Lukas Bärfuss : Hagard

Hagard
Hagard Originalausgabe: Wallstein Verlag, Göttingen 2017 ISBN: 978-3-8353-1840-3, 173 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Als der Schweizer Liegen­schafts­ent­wickler Philip von einem Geschäfts­partner versetzt wird und dadurch eine Stunde Leerlauf hat, fällt ihm ein Paar pflaumenblauer Ballerinas auf, und er folgt der zierlichen Trägerin spontan, ohne auch nur ihr Gesicht gesehen zu haben. Warum Philip dies tut, weiß niemand. Mit dem zweck­losen Unterfangen steigt er nicht nur aus seinem bürgerlichen Leben aus, sondern ruiniert seine Existenz. Er verwildert ...
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Kritik

"Hagard" ist ein inhaltlich und vor allem formal origineller Roman. Lukas Bärfuss entwickelt die ausgefallene Geschichte auf ganz besondere Weise. Für gute Unterhaltung sorgen komische und satirische Miniaturen über die Alltagswelt.
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Am 11. März 2014 um 16.15 Uhr wartet Philip, ein Schweizer Liegen­schafts­ent­wickler Ende 40, in einem Café der Zürcher Altstadt auf einen Mann, dessen Malergeschäft bankrott ist und der deshalb ein Grundstück verkaufen muss, das seit Generationen zum Familienbesitz gehört. Nachdem Philip eine Weile vergeblich auf diesen Hahnloser gewartet hat, geht er auf die Straße hinaus und schickt seiner Assistentin Vera – der einzigen Mitarbeiterin – eine Nachricht: Falls Hahnloser sich noch meldet, soll sie ihm Bescheid geben. Außerdem erinnert er sie daran, für ihn einen Flug am übernächsten Tag nach Las Palmas zu buchen, und zwar auf einem der vorderen Plätze, damit er nach der Landung keine Zeit verliert. Er muss nach Tejeda. Dort will er einen Komplex mit Seniorenwohnungen bauen.

Es war das größte Vorhaben, seit er sich selbstständig gemacht hatte. Die Bebauung hatte ihn Zeit, Geld und Nerven gekostet, und jetzt ging es nur noch darum, die Verträge zu unterzeichnen und den Gewinn einzustreichen.

Vier der zwölf noch gar nicht existierenden Apartments hat er bereits verkauft. Nun will er sich mit einer Gruppe von Pensionären treffen, die in der Gegend Wanderferien machen und an Seniorenwohnungen in Spanien interessiert sind.

Philip hält sich eine Weile an einem Brezelstand vor einem Warenhaus am Bellevue auf und beobachtet, wie die Drehtüre Menschen aus dem Gebäude schaufelt. Ein Paar pflaumenblaue Ballerinas fallen ihm auf. Sie befinden sich an den Füßen einer zierlichen Frau, die er allerdings nur noch von hinten sieht. Philip folgt ihr spontan.

Im Schatten einer Frau zu bleiben, sie im Verborgenen zu studieren, ihren Körper, ihre Bewegungen zu betrachten, während sie ihre Besorgungen erledigte, sich an ihrer Arglosigkeit zu ergötzen war vielleicht reizvoll, aber es war verdorben und gehörte sich nicht.

Bis er gegen 18 Uhr bei Belinda sein muss, hat er noch eine Stunde Zeit. Vera schickt ihm eine SMS: Hahnloser habe sich verspätet, sei aber jetzt im Café. Philip müsste umkehren. Immerhin geht es um ein lukratives Geschäft. Aber stattdessen bleibt er der Unbekannten, deren Gesicht er noch nicht gesehen hat, auf den Fersen.

Er überging die Nachricht. Hahnloser konnte er auch nächste Woche treffen. Gewiss war diese Verspätung geplant, und Philip wollte ihm nicht das Gefühl geben, dass er am längeren Hebel saß. Jede Schwäche würde den Preis erhöhen. Und selbst wenn Hahnloser absprang und sich einen anderen Käufer suchte, wäre dies kein Unglück. Philip brauchte dieses Geschäft nicht, diesen abschüssigen Flecken am Rande einer Streusiedlung, wo man mit knapper Not eine Hütte für eine fünfköpfige Familie hinstellen konnte. Das war nur ein Zubrot, gemessen an Gran Canaria.

