Melanie Raabe : Die Falle

Die Falle
Die Falle Originalausgabe: btb Verlag, München 2015 ISBN: 978-3-442-75491-5, 350 Seiten ISBN: 978-3-641-13696-3 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Seit die Bestseller-Autorin Linda Conrads die Leiche ihrer Schwester aufgefunden hat, verlässt sie ihr Haus nicht mehr. Der Mordfall blieb unaufgeklärt, obwohl Linda den Täter noch kurz sah. Zwölf Jahre später starrt sie unvermittelt auf dem Bildschirm in dasselbe Gesicht. Der Reporter Victor Lenzen, der jahrelang im Ausland war, ist der Mörder! Weil Linda der Polizei nicht vertraut, will sie ihn selbst überführen und stellt ihm eine Falle, damit er zu ihr kommt ...
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Kritik

Melanie Raabe veranschaulicht differenziert und facettenreich, wie eine Frau ein Trauma überwindet. "Die Falle" ist ein spannender und raffiniert aufgebauter Thriller, der v. a. als Psychoduell und Vexierspiel funktioniert.
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Linda Michaelis ist unter dem Pseudonym Linda Conrads berühmt, denn seit langem sind ihre im Jahresrhythmus geschriebenen Romane Bestseller. Sie war schon als Kind dafür bekannt, dass sie sich Geschichten ausdachte, die sie am Ende selbst mit der Wirklichkeit verwechselte. „Linda und ihre Geschichten“, sagten die Leute kopfschüttelnd.

Die Fantasie ist eine großartige Sache, so großartig, dass ich eine Menge Geld mit ihr verdiene.

Vor zwölf Jahren, am 23. August 2002, wurde ihre drei Jahre jüngere Schwester Anna mit sieben Messerstichen ermordet. Linda, die über einen Schlüssel für Annas Mietwohnung in München verfügte, entdeckte nicht nur die Leiche, sondern blickte auch noch kurz ins Gesicht des Mörders, bevor dieser durch die Terrassentüre floh. Der Fall wurde nie aufgeklärt.

Nach Annas Beerdigung zog Linda sich in eine Villa am Starnberger See zurück. Sie machte keine Lesungen mehr, wies Interview-Wünsche zurück, nahm Literaturpreise nicht mehr persönlich entgegen und sagte Einladungen von Freunden zu Hochzeiten und Trauerfeiern ab. Als eine Zeitung das Gerücht aufbrachte, die berühmte Schriftstellerin leide unter einer mysteriösen Krankheit, hörten die Einladungen auf. Seit elf Jahren hat die inzwischen 38-Jährige ihr Haus nicht mehr verlassen. Sie wohnt dort allein mit ihrem Hund Bukowski. Versorgt wird sie von Charlotte, einer etwa zehn Jahre jüngeren Frau, die in mehreren Cafés bedient, an einer Kinokasse sitzt und für Linda einkauft, die Briefe zur Post bringt und zweimal pro Woche Arbeiten bei ihr im Haus erledigt.

Meine bezahlte Verbindung zur Außenwelt.

Hin und wieder kommen auch der Verleger Norbert und die Literaturagentin Pia vorbei. Ihre in München lebenden Eltern hat Linda seit vielen Jahren nicht mehr gesehen, und die Telefongespräche mit ihnen sind selten geworden.

Über das Weltgeschehen informiert Linda sich in den Medien.

Und natürlich bin ich den modernen Kommunikationsmitteln und den Medien extrem dankbar, dass sie es mir möglich machen, mir die Welt in mein Haus zu holen.

In einer Nachrichtensendung starrt sie einen Reporter an, der vor dem Reichstag steht und über die letzte Auslandsreise der Bundeskanzlerin berichtet. Das Gesicht des Mörders!

Der Mann im Fernsehen, dessen Anblick mich so verstört hat, war echt.
Das war kein Alptraum, es war die Realität.
Ich habe den Mörder meiner Schwester gesehen.

Nachdem sie sich von der Panikattacke erholt hat, fährt sie ihren Laptop hoch und ruft die Website der entsprechenden Nachrichten-Redaktion auf.

Nach nur wenigen Klicks finde ich ihn. Das Monster. Ich schrecke zusammen, als sein Bild plötzlich auf dem Monitor erscheint […]. Ich lese seinen Namen. Seine Vita. Ich lese, dass er Preise gewonnen hat. Dass er Familie hat. Ein erfolgreiches, erfülltes Leben führt.

