Zoë Jenny : Das Blütenstaubzimmer
Inhaltsangabe
Kritik
Als meine Mutter ein paar Straßen weiter in eine andere Wohnung zog, blieb ich bei Vater. Das Haus, in dem wir wohnten, roch nach feuchtem Stein. In der Waschküche stand eine Druckmaschine, auf der mein Vater tagsüber Bücher druckte. Immer, wenn ich vom Kindergarten nach Hause kam, ging ich zu ihm in die Waschküche, und wir stiegen gemeinsam die Wohnung hinauf, wo wir unser Mittagessen kochten. …
Nach der Trennung ihrer Eltern bleibt Jo bei ihrem Vater, einem erfolglosen Verleger, der nachts mit einem Lieferwagen Sachen ausfährt, weil sich die Bücher nicht verkaufen, sondern „erst im Keller und auf dem Dachboden und später überall in der Wohnung“ stapeln. Wenn das Mädchen nachts allein ist, kann es vor Angst nicht schlafen.
Vor dem Fensterrechteck … hockte jetzt das Insekt, das mich böse anglotzte. Ich setzte mich auf die äußerste Kante des Bettes und ließ es nicht aus den Augen. Jederzeit konnte es mir ins Gesicht springen und seine knotigen, pulsierenden Beine um meinen Körper schlingen.
Die Sonntage verbringt Jo bei ihrer Mutter – bis diese den Kunstmaler Alois Hagenbach kennen lernt und in dessen Haus in irgendeinem Land am Mittelmeer zieht.
Auch der Vater hat wieder eine Geliebte: Eliane.
Wenn sie den Kopf lachend nach hinten warf, lief der Alkohol aus den Mundwinkeln und rann in feinen Linien über die gepuderten Wangen. Am meisten lachte sie, wenn Vater in seinem wilden Tanz, bei dem er sich mit fliegenden Armen um sich selbst drehte, über einen Stapel Papier oder Bücher stolperte; dann prustete sie den Alkohol aus ihren aufgeblasenen Backen angenehm kühl über mein Gesicht. …
Wenn sie nicht mit gekreuzten Beinen und geschlossenen Augen auf der Matratze saß, hockte sie rauchend in der Küche mit Männern, die aufmerksam ihrem Gekreische zuhörten. Eliane lachte nicht; sie kreischte, und ihr Gesicht wurde rot dabei. ich verabscheute sie, wenn sie so in der Küche saß, und auch die Männer, die mich an sich zogen und meine langen Haare berührten.
„Richtige Spaghettihaare“, sagten sie dann und grinsten.
„Lass meine Haare in Ruhe, Arschloch“, fauchte ich und riss mich los.
„Wo hat sie dieses Wort nur wieder her?“, wunderten sie sich gespielt, brüllten wieder los und freuten sich an Elianes rotem Gesicht.
Jos Vater mietet in einem der oberen Stockwerke ein leer stehendes Zimmer für Eliane. Die beiden heiraten. Aber eines Tages ist sie verschwunden. Ein Jahr später schickt sie eine Ansichtskarte aus Spanien.
Nach dem Abitur reist Jo zu ihrer Mutter, die sie seit zwölf Jahren nicht mehr gesehen hat. Sie wundert sich, dass Lucy nicht fragt, wie es ihrem Ex-Mann geht.
Ein Jahr nach Jos Ankunft stirbt Alois bei einem Autounfall. Lucy lässt die Bilder und alles was sie sonst noch an Alois erinnert, von der Müllabfuhr holen. Tagelang pflückt sie Blüten und verstreut sie in dem leer geräumten Atelier. Dann schließt sie sich darin ein und reagiert auch nicht auf das Rufen ihrer Tochter. Mit einer Schaufel schlägt Jo die Fenster ein und holt ihre Mutter aus dem „Blütenstaubzimmer“. Um ihr über den Verlust hinwegzuhelfen, bleibt sie noch ein weiteres Jahr.
Unvermittelt endet Lucys Trauer und sie hat wieder einen Geliebten: Vito.
„Hör mal, Jo“, ihre Stimme klingt energisch, „ich habe nicht vor, die künftigen dreißig Sommer, die ich noch zu leben habe, Witwe zu spielen. Ich habe dir gesagt, dass ich fertig bin mit der Geschichte.“
Weil Lucy einmal meinte, im Garten fehle noch ein Feigenbaum, pflanzt Jo zum 45. Geburtstag ihrer Mutter einen Feigenbaum. Es soll eine Überraschung sein, aber Lucy kommt nicht nach Hause. Stattdessen bringt der Briefträger eine Ansichtskarte von einer Insel im Indischen Ozean: Lucy teilt ihrer Tochter mit, Vito habe sie überraschend zu einer Reise eingeladen. Da merkt Jo, dass ihre Mutter sie zum zweiten Mal verlassen hat.
Sie kehrt zu ihrem Vater zurück, der inzwischen zu einer anderen Frau und deren Tochter aufs Land gezogen ist. Er liegt mit einer fiebrigen Erkältung im Bett. Nach Lucy fragt er nicht. Anna ist im siebten Monat schwanger, und um Platz für das Baby zu schaffen, musste ihre Tochter Paulin in den Keller ziehen. Für Jo wird eine Matratze neben Paulins Bett gelegt.
In der Morgendämmerung steht Jo auf, zieht aus dem Aquarium die Trennscheibe, die zwei Fische daran hinderte, sich gegenseitig aufzufressen und verlässt das Haus. Der erste Schnee fällt. Sie setzt sich auf eine Anlagenbank und beobachtet, wie die Schneeflocken auf den Boden fallen und sich auflösen. Sie wartet „auf die weiße Schicht über dem Boden. Auf die Decke aus Schnee.“
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Nüchtern, lakonisch, ohne Larmoyanz oder Schuldzuweisungen erzählt Zoë Jenny in „Das Blütenstaubzimmer“ von einem Mädchen, dessen Eltern sich scheiden lassen. Der Vater ist lebensfremd, erfolglos, die Mutter fürchtet sich vor der Einsamkeit und dem Altern. Nach der Reifeprüfung fährt Jo zu ihrer Mutter Lucy, die sie zwölf Jahre lang nicht gesehen hat. Obwohl sie Lucy nach dem tödlichen Autounfall des zweiten Ehemanns beisteht, bleibt die Distanz zwischen den beiden Frauen unüberwindlich. Aber auch in dem Haus, in dem Jos Vater jetzt mit einer anderen Frau und deren Tochter wohnt, ist kein Platz für sie. Desillusioniert, voll unerfüllter Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit geht sie allein hinaus in die Winterlandschaft.
Dreiundzwanzig Jahre alt war Zoë Jenny, die Tochter des Schweizer Verlegers Mathias Jenny, als 1997 ihr Debütroman „Das Blütenstaubzimmer“ erschien. Die 3000 Exemplare der Erstauflage reichten kaum, um die Vorbestellungen abzudecken. Die Auflage durchbrach die 100 000-Marke; der Roman wurde in zwanzig Fremdsprachen übersetzt, und Zoë Jenny erhielt das 3sat-Stipendium beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt, den Literaturpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung und den „aspekte“-Literaturpreis des ZDF.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2002
Textauszüge: © Frankfurter Verlagsanstalt