Auch auf eine Nachricht Belindas reagiert er nicht. Er merkt, dass seine Tissot steht. Es ist bereits kurz vor sechs. Der Akku seines Smartphones ist bei 32 Prozent.

Philip beobachtet, wie die Frau ein Pelzgeschäft betritt, einen Zettel abgibt, einen Mantel abholt und mit einer Karte bezahlt.

Es ist nicht eindeutig zu sagen, was in diesem Moment durch Philips Kopf ging […] Unter dem Einfluss der österreichischen Novellistik in der Zeit der Doppelmonarchie gab es hundertvierzig Jahre später, in den Tagen Philips, eine lebendige Verbindung zwischen dem Pelz und dem Flagellantismus […]. Natürlich gab es weiterhin Männer, die ihre Lust in der Unterwerfung fanden. Die entsprechenden Dienstleistungen wurden weiter angeboten und, wie man allgemein annahm, vor allem von Männern in gehobener Position in Anspruch genommen, die sich in einem mittelalterlichen Folterkellern nachempfundenen Studio gegen ein ansehnliches Honorar von einer Dame Bananenklemmen an die Brustwarzen heften und sich durch Schmähungen und Beleidigungen vom täglichen Druck der Verantwortung für ihre Mitarbeiter entspannen ließen.

Die Frau mit dem Pelzmantel fährt mit der Straßenbahn zum Bahnhof und geht zu den Vorortzügen. Gäbe Philip die Verfolgung jetzt auf, käme er mit einer noch halbwegs entschuldbaren Verspätung zu Belinda, die trotz ihrer mexikanischen Herkunft Wert auf Pünktlichkeit legt. Stattdessen steigt Philip ebenso wie die Frau in einen Zug. Dabei hat er nicht einmal eine Fahrkarte.

In einem Vorort verlässt die Frau die Bahn und verschwindet schließlich in einem Mietshaus mit zwölf Parteien.

Und er schwankt zwischen Niederlage und Triumph. Ihr Gesicht hat er immer noch nicht gesehen, aber er weiß, wo sie wohnt.

Philip bestellt ein Taxi. Wo er sich befindet, zeigt ihm das Smartphone, dessen Akku jetzt bei 25 Prozent ist. Statt einzusteigen, gibt Philip dem Fahrer – ein Asiate, vielleicht auch Afrikaner oder Südamerikaner – seine Autoschlüssel und das Parkticket. Wunschgemäß bringt ihm der Taxifahrer seinen BMW aus dem Parkhaus in Zürich.

Belindas Nachrichten löschte er allesamt ungelesen, irgendwann, noch vor Mitternacht, gab sie es auf.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Nach einer im Auto verbrachten Nacht sieht er die Frau aus dem Haus kommen. Aufgeregt sucht er nach seiner Geldbörse. Die klemmt zwischen Sitz und Mittelkonsole.

Wissen, wo sich eine Sache befindet, ist nicht dasselbe, wie über sie zu verfügen. Er sieht die Börse, aber er kommt nicht an sie heran.

Mit nichts als ein paar Münzen in der Hosentasche läuft er der Frau zum Bahnhof nach und steigt erneut ohne Fahrkarte in einen Zug. Den beiden Kontrolleuren entkommt er durch einen Sprung auf den Bahnsteig in Zürich, aber dabei verliert er einen seiner beiden Timberland Boots. Auf der Rolltreppe steht die Frau direkt hinter ihm. Er könnte sich umdrehen, aber stattdessen bleibt er stehen und starrt nach oben.

Sieh sie an, um Gottes willen. Was ist auch dabei? Aber du kannst nicht. Du hast Angst. Angst vor ihrem Blick. Dass sie es nicht wert war. Die letzte Nacht. Die Verfolgung. Solange sie ein Geheimnis bleibt, so lange kannst du glauben. Wenn du ihr Gesicht siehst, wirst du alles wissen und nichts mehr erfahren.