Er heißt Victor Lenzen und ist 53 Jahre alt. Nach dem Politik-, Geschichts- und Journalismus-Studium absolvierte er ein Volontariat bei einer Frankfurter Tageszeitung. Er stieg zum Redaktionsleiter eines Münchner Blattes auf und war dann jahrelang als Auslandskorrespondent im Nahen Osten, in Afghanistan, Asien, aber auch in London und Washington. Vor einem halben Jahr kam er nach Deutschland zurück, wo er inzwischen sowohl fürs Fernsehen als auch für mehrere Printmedien arbeitet. Er wohnt in München. Aus seiner gescheiterten Ehe hat Victor Lenzen eine 13-jährige Tochter: Marie. Seine Lebensgefährtin Cora Lessing lebt in Berlin.

Linda wählt die Telefonnummer der Mordkommission. Kommissar Julian Schumer ist nicht da, und seine Kollegin Andrea Brandt, die sich meldet, konnte Linda schon während der Ermittlungen im Mordfall ihrer Schwester nicht ausstehen. Die Kommissarin fordert die Anruferin mehrmals vergeblich auf, ihren Namen zu nennen. Linda nimmt an, dass ihr die Polizei ohnehin nicht glauben würde. Das war damals schon so. Selbst wenn die Polizei Lindas Angaben nachgehen würde, wäre es kontraproduktiv, denn vermutlich gibt es keine Gründe, um Victor Lenzen festzunehmen. Er wäre also nur vorgewarnt, und Linda würde nie erfahren, WARUM er ihre Schwester ermordete.

Ihr Haus kann sie nicht verlassen. Also muss sie dafür sorgen, dass der Mörder zu ihr kommt. Linda beschließt, den Journalisten mit einem Roman über den Mord zu ködern und ihm eine Falle zu stellen.

Der Verleger fährt eigens zu Linda, weil er sich darüber wundert, dass die für ihre literarisch anspruchsvollen Romane bekannte Schriftstellerin plötzlich das Genre wechselt und einen Krimi schreibt. Linda klärt ihn darüber auf, dass sie eine Schwester hatte, die ermordet wurde und behauptet, sie wolle das Trauma durch das Schreiben des Buches verarbeiten. Das versteht Norbert, aber er bleibt skeptisch.

„Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns“, sagt er mit fast anklagendem Ton.
Kafka„, sage ich, und Norbert nickt.

Während Linda an ihrem Roman arbeitet, bereitet sie sich auch mental und körperlich auf die Auseinandersetzung mit dem Mörder vor. Als Bestseller-Autorin kann sie sich erstklassige Experten leisten, zum Beispiel einen Fitness-Trainer, einen auf Phobien spezialisierten Verhaltenspsychologen, der eine Vogelspinne auf ihre Hand krabbeln lässt, einen Trainer der Reid-Methode, die 1948 von dem Polizisten John E. Reid in Chicago entwickelt wurde, um bei Vernehmungen Geständnisse zu erlangen. Außerdem lässt sie eine Reihe versteckter Überwachungskameras und Mikrofone installieren.

Vor allem geht es Linda darum, herauszufinden, warum Anna sterben musste. Ihr Plan sieht jedoch auch vor, unbemerkt DNA-Spuren von Victor Lenzen für die Polizei zu sammeln und ein Geständnis von ihm aufzuzeichnen. Das Vorhaben, ihn mit einem DNA-Vergleich zu überführen, muss sie allerdings aufgeben, als sie von einem für das Landeskriminalamt tätigen Professor erfährt, dass die vor zwölf Jahren am Tatort sichergestellten DNA-Spuren verunreinigt sind.


Linda Conrads: Blutsschwestern

Als die 27-jährige Künstlerin Sophie Peters ihre drei Jahre jüngere Schwester Britta in deren Wohnung in München besucht, findet sie die Grafikdesignerin tot vor. Bei der offenen Terrassentür steht ein Mann und starrt Sophie kurz an. Dann ist er verschwunden.

Weil der Mörder sieben Mal heftig mit einem Küchenmesser zugestochen hat, geht Kommissar Jonas Weber von einer Beziehungstat im Affekt aus. Aber Freunde und Angehörige sagen aus, dass Britta Peters in der letzten Zeit keinen festen Freund gehabt habe.

