht weh.“ Sheng wandte sich wieder dem Safe zu. Tick-tick-tick; tick-tick-tick. Die Frau war fleischig und weich. Der eigenartige Geruch ging von ihrem Nachthemd aus, und ich fühlte eine Woge von Wut auf mich einstürzen. Was war das bloß? Weihrauch? Parfum? Ich riss ein Stück Kordel aus meiner Tasche und band ihr die Hände auf dem Rücken zusammen.
„Ich gebe Ihnen noch eine Minute“, erklärte ich Sheng.
„Bitte“, bettelte er. Schweiß tropfte ihm vom Haaransatz.
„Sechzig, neunundfünfzig, achtundfünfzig …“ Mein Unterleib presste sich gegen den schwabbeligen Hintern seiner Frau. Genau – wer ist jetzt hier der Boss?
Auf einmal hatte ich einen Ständer.
Scheiße, dachte ich. Bleib cool, Mann. Verlier jetzt bloß nicht den Kopf.
Aber die Frau verlagerte ihr Gewicht, streifte mich, brachte mein Ding zum Pochen. Miststück, dachte ich […]
Wieder pochte mein Schwanz. Ich dachte an Laurel. Wie schön sie war, was für ein verfluchtes Glück ich doch hatte, sie zu besitzen. Und doch war ich hier bei einer Dicken gelandet. Einer beschissenen Dicken. Ich wolle der fetten Kuh die Beine auseinander treten, ihr eine ordentliche Lektion verpassen […] Ich drückte ihr den Kopf in die Matratze und lüpfte ihr Nachthemd. Fettschichten bedeckten ihre Beine. Halbmonde von Arschbacken quollen über ihre Unterwäsche […] (Seite 277ff)

Endlich hat Sheng den Safe geöffnet und holt das Collier heraus. Seine Frau behauptet, es handele sich um eine wertlose Imitation, aber Sheng beteuert, dass es sich um ein Erbstück aus der Familie seiner Mutter handele. Er muss sich zu seiner Frau aufs Bett legen und wird von dem Einbrecher ebenfalls gefesselt. Dann packt Seymour auch den restlichen Schmuck in eine Tüte und verlässt die Villa.

Da Jie, die Seymour noch von der Highschool kennt, arbeitet inzwischen für den Mafiaboss Da Ge. Seymour sucht sie in ihrem Büro hinter einem Kiosk auf und zeigt ihr seine Beute. Das Collier gefällt ihr sehr, aber sie will es am nächsten Tag noch von einem Fachmann prüfen lassen und gibt ihm erst einmal ein paar hunderttausend Dollar als Anzahlung. Inmitten des Schmucks fällt Seymour ein Plastikring auf, blauviolett wie ein riesiger Saphir. So einen Ring hatte er als Kind aus einem Kaugummiautomaten gezogen und seiner Mutter geschenkt. Ist „Shengs fettes Luder“ etwa seine Mutter? Er nimmt den Ring an sich. Aber vermutlich haben Millionen Kinder ihrer Mutter so einen Ring geschenkt.

Seymour erzählt Laurel, er habe einen lukrativen Geschäftsabschluss gemacht und geht mit ihr groß einkaufen. Während Laurel ein 5000-Dollar-Kleid anprobiert, kauft Seymour bei einem Juwelier in der Nähe einen Platinring mit einem dreikarätigen Brillanten für sie.

Bevor er Laurel den Ring schenken kann, ruft Da Jie an: Das Collier sei eine Imitation, behauptet sie und warnt ihn, weil die Bestohlene der Polizei eine präzise und zutreffende Beschreibung des Diebes gegeben hat. „Wäre sie deine Mutter, sie hätte es nicht besser gekonnt.“ Seymour weiß, dass er alles verloren hat. Er stellt jetzt ein Sicherheitsrisiko für Da Ge dar, denn falls er festgenommen wird, könnte er der Polizei erzählen, was er über das organisierte Verbrechen in Hongkong weiß. Der Gangsterboss wird ihn also eliminieren wollen. Laurel ist in seiner Begleitung nicht mehr sicher. Um sie zu schützen, muss er sie verlassen. Statt des Brillantrings, den er zur Finanzierung seiner Flucht benötigt, schenkt er ihr den Plastikring, und als sie ihn verblüfft anschaut, sagt er:

„Den habe ich als kleiner Junge meiner Ma geschenkt. Weißt du, was sie gesagt hat? Sie hat gesagt: ‚Egal, was geschieht, vergiss nie, dass ich dich liebe.'“ (Seite 299)

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Kriminell, schwul, bisexuell, promiskuitiv, magersüchtig, selbstmordgefährdet sind die Kinder chinesischer Einwanderer in New York, und die „schwarzen Schafe“ verletzen damit in den Augen ihrer Eltern die Familienehre. Während die Älteren den chinesischen Traditionen verpflichtet bleiben, gehen die Jüngeren eigene Wege. Es geht um den Konflikt zwischen Tradition und Moderne, zwischen chinesischer und nordamerikanischer Kultur, den Christina Chiu als in New York lebende Tochter chinesischer Einwanderer aus eigener Erfahrung kennt. „Schwarze Schafe und andere Heilige“ sei ein Roman, heißt es, aber es handelt sich nicht um eine stringente Handlung, sondern um elf Episoden mit jeweils einer anderen Ich-Erzählerin bzw. einem anderen Ich-Erzähler. Jeder Stimme ordnet Christina Chiu eine eigene Sprache zu. Einige der ergreifenden Erzählungen in ihrem Debütroman sind brillant. Christina Chiu erzählt temporeich und poetisch, einfühlsam und mit sehr viel Sinn für tragikomische Szenen.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005
Textauszüge: © DuMont Literatur und Kunst Verlag

Colm Tóibín - Marias Testament
Colm Tóibín erzählt in "Marias Testament" die aus dem Neuen Testament bekannte Geschichte gegen den Strich und macht aus der Heilsgeschichte ein finsteres Drama. Die Sprache der alten Frau, die hier zu Wort kommt, ist einfach, nüchtern und unsentimental. Aber gerade dadurch wirkt "Marias Testament" dicht, authentisch und suggestiv.
Marias Testament