Sie verschwindet in einem Bürogebäude mit Fenstern wie Froschaugen. Vor Mittag ist nicht damit zu rechnen, dass Philip sie wiedersieht – und auch das nur, wenn es keine Kantine gibt. Er teilt Vera mit, dass er nicht ins Büro kommen werde. In einem Laden stiehlt er ein Paar Pantoffel mit Plüsch-Eichhörnchen. In einen davon schlüpft er mit seinem schuhlosen Fuß. In einem schmuddeligen kurdischen Schnellimbiss trinkt Philip Ayran. Es schmeckt grässlich, aber er hat Hunger und Durst, und mehr kriegt er nicht für die paar Münzen, die er bei sich hat. Er isst auch das Achtel Tomate, das auf dem Tisch lag und vermutlich aus einem Döner gefallen ist.

Als die Frau mit einem Kollegen zur Technischen Hochschule fährt, um an einer Veranstaltung zur „Woche des Gehirns“ teilzunehmen, bleibt Philip ihr auf den Fersen, obwohl er nicht ganz sicher ist, ob es sich bei ihr um die Besitzerin der pflaumenblauen Ballerinas handelt. Nachdem er eine Weile bei einem langweiligen Vortrag zugehört hat, verlässt er das Auditorium Maximum.

Sein Smartphone hat sich wegen des auf zwei Prozent abgefallenen Akku-Ladezustands abgeschaltet. Um Vera oder Belinda anzurufen, fragt er an der Rezeption nach einem Münzfernsprecher. Es gibt nur ein Kartentelefon, aber die Empfangsdame hilft ihm mit einer Telefonkarte aus. Er weiß jedoch weder Veras noch Belindas Nummer, denn beim Smartphone benötigt er sie nicht.

Das kluge Telefon zeigt bei jedem Anruf das Gesicht und den Namen, aber niemals eine Nummer.

Immerhin kennt er seine Geschäftsnummer. Als er sie wählt, hört er seine eigene Stimme vom Anrufbeantworter. Wieso hebt Vera nicht ab?

Philip kann nicht wissen, dass Vera sich ausnahmsweise von ihrem Freund Max überreden ließ, früher Schluss zu machen. Sie liegt mit dem Gebäudetechniker im Bett.

Von einem Taxi lässt Philip sich zu dem Ort bringen, an dem er seinen Wagen abgestellt hat. Seine Geldbörse befinde sich im Auto, erklärt er. Aber als sie hinkommen, ist der BMW nicht mehr da. (Das Fahrzeug wurde abgeschleppt, weil es im Halteverbot stand.) Der Taxifahrer tritt dem vermeintlichen Betrüger von hinten in den Rücken und wirft ihn auf den Boden, wo er ihn weiter malträtiert.

Als Philip wieder zu sich kommt, hört er Schritte. Die Frau, deren Gesicht er noch immer nicht gesehen hat, betritt das Haus. Gleich darauf geht in einem Fenster im oberen Stockwerk das Licht an. Irgendwie gelangt Philip auf das Flachdach. Von dort springt er auf den Balkon des Apartments, in dem er die Frau vermutet. Als er die Fensterscheibe einschlägt, schneidet er sich die Pulsader auf.

Was nach Philips Tod aus seinem kleinem Sohn wird, bleibt unbekannt. Mög­licher­weise bringt ihn die Tagesmutter Belinda zur Polizei und meldet den Vater als vermisst. Allerdings wäre das ein Risiko für die illegal im Land lebende Mexikanerin.

Was danach mit den beiden geschah, mit Belinda und dem Jungen, kann ich nicht sagen, ich habe darüber keinerlei Nachforschungen angestellt.

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Die Geschichte spielt vom 11. bis 13. März 2014. Der Monat und die Tage werden von Lukas Bärfuss in „Hagard“ erwähnt, und das Jahr erschließt sich aus den eingeblendeten Nachrichten (verschollenes Flugzeug der Malaysia Airlines, Annexion der Krim u.a.). Den Namen der Stadt nennt Lukas Bärfuss nicht, aber es scheint Zürich zu sein. Dort gibt es auch einen Bellevue-Platz wie im Buch.