Sophie schildert ihre Schwester als Gutmenschen. Im Alter von zwölf Jahren fing sie an, ehrenamtlich in einem Tierheim zu arbeiten, und später engagierte sie sich in einer Suppenküche für Obdachlose.

Während Sophie sich zu dem etwa 30 Jahre alten Kommissar Jonas Weber hingezogen fühlt und spürt, dass sie ihm auch nicht gleichgültig ist, können sie und seine Kollegin Antonia Bug sich nicht ausstehen. Bald nach Brittas Ermordung trennt Sophie sich von ihrem Verlobten Paul Albrecht, einem Rechtsanwalt. Dass die Ehe von Mia und Jonas Weber vor dem Scheitern steht, kann sie nicht ahnen.

Die Polizei tappt im Dunkeln. Sophie versucht herauszufinden, wer der Mann an der Terrassentür war. Auf der Website des Internet Start-ups in München, für das Britta zuletzt gearbeitet hatte, schaut sie sich die Gesichter der Teammitglieder an, aber keines davon kommt ihr bekannt vor.

Als Sophie ein Geräusch im Flur ihrer Wohnung hört, schickt sie Jonas Weber eine SMS: „Er ist hier.“ Dann sieht sie den mit einem Messer bewaffneten Eindringling. Brittas Mörder. Sie erkennt ihn. Es ist der Sohn von Brittas Vermieter Hans Feldmann. Er drängt Sophie zum Bad.

„Sie haben den Tod Ihrer Schwester nicht verkraftet. Morgen wird man Sie in Ihrer Badewanne finden. Sie konnten einfach nicht mehr.“

Es klingelt, lang und schrill. Der Mörder zuckt zusammen. Sophie nutzt die Ablenkung, um aus Pauls Umzugskartons einen Golfschläger zu reißen und zuzuschlagen.

Kommissar Jonas Weber kam gerade noch zur rechten Zeit.

Der Mörder hatte Britta gesehen, als er seinen Vater besuchte. Sie war ein Zufallsopfer. Inzwischen hat er eine weitere Frau umgebracht, die Britta ähnlich sah.

Einige Zeit später entdeckt Sophie den Kommissar zufällig an einer Theke. Sie will sich zurückziehen, damit er nicht glaubt, sie verfolge ihn, aber er hat sie bereits bemerkt. Als Sophie auf dem Barhocker neben ihm sitzt und ihr Getränk bekommen hat, trinkt er mit ihr auf das offizielle Scheitern seiner Ehe.


Sobald Linda die Vorbereitungen abgeschlossen hat, vereinbart sie mit einer Münchner Zeitung, für die Victor Lenzen tätig ist, ihr erstes Interview nach mehr als zehn Jahren.

Der Journalist kommt mit einem jungen Fotografen. Linda achtet darauf, power poses zu machen und Schutzgesten zu vermeiden. Der Fotograf verabschiedet sich, nachdem er seine Arbeit getan hat. Victor Lenzen fragt Linda Conrads, warum sie mit „Blutsschwestern“ erstmals einen Thriller geschrieben habe. Er äußert die Ansicht, dass Sophie, die selbstzerstörerische Hauptfigur, am Tod der Schwester Britta zerbrochen sei. Die Autorin widerspricht:

„Meiner Meinung nach ist Sophie […] keineswegs zerbrochen. Sie wäre beinahe am Tod ihrer Schwester zugrunde gegangen, das stimmt wohl. Aber letztlich hat sie sich zusammengerissen, um den Mörder ihrer Schwester zu überführen, und das gelingt ihr schließlich auch.“

Der Journalist fragt die Schriftstellerin, warum sie den Mörder als seelenlosen Soziopathen dargestellt habe, als Klischee, obwohl sie für ihre differenzierten und facettenreichen Charaktere berühmt sei. Dann kommt er auf das Mordopfer zu sprechen. Britta hält er für idealisiert. Ein besserwisserischer Gutmensch wie Britta müsse die Schwester genervt haben, meint er. Linda gesteht sich ein, dass sie oft wütend auf ihre selbstgefällige und manipulative Schwester war, aber das kann sie dem Mörder nicht sagen.

„Wissen Sie“, fährt Lenzen ungerührt fort, „am meisten habe ich mich ja über die Auflösung gewundert. Ich habe tatsächlich die ganze Zeit über gedacht, dass es den Killer gar nicht gibt und dass sich am Ende die scheinbar am Boden zerstörte Schwester als Mörderin entpuppt.“
Ich verliere den Boden unter den Füßen.

Linda kommt ins Grübeln:

Vielleicht gab es ja gar keinen flüchtenden Mann. Nur mich und Anna. Vielleicht war der flüchtende Mann nur eine Geschichte, eine so schöne Geschichte, wie sie sich nur Autorenhirne ausdenken können.
Keine schlechte Geschichte. Der flüchtende Mann, so wenig real wie das Rehkitz auf der Lichtung. Linda und ihre Geschichten.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Obwohl Linda zu zweifeln begonnen hat, kann sie sich noch immer vorstellen, dass Victor Lenzen ein Mörder ist. Und als er ins Jackett greift, befürchtet sie, dass er ein Messer bei sich hat. Deshalb reißt sie die mit Klebeband unter der Tischplatte befestigte Pistole ab und richtet sie auf ihr Gegenüber.

Ich schiebe jeden Zweifel beiseite. Lenzen wird dieses Haus nur als geständiger Mörder wieder verlassen – einen anderen Ausweg gibt es nicht.

Mit der Waffe in der Hand wendet sie die Reid-Methode an und setzt Victor Lenzen mit einem Stakkato von Fragen unter Druck. Dass er den Ahnungslosen spielt, steigert ihren Zorn. Ungläubig fragt er, welches Geständnis sie von ihm erwarte. Ob er Anna Michaelis gekannt habe, fragt Linda. Er sagt nein. Die Frage, wo er am 23. August 2002 gewesen sei, kann er nicht beantworten. Schließlich scheint er zu begreifen, dass Linda ihn für die Mörderin ihrer Schwester hält.

„Sie glauben wirklich, dass ich der Täter bin.“
„Ich weiß, dass Sie der Täter sind“, korrigiere ich.

Er beteuert, er sei Pazifist und Menschenrechtler, habe noch nie jemandem etwas angetan. Victor Lenzen schluchzt und übergibt sich am Tisch.

Was, wenn der Punkt, an dem ein Victor Lenzen unter dem Druck, der auf ihn ausgeübt wird, zusammenbricht, längst erreicht ist? Wenn er nur deswegen noch nicht gestanden hat, weil er nichts zu gestehen hat?
Nein!
Ich erkenne, wie gefährlich dieser Gedankengang ist. Ich muss mich zusammenreißen. […] Ich darf kein Stück von meiner Position abrücken, kein Mitleid zeigen und schon gar nicht zweifeln.

Plötzlich atmet Victor Lenzen auf.

„Ich war zu dieser Zeit nicht in München“, sagt er.
Ich schnaube.
„Ich war zu dieser Zeit nicht in München, und ich kann es beweisen.“
[…] Ich verbiete mir, auf diesen billigen Bluff hereinzufallen. […]
„Afghanistan“, sagt er. „Ich war in Afghanistan.“

Er sei am 20. August 2002, am Tag vor dem Geburtstag seiner damaligen Ehefrau, nach Afghanistan geflogen, sagt er, und habe eine Woche lang von dort berichtet. Darüber müsse es noch etwas im Internet geben.

Er blufft.
„Sehen Sie nach“, sagt Lenzen und schaut auffordernd auf mein Smartphone, das vor mir auf dem Tisch liegt, und ich durchschaue seinen Trick, Gott sei Dank durchschaue ich seinen Trick. Der Mistkerl. Er hofft auf einen kurzen Augenblick der Unaufmerksamkeit meinerseits, um mich erneut zu attackieren, um mir die Waffe abzunehmen.

Statt selbst ihr Smartphone zu benutzen, lässt sie Victor Lenzen auf seinem suchen. Nachdem er eine Weile getippt und gewischt hat, legt er sein Smartphone auf den Tisch und schiebt es zu Linda hinüber. Spiegel online. Tägliche Berichte von Victor Lenzen aus Afghanistan vom 21. bis 28. August 2002. Victor Lenzen kann nicht der Mörder sein, den Linda vor zwölf Jahren kurz gesehen hat. Er hat ein Alibi. Der Verbrecher läuft noch irgendwo ungeschoren herum.