Ein Schweizer Liegenschaftsentwickler Ende 40 heftet sich an die Fersen einer ihm unbekannten Frau, deren Schuhe ihm aufgefallen sind, ohne überhaupt ihr Gesicht gesehen zu haben. Warum Philip dies obsessiv tut, weiß niemand, weder er selbst noch der Autor. Mit dem zwecklosen Unterfangen steigt er nicht nur aus seinem bürgerlichen Leben aus, sondern ruiniert seine Existenz. Nach einer im Auto verbrachten Nacht läuft Philip ohne Geld herum und mit einem Smartphone, dessen Akku bald leer ist. Schließlich kommt ihm auch noch das Auto abhanden. Der Hunger treibt ihn, wie ein Obdachloser Abfall zu essen. Er verwildert.

Das antiquierte Wort Hagard bedeutet denn auch Wildling. In der Jägersprache wird ein abgerichteter Falke als Hagard bezeichnet. Und das französische Adjektiv hagard lässt sich mit verwirrt oder verstört übersetzen.

In „Hagard“ glänzen komische und satirische Miniaturen über die Alltagswelt.

Lukas Bärfuss lässt uns lange Zeit glauben, dass es sich bei Belinda um Philips Lebensgefährtin handelt. Erst gegen Ende begreifen wir, dass er uns an der Nase herumgeführt hat. Ein überzeugender Einfall ist es auch, immer wieder auf den abnehmenden Ladezustand des Akku hinzuweisen. Das wirkt wie ein Countdown, und die Selbstabschaltung des Smartphones verstehen wir als böses Omen.

Die ebenso einfache wie originelle und rätselhafte Geschichte wird von Lukas Bärfuss auf besondere Weise entwickelt: Während Philip eine Frau beschattet, beobachtet der Erzähler den Protagonisten.

Seit viel zu langer Zeit versuche ich, Philips Geschichte zu verstehen. Ich will das Geheimnis lüften, das in ihr verborgen ist. […]
Ich weiß alles, und ich begreife nichts. Ich kenne die Abfolge der Ereignisse. Ich weiß, wie die Geschichte anfängt, ich kenne den Tag und ich kenne den Ort: Es ist der Brezelstand vor dem Warenhaus beim Bellevue. Ich weiß, wann sie ihr Ende findet, nämlich sechsunddreißig Stunden später, am frühen Donnerstagmorgen des dreizehnten März auf einem Balkon irgendwo in der Vorstadt.

Der Erzähler wirkt etwas langatmig, aber die Konstruktion überzeugt schon durch die Spiegelung der Verfolgung. Mehrmals hat Philip das Gefühl, beobachtet zu werden, uind er glaubt auch einmal, ein zyklopisches, auf ihn gerichtetes Auge zu sehen. Verblüffend ist folgende Passage: Der Erzähler ist des in einen Vorortzug eingestiegenen Protagonisten überdrüssig. Er reist nach Venedig, aber die Morbidität des „Museums einer untergehenden Kultur“ lässt ihn bald wieder fliehen, und er kehrt nach Zürich zurück. Dort scheint die Zeit stehengeblieben zu sein, denn Philip sitzt noch immer im Zug, und der fährt nun erst los.

„Hagard“ dreht sich fast ausschließlich um Philip und den namenlosen Erzähler. Eine kurze Passage handelt von Philips Assistentin Vera. Ein längerer Abschnitt beginnt mit einem Perspektivenwechsel:

Am Mittwoch […] stand er mit seinem Jaguar sechs Stunden in der Reihe vor dem Bahnhof und war endlich an der zweiten Stelle, als die Kameruner eine Gaudi veranstalteten. Sie lachten über einen Typen, der einen riesenhaften Pantoffel am Fuß trug. Er wollte in die Vorstadt. Die Kameruner hielten ihn für verrückt und wollten zuerst das Geld sehen. Er hatte keines. Er müsse zu seinem Wagen, dann bezahle er das Doppelte. Die Kameruner klatschten in die Hände und ließen ihn stehen. Der Typ war ein Spinner, das war klar, aber er glaubte nicht, dass er faul war. Trug eine feine Hose. Der Schuh war ordentlich, wenn es auch nur ein einzelner war. Geschäftsmann. Mitte vierzig.

Nach diesem Auftakt gallopieren wir durch die abenteuerliche Biografie dieses Taxifahrers, der Philip schließlich zusammenschlägt, weil er sich von ihm betrogen fühlt.

Fazit: „Hogard“ ist ein unterhaltsamer, inhaltlich und vor allem formal origineller Roman.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2017
Textauszüge: © Wallstein Verlag

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