Victor Lenzen nimmt Lindas Pistole und geht zum nahen See. Im Dunkeln sieht Linda nicht genau, was er tut, aber er hebt den Arm und wirft offenbar die Waffe ins Wasser. Dann kommt er zurück.

Er sei nicht ganz ehrlich gewesen, sagt er und gibt zu, dass er bereits während der Vorbereitung auf das Interview auf den Mordfall stieß, aber seine Karten nicht gleich offenlegen wollte.

„Versetzen Sie sich doch mal in meine Situation. Die damalige Hauptverdächtige eines viele Jahre zurückliegenden Mordfalls schreibt ein Buch, in dem ebendieser Mord in aller Ausführlichkeit geschildert wird. Das ist doch eine Sensation!“

Linda glaubt, sich verhört zu haben, aber Victor Lenzen behauptet, mit dem damaligen Leiter der Ermittlungen gesprochen zu haben. Die Polizei sei lange Zeit davon ausgegangen, dass Linda ihre Schwester Anna ermordet habe, sagt Victor Lenzen.

Victor Lenzen ist zu mir gekommen, nicht um ein Gespräch mit einer weltberühmten Bestsellerautorin zu führen, sondern um festzustellen, ob besagte Schriftstellerin nicht nur exzentrisch, sondern auch eine Mörderin ist.
Wir waren beide auf der Jagd nach einem Geständnis.

Mitten in der Nacht – Victor Lenzen ist längst gegangen – ruft Linda erstmals nach vielen Jahren ihre Eltern an. Ihre Mutter hebt ab – und legt gleich wieder auf, als sie begreift, wer am Apparat ist. Halten auch die Eltern sie für Annas Mörderin? Ist das der Grund, warum der Kontakt abgebrochen ist? Hatte sie einen Grund, Anna zu töten?

Ja, ich habe sie verabscheut, ja, ich habe sie gehasst, ja, ich war eifersüchtig, ja, ich fand es nicht in Ordnung, dass meine Eltern grundsätzlich immer sie bevorzugt haben, die Kleinere, die Hübschere, sie, die so gut manipulieren konnte, sie, die so niedlich und unschuldig aussah.

Als Linda noch einmal Victor Lenzens Reportagen aus Afghanistan prüfen will, findet sie keine mehr davon. Offenbar hat er ihr mit einer getürkten Website etwas vorgemacht und ihr dann auch noch eingeredet, sie könne ihre Schwester selbst erstochen haben. Vielleicht mischte er ihr unbemerkt etwas in den Kaffee, das sie beeinflussbar machte. Er weiß jetzt, dass sie nichts gegen ihn in der Hand hat. Um das herauszufinden, war er bei ihr.

Damit findet sich Linda nicht ab. Sie bittet Charlotte, den Hund zu sich zu nehmen und behauptet, dass sie wahnsinnig viel zu tun habe und sich einige Tage nicht um Bukowski kümmern könne. Charlotte befürchtet vermutlich, dass sie ihren Selbstmord plant. Lindas Vorhaben könnte tatsächlich mit dem Tod enden. Weil Victor Lenzen nicht in ihre Falle getappt ist, muss sie das Haus verlassen, um ihn zu stellen.

Sie ruft ein Taxi. Ihre Eltern sind fassungslos, als sie vor ihnen steht. Linda ist ihrerseits verblüfft, als ihre Mutter auf ihren Thriller „Blutsschwestern“ zu sprechen kommt, denn das Buch erscheint erst in zwei Wochen und vorher dürfen die Rezensenten, die Vorabexemplare bekommen haben, nicht darüber schreiben. Der Vater bestätigt ihren Verdacht: Victor Lenzen war vor dem Interview bei ihren Eltern. Er erzählte ihnen, dass Linda Conrads dabei sei, den Mord an der eigenen Schwester auszuschlachten. Der Ärger darüber war der Grund, warum Lindas Mutter bei dem nächtlichen Anruf sofort wieder auflegte. Der Mörder war also bei ihren Eltern, um zu prüfen, ob sie etwas wissen, das ihn belasten könnte!

Im Bad eingeschlossen, ruft sie die Mordkommission an und fragt nach Julian Schumer. Der Kommissar wird erst am nächsten Tag zurückerwartet.

Gleich darauf klingelt Lindas Handy. Der Anrufer nennt den Namen Maximilian Henkel und erklärt, er habe ihre Nummer von seinem Kollegen Victor Lenzen erhalten. Er wolle das wegen ihrer Unpässlichkeit geplatzte Interview nachholen. Victor Lenzen stehe leider nicht mehr dafür zur Verfügung, denn er werde am nächsten Morgen zu einer längeren Recherche-Reise nach Syrien fliegen. Linda bricht das Telefongespräch ab.

Sie kann nicht länger warten, muss noch in dieser Nacht handeln, sonst entzieht sich ihr der Mörder.

Rasch verabschiedet sie sich von ihren Eltern. Sie habe noch etwas Dringendes zu erledigen, erklärt sie. Dann steigt sie in ein Taxi und nennt die Privatadresse Julian Schumers, den sie seit fast zwölf Jahren nicht mehr gesehen hat. Eine Frau öffnet. Er sei nicht da, sagt sie, und weil er sein Handy nicht mitgenommen habe, könne sie ihn auch nicht erreichen. Linda fleht sie an, ihm sofort nach seiner Rückkehr etwas auszurichten.

„Sagen Sie ihm einfach, dass ich hier war. Linda Michaelis. Sagen Sie ihm, dass ich ihn gefunden habe. Den Mann, den Mann von damals. Er heißt Victor Lenzen. Können Sie sich das merken? Victor Lenzen.“

Die Adresse kritzelt sie auf ein aus ihrem Notizbuch gerissenes Blatt. Dann setzt sie sich wieder ins Taxi, klebt sich das Handy unter dem Pullover auf die Haut und lässt sich hinfahren.

Victor Lenzen öffnet. Er ist allein.

„Ich hätte mir denken müssen, dass Sie kommen würden“, sagt er.

Linda verlangt von ihm, ihr die Wahrheit zu sagen und hört zu, als er redet.

Es dauerte einige Zeit, bis er beim Lesen des Vorabexemplars „Blutsschwestern“ begriff, dass es um Annas Tod geht. Dann fand er rasch heraus, dass Linda Conrads, bürgerlich Linda Michaelis, die Schwester der Ermordeten ist. Er nahm zwar an, dass sie ihm nichts nachweisen könne, weil sie sonst zur Polizei gegangen wäre, um aber sicherzugehen, nahm er das Interview-Angebot an. Anna und er hatten damals seit knapp einem Jahr ein Verhältnis, obwohl er gerade Vater geworden war. Als er die Affäre beenden wollte, um seine Ehe nicht länger zu gefährden, drohte Anna, nicht nur seiner Frau, sondern auch seinem einflussreichen Schwiegervater alles zu sagen.

„Denk ja nicht, dass du mich einfach so wegschmeißen kannst. Wenn ich mit dir fertig bin, dann hast du nichts mehr. Keine Frau, keinen Job und kein Kind.“

Anna beschimpfte und demütigte ihn, bis er ausrastete, ein Küchenmesser ergriff und auf sie einstach.

„Was in dieser Nacht damals passiert ist, war ein grauenhafter Fehler“, sagt er. „Nur ein Moment, ein einziger Moment des Kontrollverlusts. Schrecklich und unverzeihlich.“

Nach dem Geständnis fordert Victor Lenzen seine Besucherin auf, ihm ihr Handy zu geben. Er ahnt, dass sie alles aufgenommen hat. Er wirkt traurig und resigniert.

Er weiß, was als Nächstes kommt, und es gefällt ihm nicht.

Linda holt das Handy unter ihrem Pullover hervor. Er entspannt sich. Aber statt ihm das Mobiltelefon auszuhändigen, reißt sie ein Fenster auf und wirft es hinaus. Weil der Mörder zwischen ihr und der Zimmertür lauert, flieht Linda auf den Balkon. Er folgt ihr und hat unvermittelt die Pistole in der Hand, von der sie glaubte, er habe sie in den Starnberger See geworfen. Er wird sie mit ihrer Waffe erschießen und bei der Vernehmung behaupten, die psychisch labile Schrift­stellerin habe ihn damit bedroht. Man wird ihm Notwehr zugestehen. Ob er tatsächlich vorgehabt habe, das Land am nächsten Morgen zu verlassen, fragt Linda. Er schüttelt den Kopf. Sie begreift, dass er ihr eine Falle stellte und dafür sorgte, dass sie übereilt zu ihm kam.

Sie klettert über die Brüstung und lässt sich fallen. Beim Aufprall verletzt sie sich am Fußgelenk. Als sie benommen aufzustehen versucht, sieht sie ihn im Dunkeln kommen. War sie eine Weile ohnmächtig? Das würde erklären, dass er bereits da ist. Aber wieso kommt er von der Straßenseite? Es ist Julian Schumer.

Als Victor Lenzen aus dem Haus kommt, sieht er sofort, dass Linda nicht allein ist. Der Kommissar ruft „Polizei“ und fordert ihn auf, die Waffen fallen zu lassen. Ein paar Sekunden steht Victor Lenzen einfach da. Dann hebt er die Hand und schießt sich in den Kopf.

Die Polizei findet das Handy und wertet die Aufnahme aus.

Linda erfährt, dass es sich bei der Frau, die sie in Julian Schumers Wohnung antraf, um dessen Schwester Larissa handelt, die aus Berlin zu Besuch gekommen ist.

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In ihrem Kriminalroman „Die Falle“ veranschaulicht Melanie Raabe differenziert und facettenreich, wie sich eine traumatisierte Frau von den Einschränkungen durch ihre Ängste befreit und gestärkt aus der Krise hervorgeht. Die psychischen Vorgänge werden gründlich ausgeleuchtet.

„Die Falle“ ist ein spannender Thriller, der fast ohne Action-Szenen auskommt und vor allem als Psychoduell und Vexierspiel funktioniert. Anfangs scheint alles klar zu sein, aber schon nach wenigen Seiten schleichen sich beim Lesen Zweifel ein. Melanie Raabe überlässt das Wort einer Ich-Erzählerin im Präsens. Könnte es sein, dass deren Vorstellungen nicht ganz mit der Wirklichkeit übereinstimmen? Immerhin ist die Frau schwer traumatisiert und hat seit elf Jahren ihr Haus nicht mehr verlassen. Aber sobald man glaubt, die Vorgänge durchschaut zu haben, verliert man erneut den Boden unter den Füßen. Und das geschieht mehrmals. Es gibt auch nicht nur eine einzige Falle …

Mit dem raffinierten Aufbau, aber auch mit Cliffhangern und anderen Mitteln hält Melanie Raabe die Spannung hoch.

Die eigentliche Handlung wird durch einen Roman im Roman gespiegelt, der passagenweise zwischen die Kapitel eingefügt ist. Es handelt sich um einen von der fiktiven Protagonistin verfassten Krimi. Der ist von ganz anderer Art: Melanie Raabe persifliert damit das Thriller-Genre.

Den Roman „Die Falle“ gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Devid Striesow und Birgit Minichmayr (Regie: Kerstin Schütze, ISBN 978-3-8445-1813-9).

Melanie Raabe wurde am 1. August 1981 in Jena als Tochter einer Deutschen und eines Studenten aus Benin geboren. Sie wuchs in Thüringen und ab 1989 im Bergischen Land auf. In Bochum studierte sie Literatur und Medienwissenschaft. 2011 wurde sie für ihre Kurzgeschichte „Die Zahnfee“ mit dem Deutschen-Kurzkrimi-Preis des Krimifestivals Tatort Eifel ausgezeichnet. 2015 debütierte Melanie Raabe mit dem Roman „Die Falle“. Dafür erhielt sie 2016 den Stuttgarter Krimipreis. Innerhalb von kurzer Zeit wurden sowohl die Filmrechte für „Die Falle“ als auch Lizenzen für Übersetzungen in etwa ein Dutzend Sprachen verkauft.

2016 erschien Melanie Raabes zweiter Roman: „Die Wahrheit“.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2016
Textauszüge: © btb Verlag

Melanie Raabe: Die Wahrheit
Melanie Raabe: Die Wälder
Melanie Raabe: Die Kunst des Verschwindens

Franz Kafka - Der Heizer
Karl Roßmann lässt einiges mit sich geschehen. Aktiv agiert er nur, als er von sich aus Partei für den Schiffsheizer ergreift, der sich von seinem Vorgesetzten ungerecht behandelt fühlt. Karls Gerechtigkeitsempfinden ist jedoch naiv und unkritisch.
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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon einen Monat, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte. Aus familiären Gründen reduziere ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik.